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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 4. November 2008; 19:07
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Glosse:

> 40 Jahre "falsches Bewusstsein"

Die Befreiungstheologie als Aergernis fuer strenge Marxisten und
Papisten -- ein Rueck- und Ausblick
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Die vor dem Hintergrund der sozialen, politischen, kulturellen und
wirtschaftlichen Ausbeutung und Unterdrueckung auf dem
suedamerikanischen Kontinent entstandene Befreiungstheologie blickt
auf vier Jahrzehnte des Kampfes und zahlreicher Initiativen zurueck.
Innerhalb und ausserhalb der Kirche versuchten linke Theologen in
einer eigenstaendigen Analyse der politoekonomischen Abhaengigkeit der
Armen in Lateinamerika auf Basis eines marxistischen
Weltverstaendnisses eine umfassende Befreiung von kapitalistischen
Zwaengen zu erreichen. Da sie ihr Ziel einer basisdemokratischen
Gesellschaft nach sozialistischen Vorstellungen bislang nur bedingt
und im Ansatz verwirklich konnte, wurde die Befreiungstheologie
bereits von verschiedenen Seiten totgesagt und muss sich bis heute
gegen eine systematische Aushoehlung und Laehmung durch die roemische
Kurie wehren.

Gab es frueher in der kirchlichen Hierarchie der Laender
Lateinamerikas noch viele Bischoefe, die auf der Seite der Armen
standen, wurden diese durch die langfristige Strategie des Vatikans,
Probleme mit der Befreiungstheologie mittels einer konservativen und
rueckwaertsgewandten Personalpolitik zu loesen, zunehmend verdraengt.
Die Spannungen mit der Glaubenskongregation seit den 1980er Jahren
zeigten sich in dem vom Vatikan (namentlich: Papst Johannes Paul II
und der damalige Kardinal Ratzinger) verhaengten Redeverbot fuer
Bischof Leonardo Boff und dem Entzug der Priesterrechte von Ernesto
Cardinal, nachdem dieser als Kulturminister in die marxistische
Regierung Nicaraguas eingetreten war. Ein weiterer Verlust war der Tod
von Erzbischof Óscar Romero, der den Maechtigen zu gefaehrlich
geworden war - er wurde nach einer Predigt in der Kathedrale von San
Salvador 1980 ermordet.

Wenn der amtierende Papst Benedikt XVI. den Befreiungstheologen eine
"Verpolitisierung des Glaubens" vorwirft, so muss er sich auch
berechtigte Kritik am gelebten Klerikalfaschismus der konservativen
Bischoefe in Lateinamerika gefallen lassen. Die linke Theologie stand
der politischen Allianz zwischen der katholischen Hierarchie und den
rechtsgerichteten Parteien in Suedamerika im Weg und sollte weichen.
So kritisierte z.B. die 1971 in Chile gegruendete Bewegung "Christen
fuer den Sozialismus" das jahrhundertelange Buendnis zwischen Kirche
und Staat. Die Angriffe der Befreiungstheologen gegen die katholische
Praxis vor Ort und in den reichen Industriestaaten passten nicht zum
konservativen Habitus der Kirche und wurden mit allen Mitteln
zurueckgedraengt. Damit bestaetigte sich nicht zuletzt die linke
Kritik an der Kirche als ordnungs- und herrschaftslegitimierende
Institution und die damit verbundene Erkenntnis, dass sich die
sozialen Konfliktlinien durch die Kirche selbst hindurch ziehen.

Neben der Kirche laehmte jedoch auch die Linke die Bewegung: waehrend
in Lateinamerika die vielschichtige Kombination und gegenseitige
Bereicherung von Befreiungstheologie und marxistischer
Kapitalismuskritik Fruechte trug, wurden aehnliche Dialoge und
Bestrebungen in Europa auch vom offiziellen Marxismus-Leninismus
boykottiert und marginalisiert. Viele Marxisten haben die
Herausforderung verkannt und sind in den Kampf gegen Religion als
"falsches Bewusstsein" eingestiegen. Fuer die Linke waere es jedoch
laengst an der Zeit sich einer ideologietheoretischen Aktualisierung
der Marx'schen Religionskritik zu widmen, denn auch religioese
Bewegungen koennen die laehmende Wirkung religioesen Opiums
ueberwinden, wenn es gelingt, den "Seufzer der bedraengten Kreatur"
mit fundierter Kapitalismuskritik und einer "revolutionaeren
Realpolitik" (Rosa Luxemburg) zu verbinden. Und genau das versuchte
die Befreiungstheologie in Lateinamerika. Viele Interpreten der Marx'schen
Religionskritik haben uebersehen, dass die Einleitung zur "Kritik der
Hegelschen Rechtsphilosophie" insbesondere als Aufruf an die
junghegelianischen Religionskritiker verstanden werden muss, ihre
Fixierung auf die Religion aufzugeben - die Quintessenz liegt in einem
Paradigmenwechsel und nicht in der inhaltlichen Bestimmung der
Religion als "verkehrtes Weltbewusstsein".

Trotz all den Schwierigkeiten, die die Befreiungstheologie ueberwinden
musste, waren die letzten 40 Jahre des politischen und sozialen
Engagements nicht vergebens. Nach dem Fall der Berliner Mauer, dem
Zusammenbruch des Sowjetkommunismus und zahlreichen Niederlagen der
Linken musste sich auch die Befreiungstheologie neu orientieren. Die
Dependenztheorie wurde von der Weltsystemtheorie abgeloest und diese
kam als methodische Grundlage neben der bewaehrten kontextuellen
Bibelexegese zum Einsatz. Die Bezugspunkte der Sozialkritik haben sich
nicht grundlegend veraendert, sondern wurden um den Faktor der
Globalisierung und ihrer Konsequenzen erweitert. Der Aufstieg von
Neoliberalismus und Neokonservatismus in den 1980er und 1990er Jahren
sowie die zunehmende institutionalisierte Gewalt in Lateinamerika
erforderten eine Verlagerung der Kapitalismuskritik auf eine
internationale Ebene, nicht zuletzt, weil die Erfolgsaussichten von
isolierten, binnenstaatlichen Massnahmen begrenzt schienen. In Folge
wurde z.B. versucht, ueber Unterorganisationen der UNO die globale
Dimension der Bekaempfung von Massenelend, Analphabetismus, Rassismus
und der Willkuerherrschaft durch Oligarchien oder Militaerdiktaturen
zu demonstrieren und sichtbar zu machen. Zwar tragen auch diese
Initiativen noch nicht die gewuenschten Fruechte, aber die aktuelle,
weltweite Finanzmarktkrise koennte sich mittelfristig als hilfreich
erweisen. Durch das Scheitern neoliberaler Wirtschaftsreformen und die
zunehmende Verarmung eines Teils der Gesellschaft in Lateinamerika
koennten bald wieder junge Priester politisch linke Forderungen
erheben und aktiv zur Tat schreiten.

Mit Rafael Correa und Fernando Lugo wurden in Ecuador und Paraguay
bereits zwei Linkskatholiken in das Praesidentenamt gewaehlt und
koennen an der Spitze ihrer Staaten umsetzen, was ausserhalb der
politischen Aemter nicht moeglich waere. Kritiker sehen in der
politischen Fuehrung von Befreiungstheologen zwar auch Gefahren. So
schrieb der chilenische Theologe und Sozialwissenschaftler, Fernando
Castillo im Jahr 2000, dass "Aktionen, Proteste und Konflikte nicht in
einer avantgardistischen Partei enden, sondern Dichte und Konsistenz
in der Transformation der Gesellschaft finden" muessen. Doch so
berechtigt dieser Einwand auch sein mag, liegt in der Staatsfuehrung
durch ihre Protagonisten doch in erster Linie eine Chance fuer die
Vorantreibung der eingeforderten Transformation der Gesellschaft.

Da die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander geht, hat die
Befreiungstheologie auch 40 Jahre nach ihrer Entstehung die
Existenzgrundlage nicht verloren. Gutiérrez, der sich einer
Weiterentwicklung nie verschlossen hat, wehrt sich dagegen vom
Scheitern dieser Bewegung zu sprechen und konstatierte 2003: "Sie
wuerden ja auch nicht behaupten, dass das gesamte Christentum ein
Misserfolg war, weil es nach 2000 Jahren immer noch Armut gibt." Die
Herstellung einer multikulturellen, multireligioesen Gesellschaft zu
unterstuetzen und verschiedene Formen sozialer und politischer
Organisation zu respektieren, die sich auf ihre jeweiligen Kulturen
gruenden, muss weiterhin das Bestreben kritischer Linkstheologen sein.
Es darf mit Recht gehofft werden, dass der gemeinsame
Erfahrungshorizont von linken europaeischen und lateinamerikanischen
Christen zu neuen Kooperationen fuehren kann, aehnlich der Annaeherung
verschiedener sozialer Bewegungen im Zuge des
Globalisierungsprozesses.

Dem Widerstand der katholischen Kirche wird sich die
Befreiungstheologie wohl auch weiterhin nicht entziehen koennen.
Ablehnung und Vorbehalte der Linken (vor allem in Europa) sollten aber
zu einem Ende kommen und in unterstuetzende Solidaritaet umschlagen.
Die Anerkennung des Kampfes gegen Unterdrueckung, Ausbeutung, Armut
und Elend darf nicht am religioesen Hintergrund der Bewegung
scheitern, sondern muss als verbindendes Element sich ergaenzender
Theorien und Praktiken begriffen werden. Nur so kann das Ziel einer
basisdemokratischen, egalitaeren und sozialen Weltgesellschaft
verwirklicht werden.
*Stefanie Klamuth*

*

1968: Die Option fuer die Armen

Die Grundkonzepte der Befreiungstheologie entstanden seit etwa 1960
aus der Selbstorganisation von katholischen Basisgemeinden in
Brasilien. Im Jahre 1968 kam es in Medellín zur zweiten Allgemeine
Lateinamerikanische Bischofskonferenz. Die dort versammelten Bischoefe
versuchten, sich gegenueber den neu aufkommenden sozialen Bewegungen
zu positionieren. Unter der Fuehrung des brasilianischen Erzbischofs
Dom Helder Camara wurden die "gewaltigen sozialen Ungerechtigkeiten in
Lateinamerika" angeprangert. Anknuepfend an die Enzyklika Populorum
progressio von Papst Paul VI. erhob der gesamte lateinamerikanische
katholische Episkopat, im Beisein und mit Billigung des Papstes, die
"Option fuer die Armen" zur Leitlinie der kirchlichen Position. Ihren
Namen gab der Bewegung das 1971 erschienene Buch "Teología de la
liberación" von Gustavo Gutiérrez. (wikipedia/bearb.)



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