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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 6. Mai 2008; 17:28
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Wien:
> Vom Betteln leben
Der Versuch einer Reportage ueber die Aermsten der Armen in Wien
Sabrina zieht ein paar Muenzen aus ihrem langen blauen Jeansrock. 
"Drei Euro und ein paar Muenzen", sagt sie und legt das Geld auf ihre 
Hand. Es ist drei Uhr nachmittags im Cafe Mis am Yppenplatz und 
Sabrina ist seit dem Morgen unterwegs auf der Suche nach Geld. "Einen 
Euro hab ich ausgegeben, damit ich mir etwas zu trinken kaufen kann" 
sagt die huebsche 23-jaehrige Romni in akzentfreiem Deutsch. Nur wenn 
man sie gut kennt, hoert man, dass es nicht ihre Muttersprache ist. 
"Nicht mehr?", frage ich ein wenig unglaeubig. "Nein, es gibt 
mittlerweile zu viele andere Bettler hier. Frueher war es ein bisschen 
mehr". Wobei mehr auch relativ ist. Seitdem ich Sabrina kenne, hat sie 
regelmaessig Probleme, die Miete fuer ihr Zimmer irgendwo in der 
Gegend zu zahlen. Das sind mittlerweile fast zwei Jahre. "Frueher", 
erzaehlt sie ein wenig angestrengt, "hab ich Karten gelegt oder aus 
der Hand gelesen. Aber auch das geht kaum mehr. Die Leute wollen nicht 
mehr". Nicht einmal mehr Resignation schwingt in der Stimme mit. Nur 
Muedigkeit. "Ich weiss nicht, wie lange ich das hier noch schaffe. 
Vielleicht gehe ich bald wieder nachhause".
Das Zuhause, vor dem die Frau vor fast sechs Jahren davon gelaufen 
ist. Sabrina kommt aus der Gegend von Belgrad, aus einer der vielen 
Roma-Siedlungen. Die "wohlhabenderen" haben dort gemauerte Huetten, 
die kaum zwei Meter hoch sind. Alte Autoreifen befestigen die 
Plastikplanen, die als Daecher dienen. Wer es nicht so gut hat, hat 
eine Huette aus Wellblech. Jede hat einen improvisierten Schornstein, 
vereinzelte Fernsehantennen und Satellitenschuesseln deuten darauf 
hin, dass es dort auch Strom gibt. Wie der dort hinkommt, sollte man 
lieber nicht fragen. Nicht, wenn man Angst vor Stromstoessen oder 
Kurzschluessen hat. Und man darf als gesichert annehmen, dass die 
nicht vorhandene Sicherheit der Leitungen nichts mit den 
Stromversorgern der Gegend zu tun hat. Dazwischen rosten Autos vor 
sich hin. Die meisten erweisen sich ueberraschenderweise als 
fahrtuechtig, auch wenn Dach und Scheiben fehlen, von der Kuehlerhaube 
ganz zu schweigen. Der Tank ist meist eine 2,5-Liter-Plastikflasche. 
In Belgrad zieht so ein Gefaehrt bestenfalls die Aufmerksamkeit der 
wenigen Touristen auf sich, im schlimmsten Fall die der Polizei. Sonst 
dreht sich niemand mehr danach um. Wer hier lebt, hat es nicht 
geschafft. Den hat der Goldene Westen wieder ausgespien oder er oder 
sie war zu alt oder zu jung, um zu gehen. Wer Glueck hat, und das sind 
die Leute mit den Ziegelsteinhuetten, hat irgendwen im Westen, der 
Geld schickt. So jemanden wie Sabrina. Wenn sie einmal Geld hat.
Sie ist kein Einzelfall, auch wenn ihre prekaere Situation eine 
beinahe privilegierte ist im Vergleich zu der, in der sich die meisten 
befinden, die hier vom Betteln leben. Meist sind es Roma, aus der nahe 
gelegenen Slowakei oder aus Rumaenien. Seitdem Rumaenien EU-Mitglied 
ist, erspart man sich wenigstens das Visum. Das macht es leichter, 
hierher zu kommen. In der Barnabitengasse stehen oder sitzen taeglich 
zwei Rumaenen, gegenueber der Kirche. Der Windfang macht die Situation 
etwas ertraeglicher. Der alte Mann kann noch stehen, zumindest auf 
einer Kruecke. Er murmelt fast unhoerbar "Bitte, bitte", streckt einem 
die Hand entgegen. Ab und zu versucht er in Zeichensprache eine 
Zigarette zu schnorren. Sie kann nicht mehr stehen, sitzt nur, wiegt 
ihren Koerper hin und her. Fast so, als wollte die alte Frau ein 
kleines Kind beruhigen, das sie in ihren Armen haelt. Statt des Kindes 
haelt sie einen kleinen Pastikteller. Er bleibt meist leer. Vielleicht 
hundert Meter weiter auf der Mariahilferstrasse sitzt eine Frau mit 
verkuerzten Beinen, deren nackte Fuesse in unnatuerlichem Winkel 
wegstehen. Tag fuer Tag, ob es kalt ist oder heiss. Ob ihre 
Verkrueppelung auf eine natuerliche Missbildung zurueckgeht oder 
Produkt einer "Behandlung" ist, die ihr mehr Mitleid und mehr Geld 
bringen soll, ist unklar. Auch wenn viele Roma zueinander in einem 
fuer unsere Verhaeltnisse erstaunlichen Ausmass solidarisch sind - 
auch in der clanmaessig strukturierten Romagesellschaft kann es brutal 
zugehen. Eine Romantisierung ist fehl am Platz, egal, ob sie die 
drueckende Armut kaschiert oder die Roma zu Idealmenschen erklaert. 
Das Betteln ist fuer die Betroffenen ein Beruf, ein Geschaeft. Kein 
sehr angenehmes, aber das, wovon man lebt. Das erfordert wie jeder 
andere Beruf Disziplin und Fertigkeiten. An denen man arbeitet, will 
man davon leben koennen.
"Schau dir die an. Betteln will sie, zum hack'ln is sie sich zu gut" 
sagt eine Matrone um die 60 zu ihrer Freundin, als beide an einer 
Bettlerin vorbeigehen. "Na, der gib i sicher nix", erwidert die 
andere. Pikiert schauen sie auf die Frau herab und gehen schnellen 
Schrittes weiter. "Die sitzt sicher nicht hier, weil's ihr Spass 
macht", sagt ein Passant, den die Unterhaltung zwischen den Frauen 
empoert hat. "Is immer noch angenehmer als was arbeiten. Ausserdem: 
Ich hab' g'rad gesehen, wie sie aus einem fetten Mercedes aussteigt. 
Die hat schon Geld, machen Sie sich keine Sorgen" zeigt sich eine der 
Matronen schnippisch. Sie hat graues Haar, traegt grosse, dicke 
Ohrringe aus Gold und ein teures Kostuem mit viel Schminke. Das 
Parfuem ist nicht gerade dezent, aber sicher nicht billig. "Wuerden 
Sie betteln?", fragt der etwa 30-Jaehrige die Frau. "Wieso I? I muass 
do net. Ausserdem, I wuerd arbeiten". Ob es daran liegen koennte, dass 
die Romni keine Arbeit hat, fragt der Mann zurueck. "Nein, die koennt' 
schon. Betteln kann's ja ah. Und wie g'sagt, ihr Mann kann sich einen 
fetten Mercedes leisten. Die hot's scho dick und will nur auf unsere 
Kosten leben". Der Mann schuettelt den Kopf, scheint sich kurz zu 
ueberlegen, ob er sich aufregen soll und zuckt mit den Schultern. Eine 
weitere Unterhaltung mit den Matronen erscheint ihm sinnlos. Er geht 
weiter und legt ein paar Muenzen in den Teller der Frau. Die Frauen 
schuetteln lachend den Kopf. Sie halten den Typen fuer dumm.
Roma, die vom Betteln leben, koennen sich nicht auf die Sympathie 
ihrer Mitmenschen verlassen. Zu abstossend ist fuer viele diese 
sichtbare Armut. Und die Maer von den teuren Autos haelt sich 
hartnaeckig. Sie gibt eine plausible Entschuldigung dafuer, nichts zu 
tun. Man will ja keine Ausbeutung foerdern. Nicht, dass es diese nicht 
geben wuerde. Manche Roma-Bettler arbeiten tatsaechlich fuer 
mafiaaehnliche Organisationen. Die meisten nicht. Sie sind 
selbstorganisiert. Wenn dort eine Frau mit einem Mercedes zu ihrem 
Arbeitsplatz gefahren wird (was weit seltener passiert als kolportiert 
wird), darf das nicht missverstanden werden. Der Mercedes ist meist so 
alt wie der eines Suedtiroler Freundes von mir. Und fuer Roma hat ein 
Auto eine andere Bedeutung als fuer die meisten Menschen hier. In 
einer Gesellschaft, in der sie immer noch staendig aus ihren Slums 
vertrieben werden koennen, hat nur Bedeutung, was man mitnehmen kann. 
Autos rangieren auf dieser Liste ganz oben. Autos mit Qualitaet 
sowieso.
Wie viele Roma in Wien vom Betteln leben, ist unklar. Von hunderten 
auszugehen erscheint kaum uebertrieben. Die fuer Begriffe der aermsten 
Osteuropaeer unglaublich reiche Stadt verspricht 
Verdienstmoeglichkeiten. Daheim haette man diese nicht. Durch Arbeit 
sowieso nicht. Die meisten Roma aus Osteuropa haben so gut wie keine 
Schulbildung und so gut wie keine Aussichten einen Arbeitsplatz zu 
finden. Sei es, dass die Gesellschaft offen diskriminiert, sei es, 
dass die mangelnde Bildung, ihrerseits Produkt jahrhundertelanger 
Diskriminierung, die Betroffenen aus kapitalistischer Sicht fuer den 
Arbeitsprozess untauglich macht.
Das bisschen, das die Leute hier verdienen, reicht kaum zum 
Ueberleben. Nur, wenn man irgendwelchen Loechern haust, manchmal auf 
der Strasse schlaeft, das Essen irgendwie organisiert. Vielleicht kann 
man dann was nachhause schicken. Der Monatsverdienst hier wird auf 
jeden Fall hoeher sein als der daheim. Manchmal mehr als ein 
Jahresgehalt. Auch das funktioniert nur, wenn man zueinanderhaelt. 
Organisierte Bettelei nennen das Kritiker. Die vage Definition trifft 
auf so gut wie jeden Rom und jede Romni zu, der oder die in Wien vom 
Betteln lebt. Das gibt der Polizei eine Handhabe um die sichtbaren 
Zeichen der Armut von den sauber zu haltenden Strassen zu befoerdern. 
Sie kommt ihrer Aufgabe, die Wiener Geschaeftsinhaber vor den 
Hungrigen zu schuetzen und ihren Geschaeftsgang sicherzustellen sehr 
effektiv nach. Hunderte Anzeigen gegen Roma liegen vor. Oft sind es 
mehr als 100 Anzeigen gegen eine einzelne Betroffene. Wenn sie in 
besonders noblen Gegenden bettelt, stoert sie das kitschig-harmonische 
Wienbild am meisten und wird entsprechend oft beamtshandelt, wie es so 
schoen im Buerokratenjargon heisst. Nur, die Strategie, die Armut aus 
Wien zu vertreiben, geht nicht auf. Auch bei repressivem Vorgehen 
sinkt die Zahl der "zu beamtshandelnden" in einem Graetzel bestenfalls 
fuer ein paar Stunden. Morgen werden es trotzdem nicht weniger als 
heute sein. Fuer die Polizisten frustrierend, fuer die Betroffenen 
laestig und entwuerdigend. "Was soll ich sonst tun", fragt etwa 
Sabrina, die gluecklicherweise noch nie mit der Polizei zu tun hatte. 
Aber von einer Strafe laesst sie sich auch nicht abschrecken. "Hab ich 
etwas zu verlieren?"
Die Stadtpolitik stellt auch keine ausreichenden Hilfsmassnahmen fuer 
die Betroffenen zur Verfuegung. Die meist nicht angemeldeten Roma 
entziehen sich jeder heimischen Behoerdenlogik, die ansonsten bei 
vielen Sozialfaellen zumindest ein Mindestmass an Hilfe bereit stellt. 
Die verschaerften Gesetze, die ab Juni gelten, duerften auch kaum 
hilfreich sein. Sie werden nur dafuer sorgen, dass es mehr Anzeigen 
gibt. Wenn etwa eine Romni ein Kind bei sich hat, wenn sie auf dem 
Gehsteig der Thaliastrasse hinter der Strassenbahnhaltestelle bei der 
Bank-Austria-Filiale Passanten um Geld bittet, wird sie eine 
Geldstrafe bekommen. Dass sie das abschrecken wird, darf bezweifelt 
werden. Die Strafe waere ohnehin nicht exekutierbar. Das weiss die 
Frau - sofern sie vom neuen Gesetz jemals etwas gehoert hat. Wenn 
doch, wir es keinen Unterschied machen. Wovon sollen die Frau und ihre 
Angehoerigen in der Heimat sonst leben? Dort halten noch immer 
Autoreifen Plastikplanen fest, die als Daecher dienen.
*Viktor Englisch*
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