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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 2. September 2008; 14:51
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Glosse/Justiz:

> Die Panne hat Methode

Vom Glueck, im richtigen Moment inhaftiert zu sein

Die Geschichte von jenem Tunesier, der wochenlang in U-Haft gesessen
ist, obwohl eigentlich aus dem Akt ersichtlich war, dass er die ihm
vorgeworfene Tat nicht begangen haben kann, weil er eben wegen eines
anderen Delikts gerade einsass, ging breit durch die Medien.
"Justizpanne" war das Wort, das sich in den Kommentaren durchsetzte.
Zu Recht wurde diese Panne irgendwo zwischen peinlich und Skandal
eingereiht -- nicht nur von den ueblichen Verdaechtigen, sondern sogar
von der FPOe, die ja nicht gerade als Verteidigerin der Menschenrechte
von Auslaendern zu Beruehmtheit gelangt ist.

Pikant ist diese Geschichte vor allem, weil seit 1.Jaenner eine
grundlegende Reform der Strafprozessordnung in Kraft ist, die
Beschuldigten schon bei der ersten Einvernahme einen Anwalt zugesteht.
Damit war -- gegen den Widerstand der Polizei -- ein
menschenrechtlicher Missstand behoben worden, der schon seit
Jahrzehnten von Anwaelten und Menschenrechtsorganisationen beklagt
worden war. Und die Polizei ist seit dieser Reform verpflichtet,
Beschuldigte ueber ihre Rechte aufzuklaeren -- genauso wie ueber die
Tatsache, dass derzeit ein Versuchsprojekt laeuft, bei dem ein
anwaltlicher Notdienst kostenlos zur Verfuegung steht. Nur: Die
Polizei haelt sich nicht an diese Pflicht zur Rechtsinformation, da
die Versaeumnis dieser Verpflichtung (im Gegensatz zu den USA, von wo
man das ja aus den Krimis kennt) keinerlei Konsequenzen nach sich
zieht. Weder gibt es dienstrechtliche Konsequenzen fuer die Beamten
noch irgendwelche Folgen fuer das Verfahren.

Ein weiterer Punkt ist, dass Beschuldigte, die von ihrem Recht auf
einen Anwalt wissen, sich oft einfach vor den Kosten fuer diesen
fuerchten. Denn zum einen gibt es diesen Gratis-Notdienst erst seit 2
Monaten -- und moeglicherweise laeuft dieses Projekt Ende Oktober ohne
Nachfolge aus --, zum anderen kostet eine darueber hinausgehende
anwaltliche Vertretung auf alle Faelle ziemlich viel Geld. Selbst bei
einem Freispruch wird der Anwalt des Beschuldigten nicht vom Gericht
bezahlt, sondern vom Beschuldigten, der dann vom Gericht einen
Kostenersatz verlangen kann, welcher aber im Regelfall die Kosten
einer serioesen Vertretung nicht annaehernd deckt. Der Beschuldigte
wird de facto auf alle Faelle bestraft.

Noch etwas faellt auf in der Causa um den angeblichen Drogendealer. In
diesem Fall ist es naemlich tatsaechlich relevant, seine Nationalitaet
zu erwaehnen. Der Tunesier war verhaftet worden, weil ihn ein
16-Jaehriger als Taeter auf einem Polizeiphoto erkannt haben wollte --
ein willkommener Taeter fuer die Polizei. Bei der Gegenueberstellung
vor Gericht beharrte der Junge auf seiner Aussage, bis man ihn
darueber belehrte, dass der Beschuldigte gar nicht der Taeter gewesen
sein koenne. Warum war sich der Junge so sicher? Weil alle Suedlaender
gleich aussehen? Weil die Polizei ihn eingeschuechtert und er Angst
hatte, sein Aussage zu revidieren? Egal, aber man kann davon ausgehen,
dass der Beschuldigte verurteilt worden waere, wenn er nicht dieses
bombenfeste Alibi gehabt haette. Jetzt stellt sich die Frage: Wieviele
Menschen suedlaendischer Herkunft, deren Rechte generell nicht
sonderlich oft gewahrt bleiben, sitzen auf Grund einer derart
schwammigen Beweislage in unseren Gefaengnissen? Einmal abgesehen
davon, dass natuerlich auch immer wieder die Frage gestellt werden
muss, ob unsere Gesellschaft ueberhaupt Gefaengnisse braucht; auch
abgesehen davon, dass in der konkreten Causa dem Beschuldigten das
anscheinend beinahe todeswuerdige Verbrechen der Weitergabe von
Cannabis vorgeworfen worden war, was einer gewissen Laecherlichkeit
nicht entbehrt -- wenn man das alles weglaesst, bleibt immer noch eine
buergerliche Justiz zurueck, die vom Beschuldigten verlangt, dass er
seine Unschuld beweisen muss -- eine Auffassung der Rechtssprechung,
wie sie auf theoretischer Ebene bereits im Mittelalter verworfen
worden war.

Diese Justiz kann viel mit Ueberarbeitung und Personalmangel
rechtfertigen, aber fuer Faelle wie diesen oder den
"Islamistenprozess" oder das Aus-den-Fingern-saugen einer Anklage
wegen "Krimineller Organisation" von Tierrechtsaktivisten muss sie
sich schon eine bessere Ausrede einfallen lassen.
*Bernhard Redl*


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