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  akin-Pressedienst.
  Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 9. September 2008; 16:41
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  Soziales:
  
  > Armut als Sicherheitsrisiko
  
  Der Traisener Amoklauf mag die Verzweiflungstat eines Verrueckten 
  gewesen sein. Doch er offenbart, was Armut aus einem Menschen machen 
  kann.
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  "Ich will auf die Bedingungen aufmerksam machen, unter denen viele 
  prekaer Beschaeftige leben", hat der mutmassliche Amoklaeufer von 
  Traisen geschrien, als er sich im VOEST-Werk verschanzt hatte. 
  "Schiesst mir in den Kopf. Meine Pistole hat eine Ladehemmung", hat er 
  die Polizisten angefleht, die ihn nach viereinhalb Stunden 
  ueberwaeltigen. Laut Polizei hat er einen Arbeiter angeschossen. 
  Offenbar aus Rache. Ein Streit mit dem Mann hatte dazu gefuehrt, dass 
  der Verdaechtige nach einem Monat Leiharbeit im Stahlwerk entlassen 
  worden war. Auch Kollegen hatten gegen ihn Stimmung gemacht, zum Teil 
  ebenfalls Leiharbeiter. "Er hat zu wenig Pfeffer", sagten sie den 
  Verantwortlichen. Die Personalueberlassungsfirma, bei der er 
  beschaeftigt war, liess ihn ebenfalls fallen. Ein klassischer Fall von 
  Mobbing.
  
  Der Mann fiel ins Bodenlose. Mit dem Arbeitslosengeld kam er kaum 
  ueber die Runden. Dabei hatte er Schulden von 50.000 Euro - zuhause 
  fuehrte das nicht nur einmal zum Streit. Das hat seine Frau gegenueber 
  Medien gesagt. Das Selbstwertgefuehl des Verdaechtigen, den Bekannte 
  ohnehin als schwierig beschreiben, war dahin. Er verbrachte seine Zeit 
  in AMS-Kursen und versuchte, sich um seine Kinder zu kuemmern. Kurz 
  vor den Schuessen auf dem VOEST-Werksgelaende hatte er seine 
  vierjaehrige Tochter in den Kindergarten gebracht.
  
  "Mit ihm hat es immer wieder Probleme gegeben", schildert ein 
  Bekannter des Verdaechtigen der akin. "Aber dass er faehig ist, auf 
  einen Menschen zu schiessen, das haette niemand hier geglaubt. Auch 
  keiner, der ihn besser kannte als ich". Immer wieder duerfte sich der 
  49-Jaehrige mit Freunden ueberworfen haben, oft wegen Kleinigkeiten. 
  "Er war eher ein Einzelgaenger", sagt sein Bekannter. "Seine Frau 
  hingegen ist eine Nette, die auf Menschen zugeht, mit der man auch 
  reden kann. Alleine, wie gut sie heute Deutsch spricht". Sie hatte den 
  wesentlich Aelteren in Rumaenien kennengelernt und war mit ihm nach 
  Oesterreich gezogen. Laut den Schilderungen des Bekannten nicht nur 
  aus Liebe. Die Hoffnung auf ein besseres Leben duerfte auch eine Rolle 
  gespielt haben. "Das hat er ihr nicht bieten koennen". Die 31-Jaehrige 
  tut ihm Leid. "Schade, dass sie da hineingezogen worden ist". Sie habe 
  sich blenden lassen.
  
  Als die Frau ihm wegen Untreue mit Scheidung droht, wird es zu viel 
  fuer ihn. Seine ganze Wut duerfte sich auf den Mann konzentriert 
  haben, den er fuer den Schuldigen gehalten hat. "Ich war emotional 
  sehr geladen und wollte ihn nur erschrecken", hat der Verdaechtige 
  seinem Anwalt erzaehlt. Er bestreitet den Amoklauf nicht."Er hat in 
  dem Menschen den Grund allen Uebels gesehen", sagt Verteidiger 
  Nikolaus Rast gegenueber Medien.
  
  Die klassischen Zutaten fuer einen Amoklauf: die vage Hoffnung auf 
  Gelegenheitsarbeiten durch die Leiharbeitsfirma, die finanzielle Lage, 
  die zu Streit zu Hause fuehrt, moeglicherweise auch einen 
  Versicherungsbetrug ausloest, der der juristischen Aufarbeitung harrt, 
  dann Mobbingopfer und Arbeitslosigkeit und eine Pistole, die auf dem 
  Dachboden des Vaters herumliegt. Mag der Mann vorher das gewesen sein, 
  was gemeinhin als Querulant bezeichnet wird. Die Arbeitslosigkeit, die 
  Armut haben ihm nach den aktuell vorliegenden Informationen den Rest 
  gegeben.
  
  Ein Extremfall, zugegeben. Bei aller Vorsicht illustriert er aber, 
  dass Armut mehr ist als das Leid der Betroffenen. Armut ist eine 
  latente Gefahr in dieser Gesellschaft. 83 Prozent aller Arbeitslosen 
  liegen laut einer Studie der niederoesterreichischen Arbeiterkammer 
  mit ihrem Arbeitslosengeld unter der Armutsschwelle. Macht gut 150.000 
  Menschen, die wegen Arbeitslosigkeit in struktureller Armut leben oder 
  strukturell armutsgefaehrdet sind. "Dass "nur" 30 Prozent der 
  Arbeitslosen in akuter Armut leben, haengt damit zusammen, dass das 
  Einkommen der Partner den Rest vor dem Absturz bewahrt", sagt ein 
  AK-Experte. Der Sozialstaat greift nicht mehr. 60 Prozent aller 
  derzeit Beschaeftigten wuerden bei Arbeitslosigkeit mit dem ALG unter 
  die Armutsschwelle rutschen. Wer weniger als 2.150 Euro brutto 
  verdient, den rettet nur ein Partnereinkommen vor Armut. Angesichts 
  der letzten Wirtschaftsdaten fuer viele eine mehr als nur theoretische 
  Gefahr. Es gibt keinen ernstzunehmenden Oekonomen, der nicht erwartet, 
  dass Tausende Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren werden. Und es 
  wird vor allem die treffen, die weniger als 2.150 Euro brutto 
  verdienen. Prekaer Beschaeftigte wie Leiharbeiter und Freie 
  Dienstnehmer, Hilfsarbeiter, Frauen, Migranten, schlecht ausgebildete 
  Menschen. "Diese Gruppen haben ein ueberdurchschnittlich hohes Risiko, 
  arbeitslos zu werden", sagt ein AK-Experte. Flaut die Konjunktur ab, 
  werden zuerst die Billigarbeitskraefte abgebaut, die die Firmen zur 
  Abdeckung der Auftragsspitzen in der Hochkonjunktur aufgenommen 
  hatten. Das erhoeht den sozialen Druck unter denen, die noch einen Job 
  haben. "Unter Freien Dienstnehmern ist die Konkurrenz am groessten", 
  sagt ein Bildhauer der akin. Der junge Mann arbeitet fuer eine Firma, 
  die diverse Bau- und Transportarbeiten im Kulturbereich macht. 
  "Mobbing ist da keine Ausnahme. Jeder hofft, dass er aufsteigt, wenn 
  ein Kollege den Arbeitsplatz verliert. Oder er erwartet, seinen 
  Arbeitsplatz dadurch zu halten". Ein Phaenomen, das es - zumindest 
  teilweise - auch bei Leiharbeitern gibt. Der mutmassliche Amoklaeufer 
  aus Traisen ist keine Ausnahme. Die Angst, ins finanzielle Nichts zu 
  stuerzen, setzt Menschen psychologisch unter Druck. Stress mit all 
  seinen sozialen Konsequenzen, mit psychologischen und 
  gesundheitlichen, ist ein Phaenomen der Arbeiterklasse, vor allem der 
  Gruppen, die am prekaersten leben.
 Aggressivitaet ist eine der moeglichen Konsequenzen dieses 
  finanziellen Drucks. Je hoeher der Druck wird, je mehr Menschen er 
  betrifft, desto mehr wird sich diese Gesellschaft mit diesem Phaenomen 
  auseinandersetzen muessen. Armut ist nicht nur ein Problem der 
  Betroffenen. Armut ist ein Sicherheitsrisiko. Ein Risiko, dass sich 
  diese Gesellschaft auf Dauer nicht leisten kann. Repression 
  funktioniert nicht und ist auf Dauer eine sehr teure Angelegenheit. 
  Die einzige Moeglichkeit, dieses Sicherheitsrisiko auszuschalten, ist 
  die Bekaempfung von Armut. Konzepte liegen in ausreichender Zahl am 
  Tisch.
  *Viktor Englisch*
  
  
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