**********************************************************
akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 2. September 2008; 14:34
**********************************************************

Arbeit/Initiativen:

> Hinter der Stadtgrenze

Zwei Ausfluege zu den ErdbeerpflueckerInnen im Marchfeld.
Bericht der Aktionsgruppe "Bittere Ernte"
*

Im Juni diesen Jahres fuhren wir, eine Gruppe von ca. 20
AktivistInnen, mehrere Male ins Marchfeld, ausgeruestet mit ca. 4000
Flugblaettern in 7 verschiedenen Sprachen.

Hintergrund war, dass zu dieser Zeit die Erdbeerernte voll im Gange
war. Mehrere tausend SaisonarbeiterInnen arbeiten Jahr fuer Jahr im
Marchfeld, die groessten Betriebe beschaeftigen mehr als hundert
ArbeiterInnen.

Die Region gehoert groesstenteils zum Bezirk Gaenserndorf, ausserdem
zaehlen weite Teile des 21. und 22. Bezirks dazu. Das Gebiet wird im
Westen von Wien, im Osten von der March bzw. der slowakischen Grenze,
im Sueden von der Donau und im Norden vom Weinviertler Huegelland
begrenzt. Aufgrund der flachen Topographie eignete sich das Marchfeld
seit jeher fuer intensive landwirtschaftliche Produktion - noch lange
nach dem 2. Weltkrieg war die Region als Kornkammer Oesterreichs
bekannt, nach dem sukzessiven Preisverfall fuer Getreide stiegen viele
Betriebe in den 80er und 90er Jahren auf arbeitsintensives
Feldgemuese, Spargel und Erdbeerkulturen um.

Viel Vorbereitung noetig

Bereits Anfang Mai diesen Jahres hatten sich Interessierte aus dem
Umfeld der OeBV - Via Campesina Austria, des Europaeischen
BuergerInnenforums, Agrar-ATTAC, der Zeitschrift grundrisse, der in
Wien erscheinenden polnischsprachigen Zeitung Polonika sowie andere
Gruppen und Einzelpersonen zusammengefunden, um darueber nachzudenken,
wie landwirtschaftliche SaisonarbeiterInnen waehrend ihres Aufenthalts
in Oesterreich unterstuetzt werden koennten. Denn wie aus einer
Vielzahl an Recherchen und journalistischen Berichten hervorgeht, die
in den letzten Jahren erschienen sind, sind die Lebens- und
Arbeitsbedingungen von SaisonarbeiterInnen v.a. in der Spargel- und
Erdbeerproduktion, aber auch bei anderen arbeitsintensiven Obst- und
Gemuesekulturen nicht selten aeusserst miserabel. Es handelt sich um
einen Niedriglohnsektor, der von OesterreicherInnen seit Jahrzehnten
gemieden wird und der buchstaeblich frei ist von jeglichen
gewerkschaftlichen Strukturen. Wie wir von den ArbeiterInnen erfuhren,
werden fuer ein Kilogramm gepflueckter Erdbeeren momentan 30 Cent
bezahlt.

Im Vorfeld organisierten wir mehrere Arbeitstreffen, fixierten die
Orte, die besucht werden sollten und einigten uns auf den Inhalt des
Flugblattes. Dieses umfasst die Eckdaten des Kollektivvertrags fuer
ErntehelferInnen, Hinweise in Bezug auf Unterbringung und Verpflegung,
Sicherheit und Arbeitsklima, sowie Kontakttelefonnummern.
Erfreulicherweise kam eine Kooperation mit dem Verein Notruf zustande,
der die Aktion unterstuetzte und anbot, eine Telefonnummer fuer
Frauen, die an ihrem Arbeitsplatz von sexualisierter Gewalt betroffen
sind, auf dem Flugblatt anzufuehren.

Zentral in unseren vorbereitenden Diskussionen war der Anspruch, die
Verhaeltnisse, die diese Formen der Ausbeutung erzeugen, strukturell
zu verstehen, und insbesondere Ansatzpunkte zu suchen, wie mensch sie
veraendern kann. Was wir vermeiden wollten, war die Reproduktion von
Erklaerungsmustern eindimensionaler Betroffenheit. Uns ist klar, dass
die SaisonarbeiterInnen, von denen wir reden, keine homogene Gruppe
sind, und ausserdem innerhalb der gegebenen Moeglichkeiten selbst
entscheiden, in welche Arbeitsverhaeltnisse sie sich begeben.

Grundtenor innerhalb der Gruppe war, dass wir unsere Aktion mit
entsprechender Vorsicht angehen wollten. Dies einerseits aus fehlender
Erfahrung in diesem Terrain - in Bezug auf die Arbeitsbedingungen im
Marchfeld gab es bisher keinerlei Interventionen von Gewerkschaften
oder NGOs, auf die mensch sich beziehen koennte - andererseits
angesichts der Gefahr, dass wir bei zu aufdringlichem Agitieren eher
die Arbeitsplaetze der SaisonarbeiterInnen gefaehrden wuerden als ihre
Situation zu verbessern.

Wir entschlossen uns, in den Abendstunden, nach Ende des Arbeitstages,
in den Orten anwesend zu sein, um mit den ErntehelferInnen in einer
ruhigeren Atmosphaere ins Gespraech kommen zu koennen. Auf dem Feld,
bei der Anwesenheit von Vorarbeitern und unter dem Druck der (Akkord-)
Arbeit wuerde das Verteilen von Flugblaettern nur in einer "hit and
run"- Manier erfolgen koennen, was wir vermeiden wollten.

Ueberwindung der Sprachbarriere

Beim Spazierengehen in den Ortschaften (insgesamt waren wir in ca. 10
Doerfern) gegen Abend gelang es uns, mit ArbeiterInnen naeher ins
Gespraech zu kommen. Uebersetzungen der Flugblaetter auf Polnisch,
Tschechisch, Rumaenisch, Serbokroatisch, Ukrainisch und Tuerkisch
waren vorhanden. Unter den AktivistInnen, die an dem Ausflug
teilnahmen, waren einige Native Speakers.

Welche Repressionsgewalt den Vorarbeiterstrukturen auf den grossen
Betrieben beizumessen ist, bekam eine unserer Gruppen bei zwei
Besuchen zu spueren, als ein Vorarbeiter auf einem Betrieb mehrmals
damit drohte, die Polizei anzurufen. Um einiges schlimmer als diese
Androhung war allerdings die Tatsache, dass saemtliche ArbeiterInnen,
mit denen wir bereits in interessante Gespraeche vertieft waren, diese
abrupt abbrachen, als der Vorarbeiter auftauchte.

Bei vielen Gespraechen zeigte sich eine aeusserst starke, schwer
durchschaubare Hierarchisierung der Gruppen von ErntehelferInnen. Wir
bekamen zu hoeren, dass manche ArbeiterInnen mehrere tausend Euro
Vermittlungsgebuehr bezahlen, manche viel weniger, je nach Naehe zur
Vermittlerstruktur. Eine andere wichtige Frage war die des Transports:
eine Gruppe von rumaenischen ArbeiterInnen war anlaesslich der
Heimfahrt mit dem Fahrer/Arbeitsvermittler in Streit gekommen: dieser
verlangte weitere 100 Euro fuer die Heimfahrt, was zu Beginn der
Arbeit nicht abgemacht worden war.

Ein genaues Verstaendnis der Dynamik dieser unterschiedlichen (Sub-)
Gruppen auf den einzelnen Hoefen waere allerdings Voraussetzung einer
sinnvollen Unterstuetzung der ArbeiterInnen. Einstweilen ist noch
offen, ob und mit welchen Mitteln der Untersuchung und Intervention
diese Arbeit geleistet werden kann.

Abgeschottete Realitaet

Eines der vorrangigen Ziele unserer Aktion war ja, ArbeiterInnen
kennenzulernen, die die Bedingungen ihrer Arbeit in Oesterreich
veraendern wollen und die wir dabei unterstuetzen koennen. Denn nur
mit ihrer Zustimmung und Beteiligung kann gewaehrleistet werden, dass
eine Intervention von aussen nicht Arbeitsplaetze gefaehrdet und am
Ende nicht mehr Verwirrung stiftet bzw. Repression hervorruft als
aktive Widerstaendigkeit foerdert. Es waere uebertrieben zu behaupten,
wir haetten bei diesem ersten Schritt des Flugblatt-Verteilens nicht
mehr neue Fragen als Antworten gefunden. Wir denken allerdings, dass
das Kennenlernen der Strukturen dieser weithin ignorierten und gut
abgeschotteten Realitaet landwirtschaftlicher Produktion unabdingbare
Voraussetzung fuer Intervention darstellt. Was wir bisher haben, sind
punktuelle Einblicke in die Thematik und einige Kontakte zu
ArbeiterInnen.

In engem Zusammenhang mit den Produktionsbedingungen steht die Logik
der agrarkapitalistischen Vermarktung. Denn die Preisdrueckerei im
Lebensmittelsektor hat unmittelbare Auswirkungen auf die
Arbeitsbedingungen und die Loehne in der Landwirtschaft. Unabhaengig
von unseren Vorbereitungen entwickelte eine andere politische Gruppe
ein Flugblatt, das die Arbeitsbedingungen in der Spargelernte
kritisiert, und sich mit dieser Kritik an die KonsumentInnen wendet.
Dieses Flugblatt ist dazu gedacht, in und vor Supermaerkten verteilt
zu werden.

Was die Flugblattaktion im Marchfeld betrifft, wurde uns klar, dass
wir hier mit einer hohen Komplexitaet und Widerspruechlichkeit
konfrontiert sind, die zeigt, dass die Formen politischer Intervention
selbst immer wieder zu hinterfragen sind. Paternalistische
"Solidaritaet" ist Teil des Problems. Einen Horizont stellt fuer uns
die Suche nach Formen der und Moeglichkeiten fuer emanzipatorische
Selbstorganisation der SaisonarbeiterInnen dar. Wie wir uns als
politisch Aktive zu dieser in der Oeffentlichkeit unterschlagenen
Wirklichkeit verhalten (koennen), ist eine Frage, die wir in Zukunft
mit Sicherheit weiter bearbeiten werden.
*Dieter Behr*
Kontakt: ernte{AT}lnxnt.org


***************************************************
Der akin-pd ist die elektronische Teilwiedergabe der
nichtkommerziellen Wiener Wochenzeitung 'akin'. Texte im akin-pd
muessen aber nicht wortidentisch mit den in der Papierausgabe
veroeffentlichten sein. Nachdruck von Eigenbeitraegen mit
Quellenangabe erbeten. Namentlich gezeichnete Beitraege stehen in der
Verantwortung der VerfasserInnen. Ein Nachdruck von Texten mit anderem
Copyright als dem unseren sagt nichts ueber eine anderweitige
Verfuegungsberechtigung aus. Der akin-pd wird nur als Abonnement
verschickt. Wer versehentlich in den Verteiler geraten ist, kann den
akin-pd per formlosen Mail an akin.buero{AT}gmx.at abbestellen.

*************************************************
'akin - aktuelle informationen'
a-1170 wien, Lobenhauerngasse 35/2
vox: ++43/1/535-62-00
(anrufbeantworter, unberechenbare buerozeiten)
http://akin.mediaweb.at
akin.buero{AT}gmx.at
Bankverbindung lautend auf: föj/BfS,
Bank Austria, BLZ 12000,
223-102-976/00, Zweck: akin