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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 3. Juni 2008; 16:51
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Mexiko/Interview:
> Vom Chemieingenieur zum Befreiungstheologen
Letzte Woche war Bischof Raúl Vera aus Mexiko zu Besuch in Wien. Er 
gilt als einer der letzten Exponenten der Befreiungstheologie. Fuer 
ihn sei das keine ideologische Frage, sondern die natuerliche Antwort 
auf die sozialen Verhaeltnisse, meint er im Interview mit Ralf 
Leonhard.
Raúl Vera wurde 1945 in Mexiko geboren und studierte Chemie an der 
UNAM (Autonome Universitaet von Mexiko), bevor er 1968 in den 
Dominikanerorden eintrat. 1987 wurde er zum Bischof von Altamirano, 
Bundesstaat Guerrero, bestellt, 1995 zum Koadjutor von Samuel Ruiz, 
Bischof von San Cristóbal de las Casas, Chiapas. Er galt als Mann der 
konservativen Kurie, der die Dioezese nach dem volksnahen Ruiz 
"umdrehen" sollte. Zum allgemeinen Erstaunen setzte er die Linie 
seines Vorgaengers fort und wurde 1999 nach Saltillo, am anderen Ende 
des Landes, transferiert.
Frage: Sie kamen im Jahr 2000 von Chiapas im aeussersten Sueden 
Mexikos, nach Saltillo, im Nordosten. Das sind zwei ziemlich 
unterschiedliche Welten.
Raúl Vera: Ja, aber die Ursachen, die den sozialen Problemen zugrunde 
liegen, sind die gleichen. Die Probleme haben einfach andere 
Erscheinungsformen.
Frage: Zum Beispiel die Auswanderung in die USA.
RV: In Saltillo finden wir sowohl mexikanische als auch 
zentralamerikanische Auswanderer. Die Zentralamerikaner sind noch 
schlimmer dran, weil sie keine Papiere haben. Die Mexikaner reisen mit 
dem Bus, die Zentralamerikaner bevorzugen menschenleere Gegenden, wo 
sie oft ueberfallen und ausgeraubt werden. Sie reisen mit dem 
Gueterzug. Passagierzuege gibt es in Mexiko keine mehr. In den Zuegen 
werden sie Opfer der privaten Sicherheitsleute, die sich gegenueber 
den Emigranten wie Paramilitaers verhalten. Sie werfen sie aus 
fahrenden Zuegen, dabei kommen viele unter die Raeder und werden 
verstuemmelt oder getoetet. Vor kurzem wurden drei 
zentralamerikanische Migranten, die unter einem Baum sassen, ermordet, 
einfach niedergeschossen. Dieser Sicherheitsdienst erledigt die 
Drecksarbeit der US-Grenzpolizei.
Frage: Aus welchen Laendern kommen diese illegalen Migranten?
RV: Vor allem aus Honduras, wo die Verheerungen durch den Hurrikan 
Mitch (im Jahre 1997) noch immer nicht beseitigt wurden. In geringem 
Ausmass kommen auch Menschen aus El Salvador, Nicaragua oder 
Guatemala. Im Nordwesten, an der Grenze zu Kalifornien und Arizona ist 
das vielleicht anders. Jede Woche betreuen wir um die 300 Menschen in 
unserem Haus der Migranten. Letztes Jahr waren es insgesamt 9000.
Frage: Die Dioezese hat aber noch andere soziale Einrichtungen.
RV: Es gibt ein Menschenrechtsbuero und ausserdem eine 
Menschenrechtsstelle, die dem Haus der Migranten angeschlossen ist. 
Wir versuchen ausserdem, eine andere Kultur gegenueber den Fremden, 
einen menschlicheren Umgang der Gesellschaft mit den Migranten zu 
foerdern. Das geht einerseits ueber den Dialog mit der Gesellschaft, 
andererseits ueber den Dialog mit den Behoerden. Sie sollen die 
Migranten nicht als Verbrecher sehen, sondern als Produkt eines 
Systems. Wir versuchen auch die Gesetzgebung zu beeinflussen. Bis vor 
kurzem galten in Mexiko illegale Einwanderer als Kriminelle, die man 
einsperren und bestrafen durfte. Das wurde jetzt durch unsere 
Lobbyarbeit geaendert. Wenn jemand keine Papiere hat, ist das nur mehr 
ein Verwaltungsvergehen. Die Leute koennen abgeschoben, aber nicht 
mehr eingesperrt werden. Auch Menschen, die Illegalen halfen, wurden 
kriminalisiert. Eine Frau sass drei Jahre im Gefaengnis. Das ist jetzt 
nicht mehr so.
Frage: Sie haben sich auch fuer vergewaltigte Prostituierte 
eingesetzt.
RV: Am 11. Juli 2006 haben uniformierte und bewaffnete Soldaten in der 
Bar El Pérsico mindestens 14 Frauen vergewaltigt. Vorher haben sie die 
Polizisten, die dort aufpassten, entwaffnet und das Lokal abgesperrt. 
Sie erfuellten neben der Vergewaltigung mehrere Straftatbestaende: 
naemlich Freiheitsberaubung und Stoerung der oeffentlichen Ordnung. 
Ausserdem verlor eine der Frauen durch die Misshandlung ihr Baby.
Von den rund 20 beteiligten Militaers wurden zwoelf von den Opfern 
eindeutig identifiziert. Nur neun landeten letzten Endes vor Gericht 
und nur drei wurden zu hohen Strafen - zwischen 20 und 35 Jahren - 
verurteilt.
Ich habe das Urteil kritisiert und wurde deswegen vom Richter beim 
Vatikan denunziert. Er hat bei der Roemischen Kurie eine Klage wegen 
Amtsmissbrauchs und Rufschaedigung gegen mich eingebracht.
Frage: Die Justiz ist ja in anderen Faellen viel weniger zimperlich.
RV: Wenn es darum geht, den neuen sozialen Akteur, naemlich 
Basisorganisationen, zu verfolgen, agieren Polizei und Justiz schnell. 
So geschehen in San Salvador Atenco, wo sich die Bauern schon vor ein 
paar Jahren gegen ein Flughafenprojekt organisiert haben. Dort 
protestierten lokale Blumenzuechter gegen das Verbot, ihre Ware auf 
dem Markt zu verkaufen. Der Buergermeister hatte ihnen ohne sachliche 
Begruendung die Erlaubnis verweigert. Es kam dann zu einem Protest vor 
dem Markt, dem sich auch die Bauern anschlossen, die fuer den 
Flughafen enteignet werden sollten. Die hatten Erfahrung mit 
Demonstrationen und sperrten die Strasse ab. Daraufhin schritt die 
Polizei mit aller Brutalitaet ein. Mehrere Frauen wurden dabei 
vergewaltigt, Dutzende wurden illegal festgenommen. Das hat die 
offizielle staatliche Menschenrechtskommission alles dokumentiert. 
Kein Polizist wurde fuer die Gewaltexzesse belangt, aber einige der 
Anfuehrer der Protestbewegung wurden zu 67 Jahren Gefaengnis 
verurteilt. Man stelle sich die Verhaeltnismaessigkeit vor: der 
Drogenboss Chapo Guzmán, der mehrere Morde auf dem Gewissen hat, bekam 
nur elf Jahre.
Frage: Soziale Proteste sind ja in Mexiko an der Tagesordnung. Letztes 
Jahr gab es grosse Demonstrationen gegen die Erhoehung der 
Tortillapreise. Ist das eine Folge des Freihandelsvertrags NAFTA?
RV: Die Preissteigerungen und die Unterversorgung mit 
Grundnahrungs-mitteln hat natuerlich mit dem Freihandel zu tun. Das 
Land ist voll mit auslaendischen oder auch mexikanischen 
Supermarktketten. Im vergangenen Januar trat jener Teil des NAFTA in 
Kraft, der auch den unbeschraenkten Import von Grundnahrungsmitteln 
erlaubt. Wirtschaftswissenschaftler bestaetigen, dass der NAFTA ein 
Vertrag ist, dem wesentliche Teile fehlen. Es gibt darin kein Abkommen 
ueber Menschenrechte, Arbeitsrechte oder Oekologie. Die illegale 
Migration in die USA kann nur wirksam bekaempft werden, wenn in Mexiko 
Arbeitsplaetze geschaffen und gerechte Loehne bezahlt werden. Heute 
wird nicht mehr produziert. Das Geld wird durch Spekulationsgeschaefte 
vermehrt. Wir leben in einer Spekulationsgesellschaft, in der keine 
Werkbaenke mehr benoetigt werden. Die Leute haben keine Arbeit. 
Logisch, dass sie auswandern.
Praesident Vicente Fox (2000-2006) setzte eine Kommission ein, die die 
Armut im Lande erheben sollte. In ihrer Studie stellte sie fest, dass 
54 Prozent der Bevoelkerung nicht regelmaessig essen. Wenn man auch 
Wohnung, Kleidung und andere Faktoren einbezieht, dann haben 73 der 
mexikanischen Bevoelkerung kein wuerdiges Leben. Der Zugang zu einem 
Leben in Wuerde ist aber ein Menschenrecht.
Frage: Die Verteidiger des Freihandels weisen darauf hin, dass in den 
entwickelten Laendern nur zwei Prozent der Bevoelkerung in der 
Landwirtschaft arbeiten. Da muessen aus Bauern eben Arbeiter oder 
Dienstleister werden.
RV: Seit dem Konsens von Washington hat man uns schon sehr viel 
erzaehlt. Die Marktideologen glauben, dass die Regeln des Marktes 
genuegen, um eine Gesellschaft ins Lot zu bringen. Das ist eine 
absurde Behauptung, die die katholische Kirche immer kritisiert hat, 
denn das laesst die menschliche Dimension unberuecksichtigt. Man kann 
den Menschen nicht auf seinen kommerziellen Wert reduzieren. Schauen 
Sie, bei uns in Saltillo wurde die Wasserversorgung an ein spanisches 
Unternehmen verkauft. Seither haben sich die Tarife vervierfacht. Das 
soll noch jemand sagen, dass Deregulierung allen nuetzt.
Frage: Sie werden manchmal mit dem salvadorianischen Erzbischof Oscar 
Arnulfo Romero verglichen, der urspruenglich sehr konservativ war und 
dann im Kontakt mit der Wirklichkeit seines Landes die Option fuer die 
Armen entdeckte.
RV: Das ist ein Vergleich, den ich nicht verdiene. Ich versuche 
natuerlich, seinem Beispiel zu folgen. Bevor ich dem Orden der 
Dominikaner beitrat, war ich Chemieingenieur. Auf der theologischen 
Fakultaet der Universitaet Bologna wurde ich dann in der Tradition des 
Thomas von Aquin ausgebildet. Dank der Dominikaner habe ich dann die 
sozialen Probleme entdeckt. Es war die Zeit der Enzyklika "populorum 
progressio" und der Bischofskonferenz von Medellín. Als ich 1995 nach 
Chiapas kam, waren diese Anlagen bei mir also schon vorhanden, aber 
durch die neuen Erfahrungen wurden sie wachgerufen.
(DAZ)
Quelle: 
http://dieanderezeitung.at/index.php?option=com_content&task=view&id=2203&Itemid=80
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