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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 20. Mai 2008; 19:00
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Zeitgeschichte:
> Wir Achtundsechziger
Michael Genners ganz persoenlicher Rueckblick, Teil II
Von 1969 bis 1972 gehoerte ich zu einer Aktionsgruppe, die sich den 
Problemen der Arbeiterjugend widmete. Kurze Zeit waren wir die 
"Sektion 6". eine Jugendsektion der KPOe, aber in dieser alten, 
verstaubten, stalinistischen Partei gefiel es uns nicht; wir machten 
uns unabhaengig und nannten uns "SPARTAKUS".
Erziehungsheimkampagne
Wir kaempften gegen die Erziehungsheime, die "Jugend-KZs", wie wir sie 
nannten, in denen Pruegelstrafen, Einsperren in kahlen Zellen 
("Steinkorrektion") und Psychoterror perverser Erzieher an der 
Tagesordnung waren. Die Heime waren ein staendiges Druckmittel --  
nicht nur gegen die "Kriminellen", sondern gegen alle Jugendlichen, 
die ein bisschen freier leben wollten. Damals war es moeglich, dass 
ein Lehrling ins Erziehungsheim kam, weil er mehrmals "unbegruendet" 
den Arbeitsplatz wechselte. Dann galt er als "asozial".
Oder Burschen und Maedchen, die zusammen sein wollten, obwohl ihre 
Eltern dagegen waren. Die "Fuersorge" in den Gemeindebauten wachte 
argwoehnisch darueber, ob ein 16jaehriges Maedchen vielleicht schon 
einen Freund hatte. Dann konnte sie faellig sein. Ayatollah Khomeiny 
haette daran seine Freude gehabt. Eine Umfrage, die wir in Wiens 
groesster Berufsschule (Mollardgasse) machten, ergab, dass die 
Mehrzahl der befragten Lehrlinge die Erziehungsheime als Hauptproblem 
angaben. Manche waren schon im Heim gewesen, oder man hatte ihnen 
damit gedroht, zumindest aber kannten sie andere, die ins Heim 
gekommen waren. Alle fuerchteten sich davor. Es gab eine Stufenleiter 
der Heime, vom gewoehnlichen Waisen- oder Lehrlingsheim (dort war es 
schon arg genug) ueber das Landeserziehungsheim Eggenburg zur 
beruechtigten Bundeserziehungsanstalt Kaiser Ebersdorf mit der noch 
haerteren Aussenstelle Kirchberg.
Wer fluechtete, kam zur Strafe ins naechst schlimmere Heim. Wer einmal 
drinnen war, war auf der schiefen Bahn; wer vorher nicht kriminell 
war, wurde es in dieser Umgebung schnell. Vielen Jugendlichen halfen 
wir gegen ihre Eltern, beschuetzten sie vor der Polizei, verhandelten 
mit Jugendamt und Bewaehrungshilfe; Illegale wurden durch unser 
Eingreifen legalisiert. Pruegelerzieher prangerten wir in unseren 
Flugblaettern (Rubrik "Schwein der Woche") an. Am meisten stolz war 
ich auf eine Aktion, die ich "Romeo und Julia" nannte: Franz und 
Liesl, beide 16 Jahre alt, sie die Tochter eines Kriminalbeamten, 
Franz war drogenabhaengig gewesen, hatte es sich ihretwegen 
abgewoehnt -- aber ihr Vater war strikt gegen diese Beziehung und 
drohte beiden mit dem Erziehungsheim. Woraufhin sie untertauchten. 
Liesls Vater war kein Rechter, kein Nazi, sondern -- Kommunist. Was 
bedeutete das schon! Das Spiessertum war in dieser Partei so 
verbreitet wie ueberall. Und noch dazu -- bei diesem Beruf... "Tochter 
eines Kollegen entfuehrt!!!". Sieben Wochen lang versteckten wir das 
Liebespaar gegen Grosseinsaetze der gesamten Wiener Polizei.
Ich wechselte oft die Quartiere, in denen wir sie unterbrachten, 
haengte die Verfolger ab -- und verhandelte zugleich mit Liesls Vater, 
bis er einen Vertrag mit mir unterschrieb: dass sie nicht ins Heim 
kaemen und dass sie zusammenbleiben duerften. Josef Lauscher, 
Alt-Gemeinderat der KPOe, leistete mir als Vermittler gute Dienste 
dabei. Also fast ein Happy-end. Aber leider -- nur fast. Nach einigen 
Monaten wurde Franz rueckfaellig. Er nahm wieder Drogen. Liesl trennte 
sich von ihm. Drogen waren in unserer Gruppe absolut verpoent. Wir 
wussten, dass die Polizei Drogen in linke Gruppen einschleuste, um sie 
erst mental kaputt zu machen und sie dann zu kriminalisieren. Trotzdem 
war "Romeo und Julia" ein politischer Erfolg. Andere, aehnliche 
Aktionen folgten. Unsere Erfolge sprachen sich herum. Die Jugendlichen 
sahen, dass man sich wehren kann. Und dass es eine Gruppe gab, die auf 
ihrer Seite stand. So verlor die Familie, verlor die buergerliche 
Moral einen Grossteil ihrer Macht. Zumindest in Wien, in den Staedten 
war es so. Am Land hat es laenger gedauert. Aber auch dort ist die 
Entwicklung nicht mehr umkehrbar.
Verfolgung
1969 sass ich wegen eines Mediendelikts sechs Wochen lang in 
Untersuchungshaft im Wiener Landesgericht. In einem Flugblatt hatten 
wir Polizeibrutalitaeten auf dem "Twenshop", einer Verkaufsmesse fuer 
Jugendliche, kritisiert -- und nicht bedacht, dass hierzulande (wie 
Karl Kraus sagte) jede Ironie kursiv gedruckt werden muss, damit man 
sie als solche erkennt:
"Habt ihr noch immer nicht verstanden? Entweder ihr kommt gar nicht 
mehr zum Twenshop -- oder ihr kommt bewaffnet." Immerhin waren 
Jugendliche von der Polizei -- ohne ersichtlichen Grund -- brutal 
zusammengeschlagen worden. Und wir stellten es den Leuten ja frei, ob 
und wie sie kommen wollten.
Der Text war nicht von mir, aber ich zeichnete als "Sitzredakteur" 
verantwortlich. Jemand musste das tun, denn ohne Impressum waere das 
Flugblatt ja -- illegal gewesen. So legalistisch dachten wir 
tatsaechlich. Ich war kurz zuvor grossjaehrig geworden (mit 21 
damals), also uebernahm ich diesen Auftrag. Dafuer klagte mich die 
Staatsanwaltschaft wegen "Verleitung zum bewaffneten Aufstand" an.
Darauf konnten bis zu 20 Jahre stehen. Ein Haftbefehl wurde erlassen; 
ich stellte mich selbst den Behoerden, denn ich wollte einen 
politischen Prozess. Mein Untersuchungsrichter bei der ersten 
Einvernahme: "Eigentlich sind Sie mir ja ganz sympathisch. Als ich so 
jung war wie Sie, war ich auch noch ein Idealist. Ich war illegaler 
Nationalsozialist, in einer Zeit, wo noch fast niemand dabei war."
Natuerlich lehnte ich ihn wegen Befangenheit ab; er wurde aus meinem 
Verfahren entfernt. Solche Richter gab es viele in der zweiten, ach so 
demokratischen Republik. Der Staatsapparat war 1945 nicht gesaeubert 
worden. Es herrschte eine ungebrochene antidemokratische Tradition.
Nach Protesten, Demonstrationen und einer von Christian Broda, Herta 
Firnberg und Alfred Stroeer (SPOe) eingebrachten parlamentarischen 
Anfrage wurde ich auf freien Fuss gesetzt. Den Prozess vor einem 
Geschworenengericht nuetzte ich, um in meiner Verteidigungsrede unsere 
Ideen einer breiten Oeffentlichkeit vorzustellen.
Der Staatsanwalt, der mein ganzes politisches "Vorleben" zum Beweis 
meiner Gefaehrlichkeit ausbreitete, gab mir die Gelegenheit dazu. Ich 
antwortete Punkt fuer Punkt, Peter Michael Lingens sprach im "Kurier" 
von einem "abschliessenden Duell zwischen Staatsanwalt und 
Angeklagtem":
Das Medienecho war generell sehr schoen, die Geschworenen sprachen 
mich vom Aufstand einstimmig frei, verurteilten mich aber in der 
Eventualfrage ("Aufwiegelung zum Hasse oder zur Verachtung gegen die 
Staatsgewalt") mit 6:2 Stimmen zu einem Monat Arrest, der durch die 
Untersuchungshaft verbuesst war.
Nazischlaeger
Nicht lange danach hielten wir in Muerzzuschlag ein Sommerlager ab, 
besuchten die umliegenden Lehrwerkstaetten und prangerten Missstaende 
an: ungesetzliche Ueberstunden, Misshandlungen von Lehrlingen; gegen 
einen Fleischermeister, der seinen Lehrling mit einem Knochen 
geschlagen hatte, riefen wir die Kunden in Flugblaettern, die wir vor 
dem Geschaeft verteilten, zum Boykott auf.
Unsere Forderungen waren nicht besonders revolutionaer; wir verlangten 
eigentlich nur die Einhaltung der Gesetze. Aber unsere Methoden waren 
unkonventionell. Daher suchten die kleinen Unternehmer im Muerztal 
einen Beschuetzer. Sie fanden ihn in einer Stuetze der ehrenwerten 
Gesellschaft dieser Region: Norbert Burger, Geschaeftsmann in 
Kirchberg am Wechsel, Ex-Suedtirolterrorist und Moechtegern-"Fuehrer" 
der NDP.
Burger und etwa dreissig seiner Nazischlaeger ueberfielen unser Lager, 
als ich dort mit Helmut, einem Fluechtling aus Kaiser-Ebersdorf (dem 
beruechtigten Erziehungsheim), und einem Vierzehnjaehrigen Wache 
hielt, waehrend alle anderen von uns auf einer Versammlung waren.
Eine nicht ganz unkritische Situation. Die Nazis begannen schon, 
Benzinkanister auf unsere Zelte zu schuetten, um sie anzuzuenden. Ich 
schickte den 14jaehrigen mit seinem Fahrrad rasch weg, die anderen 
holen; derweil hielten Helmut und ich die Stellung, oder versuchten es 
jedenfalls.
Der Nazi vor mir war einen Kopf groesser als ich (oder kommt es mir 
nur in der Erinnerung so vor?), ich hatte auch keinerlei 
Kampfausbildung, aber ich wusste: Etwas musste jetzt geschehen, 
wenigstens symbolisch und um Zeit zu gewinnen. Daher schlug ich ihn 
von unten mit der Faust aufs Kinn. Er zeigte leider gar keine Wirkung, 
sondern starrte mich nur eine Weile mit hervorquellenden Augen an und 
bruellte dann: "Du Kommunistensau hast mi' g'haut!"
Er versetzte mir einen Fusstritt, traf mich aber nicht, denn ich 
rollte mich weg, waehrend Helmut wie ein Panther dazwischen sprang und 
gleich drei Nazis auf sich zog -- aber dann waren zum Glueck schon die 
unseren da, im Laufschritt ueber die Muerzbruecke, und es war 
interessant, wie rasch die Nazis auseinander liefen, als sie nur mehr 
gleich viele waren wie wir.
Sie bekamen die Pruegel, die sie verdienten, einige schwammen durch 
die Muerz davon. Burger selbst (den seine Leibwaechter im Stich 
liessen) und sechs andere nahmen wir gefangen und uebergaben sie der 
Gendarmerie -- die sie sofort freiliess und vor dem "Herr Doktor" 
salutierte.
Etwas anderes erwarteten wir auch nicht von den Behoerden dieses 
Staates. Immerhin -- die Niederlage des beruechtigten Suedtirolbombers 
in Muerzzuschlag war fuer die Kampfmoral der Nazis ein schwerer 
Schlag. Sie hielten sich dann fuer einige Zeit zurueck. Freilich --  
nicht allzu lange. Mehr davon ein anderes Mal. ###
Naechste Woche: Die Falle des Terrorismus (letzter Teil)
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