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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 11. November 2008; 19:45
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Kapitalismus/Glosse:

> Totgesagte leben laenger?

Der Ausverkauf eines Theoretikers und seines Standardwerks

Bestimmendes Thema der nationalen und internationalen Nachrichten ist
seit dem Sommer die weltweite Finanzkrise mit ihren verheerenden
Konsequenzen. Bankenrettungspakete von Vater Staat in Milliardenhoehe,
Konjunkturplaene und internationale Finanzgipfel sind nur drei
Reaktionen einer Weltwirtschaft, die alle Alarmsignale der letzten
Jahre ignoriert hat und sich nun am Rande des Abgrunds befindet.
EU-Ratspraesident Sarkozy tourt als selbsternannter Krisenmanager
durch Europa, Asien und die USA, IWF und Weltbank fangen vor dem
Bankrott stehende Staaten mit Finanzspritzen auf, Leitzinssenkungen
von FED und EZB erfolgen in rasantem Tempo. Der ORF diskutiert in
zahlreichen Formaten mit Finanzexperten, gelaeuterten Bankern und
obligatorischen ATTAC-Mitgliedern, wer an der Krise Schuld sei und wie
die Regierungen reagieren muessen. Die Boersennachrichten gleichen
einem humoristischen Schauspiel, wenn sich Gewinne und Verluste
taeglich abwechseln und entnervte Broker sich die Haare raufen und nur
mehr auf den Handelsschluss warten.

Inmitten der weltweiten Turbulenzen und Ratlosigkeiten erlebt ein
Totgesagter Wiederauferstehung. Karl Marx und sein "Kapital" sind
wieder en vogue. Das laesst sich zum einen an den gestiegenen
Verkaufszahlen beim Karl-Dietz-Verlag festmachen: Bis 2004 wurden etwa
100 Buecher jaehrlich abgesetzt, 2008 waren es bereits 2500 - Tendenz
steigend. Der Geschaeftsfuehrer des Verlags erklaerte dies so:
"Verkauft sich Marx gut, geht es der Gesellschaft schlecht". Zum
anderen erfreuen sich marxistische Lesezirkel neuer Beliebtheit und
wurden durch den Sozialistisch-Demokratischen Studentenverband (SDS)
in Deutschland an ueber 30 Hochschulen institutionalisiert. Zwei
Semester lang sollen sich Studierende mit Marx auseinandersetzen, ihn
lesen, diskutieren und schlussendlich verstehen. Begruendet wird die
Offensive mit fehlenden Alternativkonzepten zum Neoliberalismus in der
Wirtschaft und an den Universitaeten. Getreu dem Motto "Lesekreise
aller Industrienationen vereinigt euch" soll im kommenden Jahr eine
internationale Auswertungskonferenz zur "Buendelung der Ideen"
stattfinden.

Marx lebt - Grund zur Freude fuer das linke Herz koennte man meinen,
doch die inszenierte Renaissance des "Kapitals" hinterlaesst ein etwas
mulmiges Gefuehl in der Magengegend. Ein neuerlicher Ausverkauf der
Marx'schen Kapitalismuskritik muss erwartet werden, da die
Nachwuchsmarxisten zum Teil mit voellig falschen Erwartungen auf das
Werk losgelassen werden. Wer glaubt nach der Lektuere zu wissen, wie
die Krise des Kapitalismus ueberwunden werden kann, wird enttaeuscht
sein. Marx erklaert darin naemlich vor allem Zusammenhaenge und
Abhaengigkeiten, nicht aber ein Loesungskonzept fuer die aktuelle
Situation (sofern man vom Umbruch in eine kommunistische
Gesellschaftsordnung einmal absieht, und das sollte man, wenn man die
Realitaet nicht verleugnen will). Und so ist das gesteigerte Interesse
am "Kapital" und dem Marxismus zwar positiv zu bewerten und koennte,
im Gegensatz zur Weltwirtschaft, mittelfristig eine Konjunktur
erleben, allerdings sind es wohl kaum die Rezipienten, die sich an
eine aktive Umgestaltung der Weltoekonomie machen und schon gar nicht
haben sie den Zusammenbruch verursacht.

Die Kapitalbonzen zaehlen kaum zum neu gewonnenen Leserkreis, sondern
ueben sich derweil im Beschwichtigen und Verteidigen der neoliberalen
Idee. Sie weisen Vorwuerfe zurueck, die sie als verkappte Sozialisten
darstellen, nur weil sie nach staatlichen Rettungspaketen gieren und
diese mehr oder weniger bereitwillig in Anspruch nehmen. Zu Recht, wie
ich finde, denn mit Sozialismus hat das alles herzlich wenig zu tun.
Die Grosskapitalisten in einen Topf mit Kapitalismuskritikern zu
schmeissen ist vermessen und entbehrt jeglicher Grundlage. Die
Schuessel'sche Formel "Weniger Staat, mehr Privat" hat nach wie vor
Hochkonjunktur, denn die staatlichen Beteiligungen an Finanzinstituten
sind - jedenfalls hierzulande - so gar nicht als (Teil)Verstaatlichung
zu bewerten. Vielmehr geht es darum zu retten, was zu retten ist und
die staatliche Einflussnahme moeglichst gering zu halten, um den
Banken die Scheu zu nehmen, von den Rettungspaketen Gebrauch zu
machen. Mitsprache durch die Regierungen? Kein mehrheitsfaehiges
Konzept in Zeiten wie diesen. Vielmehr geht es um Schadensbegrenzung
ohne an strukturellen Reformen oder neuen Mechanismen zu basteln.

Das "Kapital" und Marx erfreuen sich zwar neuer Beliebtheit, werden
aber nicht zu einer Veraenderung der Sichtweise oder gar der
wirtschaftlichen Praxis beitragen. Vielmehr geht es darum die Gunst
der Stunde zu nuetzen und die Renaissance sozialistischer Ideen so
lange sie dauert auszukosten. Lesekreise und steigende Verkaufszahlen
koennen und werden kein Indikator fuer ein Umdenken in der globalen
Kapitalismuswelt sein. Vielleicht werden wir kuenftig seltener mit
mitleidigen Blicken und Kopfschuetteln bedacht, wenn wir uns im
Burggarten mit marxistischen Schriften die Zeit vertreiben - mehr
erwarte ich allerdings nicht. Weitaus sinnvoller und ertragreicher
waere eine Einbeziehung der marxistischen Lehre in die Studienplaene
von sozialwissenschaftlichen und wirtschaftlichen Studien. Die
Entwicklung der beinahe abgeschlossenen Verdraengung sozialistischer
Ideen aus dem Lehrangebot zugunsten neoliberaler Konzepte muss
umgekehrt werden, denn zum breiten Spektrum der Kapitalismuskritik
gehoert eben auch Karl Marx. So waere gewaehrleistet, dass die
Kritikfaehigkeit und Differenzierung verschiedener Ansaetze an den
Universitaeten wieder gelebte Praxis und die aktuelle Entwicklung des
neoliberalen Mainstream zumindest hier zurueckgedraengt wird.
*Stefanie Klamuth*



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