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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 16. September 2008; 15:54
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Moderne Zeiten/Glosse:

> Placebo Wahlkabine.at

WWWebtip http://wahlkabine.at/nrw2008

Die "Wahlkabine" ist mittlerweile eine Institution. Wer sie nicht
kennt: Wenn man dort einsteigt, kann man zur aktuellen Wahl einige
Fragen zu gerade "heissen" politischen Themen beantworten. Diese
Antworten werden verglichen mit den Stellungnahmen der kandidierenden
Gruppierungen. Es wird die beste Uebereinstimmung gesucht und man
bekommt gesagt, welche Partei am ehesten zu der eigenen Meinung passt.

Seit 4 Wochen ist die Wahlkabine zur anstehenden Nationalratswahl
online und in dieser Zeit -- so eine Promotionaussendung -- bereits 10
Millionen betreten worden. Eine spannende Statistik: Bei den Wahlen
kann man sich so eine Beteiligung nur wuenschen, liegt sie doch weit
ueber 100%.

Einmal abgesehen davon: "wahlkabine.at wurde im Juni 2008 auf der
NECE-Konferenz im EU-Parlament in Strassburg als europaeisches Best
Practice Beispiel der Politischen Bildung praesentiert. Das
internationale Netzwerk entwickelt eine gemeinsame Internet-Plattform,
die im Vorfeld der Europawahlen 2009 die Waehlerinnen und Waehler
mobilisieren soll", so eine weitere Werbeaussendung. Sehr
verraeterisch -- geht es etwa darum, das wahlmuede Publikum, das sich
immer mehr fragt, wozu Wahlen eigentlich nuetze sind, doch noch an die
Urnen zu treiben?

Einmal abgesehen davon, dass in dieser elektronischen Wahlkabine die
Abgabe einer ungueltigen Stimme (spaeter in der wirklichen Wahlkabine)
nicht vorgesehen ist und damit eine Bejahung des repraesentativen
Systems prinzipiell vorausgesetzt wird, wird die Bewertung hier nur
nach Wahlprogrammen vorgenommen -- die Glaubwuerdigkeit der Partein
bleibt aussen vor. Und hier wird suggeriert: "Du brauchst Dich gar
nicht mit den wahlwerbenden Gruppierungen beschaeftigen: Wir sagen
dir, wer zu dir passt." Eine bedenkliche Entwicklung des
Informationszeitalters.

Sicher, waeren die Besucher alle kritische Medienkonsumenten wuerden
sie auch diesen Internetservice nur als dezenten Ratschlag
betrachten -- doch waeren sie wirklich so kritisch und interessiert,
braeuchten sie wahlkabine.at gar nicht.

Natuerlich ist diese Site besser zur Entscheidungsfindung geeignet als
emotionale Grundhaltungen wie "Der Haider ist so fesch!" oder "Die
Glawischnig ist so huebsch!" Aber wenn man bedenkt, dass BZOe wie
Gruene gerne mit der OeVP koalieren wollen und deswegen alle
Grundsaetze ueber den Haufen zu werfen bereit sind, sind Wahlprogramme
wie huebsche Wahlplakate gleichermassen Makulatur.

Aber selbst wenn man der Meinung ist, Wahlprogramme waeren
glaubwuerdig, happert es bei dieser Wahlkabine. Denn beruecksichtigt
wurden nur "Parteien bzw. Listen, die entweder im Nationalrat, in den
oesterreichischen Landtagen oder im Europaeischen Parlament vertreten
sind". Okay, ich verstehe schon, dass, um fuer alle Wahlberechtigten
relevant zu sein, nicht die nur regional kandidierenden Gruppierungen
aufscheinen. Auch gehen mir aus rein politischen Gruenden die
"Christen" und "Rettet Oesterreich" nicht wirklich ab -- aber
demokratisch im von wahlkabine.at bemuehten Sinne ist das nicht.
Auffaellig ist das vor allem deshalb, da vom ORF bis zu regionalen
Gratiszeitungen in den meisten Medien bei dieser Wahl ausnahmsweise
auch die Aussenseitergruppierungen Erwaehnung finden. Selbst die
aktuelle Ausgabe der alles andere als kritischen "Wiener
Bezirkszeitung" stellt alle 12 in diesem Bundesland kandidierenden
Listen vor -- inklusive der "Linken" und der Tierrechtspartei. 10%
oder mehr werden diesmal fuer nicht-etablierte Parteien stimmen, sagen
die Meinungsforscher. Wahlkabine.at ist das wurscht.

Aber selbst wenn man all das ignoriert, wirkt die Site bei naeherer
Betrachtung immer noch seltsam. Da gibt es zum Beispiel die Frage:
"Sollen wichtige Entscheidungen auf EU-Ebene (wie z.B.
Tuerkei-Beitritt, Reformvertrag, ...) in Oesterreich einer
Volksabstimmung unterzogen werden, auch wenn ein derartiges Referendum
nicht EU-weit stattfindet?" Wer da "Ja" sagt, ist erstaunlicherweise
ausser beim LIF ueberall gut aufgehoben. Denn da sagen alle anderen
Parteien "Ja". Wenn man genauer hinschaut, stellt sich heraus, dass
die OeVP nur ueber einen Tuerkei-Beitritt abstimmen lassen will. Und
die Gruenen wollen nur europaweite Abstimmungen, denn bei nationalen
Abstimmungen kaeme eine "Dauerblockade" heraus.

Oder die Frage nach einem Grundeinkommen: Bei der SPOe steht "Nein",
bei den Gruenen "Ja". Das Konzept der Gruenen ist, wenn auch ein
bisserl sozialer, prinzipiell das Gleiche wie das der SPOe:
"Grundsicherung fuer alle, die sie brauchen". Ein fundamentaler
Unterschied besteht nicht -- bei wahlkabine.at sind es aber zwei
diametral gegenueberstehende Positionen. Wer also als Wahlberechtigter
die Frage nach einem Grundeinkommen mit "Ja" beantwortet, wird eher
eine Empfehlung fuer die Gruenen bekommen als fuer die SPOe. Wirklich
wollen ein Grundeinkommen aber nur KPOe und LIF -- und die verstehen
darunter auch noch recht verschiedene Dinge.

Fazit: Dem buergerlichen Staat ist so eine Fastfood-Entscheidungshilfe
sehr recht. Aber selbst wenn wahlkabine.at serioes waere: Selber
denken kann sie wohl nicht ersetzen.
*Bernhard Redl*



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