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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 6. Mai 2008; 17:39
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Glosse:

> Amstettner Lektionen

Warum es wichtig ist, die Betrachtungen von Amstetten nicht nur dem
Boulevard und der Rechten zu ueberlassen

Ich wollte diesen Kommentar der Medienberichterstattung ueber die
Tragoedie in Amstetten widmen. Nach den ersten beiden Absaetzen habe
ich abgebrochen. Ausser, dass dieser Fall zeigt, wie sehr die Logik
der Marktwirtschaft, immer hoehere Verkaufszahlen zu erzielen, wenn
moeglich auf Kosten der Konkurrenz, Medien nicht nur des Boulevards
dazu zwingt, die Persoenlichkeitsrechte der Opfer und des
Verdaechtigen mit Fuessen zu treten, waere nichts rausgekommen. Das
ist mir, vielleicht der eigenen Resignation mit den Kolleginnen und
Kollegen in- und auslaendischer Medien geschuldet, nur diese paar
Zeilen wert.

Mir ist wichtig, was in der Mainstream-Analyse nicht vorkommt. Ich
denke nicht, dass die Tragoedie von Amstetten etwas spezifisch
Oesterreichisches ist. Ich denke auch nicht, dass man es pauschal mit
einem Vorwurf an die Behoerden bewenden lassen kann. Ich denke,
Amstetten sollte als Chiffre gesehen werden fuer die Auswuechse einer
immer noch bin ins Mark patriachalen Gesellschaft, die immer noch mit
dem eigenen Unbewussten kaempft. Der Wunsch nach Macht: Nach dem
Ausleben gewaltbeladener sexueller Fantasien. Der Anspruch, ein "pater
familias" zu sein, der wie selbstverstaendlich die Reproduktionsorgane
seiner (weiblichen) Nachkommenschaft kontrollieren kann und darf. Der
wie selbstverstaendlich von der Umwelt hingenommene Anspruch, Raeume
schaffen zu duerfen, die sich jeglicher Kontrolle entziehen und ein
eigenes Reich darstellen. Eine Geisteshaltung, die nicht nur Josef F.
vertritt. Eine Geisteshaltung, deren Grundzuege in der Gesellschaft
zumindest geduldet werden. Nicht nur in Oesterreich. "My home is my
castle", wie der alte britische Spruch lautet, geht in die gleiche
Richtung. Wo ich schalte und walte, ist mein Herrschaftsbereich. Um
"Privatsphaere" geht es da nur sekundaer. Wenn ich meine Kinder
schlage (und dass Josef F. das ueber Jahrzehnte getan hat, war
offenbar im ganzen Umfeld bekannt), ist das meine Sache. Ein
Charakterfehler in den Augen vieler Mitbuerger, in den Augen der
meisten vermutlich nicht einmal das. Dass Josef F. ein Tyrann gewesen
ist, muss anhand der zahlreichen Aussagen in der Umgebung jeder
gewusst haben. Pech fuer die Kinder, aber was soll's. Dreinreden tun
wir ihm nicht, His home is his castle, und die Familie unterliegt
seiner Verfuegungsgewalt.

Erschuetternd ist, dass das auch die Behoerden nicht im mindesten
interessiert hat. Auch sie unterliegen der verzopften Logik, dass die
"Familie schon das beste fuer das Kind ist". Zitat aus der
ORF-Diskussionsrunde im Zentrum. "Verwandten-Adoptionen werden
prioritaer behandelt. Wir als Behoerden sind ja froh, wenn etwa ein
Grossvater ein Kind adoptiert und es nicht zur fremden Leuten muss".

Dass die "Pater Familias"-Philosophie derartige Auswuechse zeitigt,
konnte sich vermutlich kein annaehernd gesunder Mensch vorstellen.
Aber den drei Kindern, die "oben" aufgewachsen sind, haette man ein
Leben mit Pruegeln ersparen koennen.

Es ist kein Eingriff in die Privatsphaere, wenn die Jugendwohlfahrt
bei den erwachsenen Kindern nachfragt, ob sie misshandelt wurden. Es
geht um das Wohl eines Kindes, da ist genaueres Nachfragen wohl bitte
erlaubt. Nur muss man abgehen von der Vorstellung, dass die Familie
automatisch das Beste fuer ein Kind ist. Tausende Faelle von
Misshandlungen und Missbrauch jedes Jahr allein in Oesterreich
sprechen eine klare Sprache. In die Behoerdenschaedel ist diese
Erkenntnis noch nicht gedrungen. Wie auch, in ihrer Meinung wissen sie
sich einig, mit der Mehrheit der Menschen -- nicht nur in Oesterreich
sondern ueberall, wo es gleiche oder aehnliche Familienstrukturen
gibt.

Interessant, um es hoeflich zu formulieren, sind die
Loesungsvorschlaege, vor allem von rechts: Repression und Kontrolle.
Erhoehte Strafdrohungen sind die geringste Forderung. Von chemischer
Kastration bis zu einer oeffentlich einsehbaren Kartei fuer
Sexualstraftaeter ueberbieten sich die Rechts-Aussen-Parteien in ihren
Forderungen. Bringen wuerde keine einzige etwas: Statt Kinder zu
schuetzen, indem man auf qualifizierte Weise genauer hinsieht, werden
nur Sexualstraftaeter stigmatisiert. Wie internationale Erfahrungen
zeigen: Weniger Vergewaltigungen wird es wegen haerterer Repression
auch nicht geben. Einen Josef F. wird man nur verhindern koennen, wenn
man in jeden Atombunker einen Polizisten stellt.

Auch wenn meine Analyse platzbedingt verkuerzt und verzerrt ist -- sie
sollte ein Auftrag sein, oeffentlich Forderungen zu stellen. Etwa,
dass tyrannische Familienvaeter staerker gesellschaftlich geaechtet
werden muessen (tyrannische Muetter natuerlich auch). Dass Nachbarn
und Freunde aufschreien muessen, wenn sie mitbekommen, dass ein Kind
geschlagen wird. Dass Kinder so erzogen werden, dass sie selbst
Gewalterfahrungen artikulieren koennen. Dass Menschen, vor allem
Frauen, lernen, gewalttaetige Partner nicht zu akzeptieren, kurz: Die
Erziehung zum selbstbewussten, angstfreien, sexuell selbstbestimmten
Menschen ist notwendig. Das ist die Lektion, die uns Amstetten in
Erinnerung rufen sollte -- wenn wir schon unsere eigenen
Lebenserfahrungen und die taeglichen Berichte ueber Gewalt zuhause
vergessen haben sollten.

Das werden natuerlich die Rechten nie einfordern. Sie leben davon,
dass wir alle angstbehaftet sind. Forderungen nach einer Erziehung zum
Selbstbewusstsein kommen dieser Tage nur von einzelnen Experten, die
Politik (auch die vermeintlich linke) betreibt bestenfalls
Symptombehandlung. Ursachenanalyse und -bekaempfung kommen zu kurz.
Aber vielleicht koennte Amstetten zumindest in einer organisierten
Gegenoeffentlichkeit einen solchen Diskurs in Gang bringen, der ueber
diese hinausgeht. Nicht Sexualstraftaeter chemisch kastrieren und an
den Pranger stellen -- sondern Menschen dazu erziehen, dass sie nicht
Opfer werden, muss allgemeine Losung werden. Um das zu erreichen,
duerfen wir uns nur nicht zu gut sein, um solche Geschichten zu
diskutieren.
*Viktor Englisch*


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