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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 22. April 2008; 19:06
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Glosse:

> Fit und nett in die Diktatur

In Frankreich soll demnaechst ein Gesetz gegen "Anstiftung zur
Magersucht" verabschiedet werden. So sehr die Kritik am
Schlankheitsterror berechtigt ist -- da dieser nicht nur in der
Model-Branche immer haeufiger zu gesundheitsschaedigenden Auswirkungen
bis hin zum Tod fuehrt --, aber ist ein Strafgesetz da sinnvoll? Muss
eine total verrueckte gesellschaftliche Norm mit Gefaengnisdrohung
bekaempft werden? Und ist es da auch legitim, das Recht auf freie
Meinungsaeusserung einzuschraenken? Immerhin sollen damit ja nicht nur
Model-Manager, sondern auch Homepages, die Anorexie "verherrlichen"
kriminalisiert werden.

Besonders seltsam erscheint dieses Gesetz aber, wenn man bedenkt, dass
die UN-"Weltgesundheitsorganisation" WHO ihrerseits den Kampf gegen
die Fettleibigkeit angesagt hat: Der Body Mass Index laut WHO ist so
gestaltet, das schaetzungsweise 90% der Bevoelkerung zumindest Europas
und der USA als uebergewichtig eingestuft werden. Ich bin 1,72m gross
und wiege etwas ueber 80kg -- daher bin ich uebergewichtig. Mein
Idealgewicht laege laut BMI zwischen 55 und 74 kg. Einmal abgesehen
davon, dass die Pariser WHO-Niederlassung wohl als erste von
obgenanntem Gesetz betroffen waere (mit 55 kg bei 1,72m wuerde man bei
der kleinsten Bewegung von mir meine Knochen scheppern hoeren), wird
so eines klar: Egal, welches Gewicht ich habe, ich muesste mich
schlecht fuehlen, wuerde ich den gesammelten Autoritaeten folgen --
mit welchem Gewicht ich mich wohl fuehlen wuerde ohne jede Vorschrift,
interessiert niemanden. Denn das Gesetz gegen Anorexieverherrlichung,
die Vorstellungen der WHO und der Schlankheitsterror von Modelmachern
haben naemlich eins gemeinsam: Sie wissen alle ganz genau, wie
"schoene" oder "gesunde" Koerper auszusehen haben, und erheben ihre
Vorstellungen zur Norm.

Schlecht fuehlen muss ich mich auch, weil ich rauche und nicht nur
mich selbst (quasi als Sakrileg am Tempel meines Koerpers), sondern
auch meine Mitmenschen mit meinem Passivrauch vergifte und weil ich
saufe und meine Mitmenschen durch "Passivtrinken" schaedige -- im
Ernst, dieser Begriff, der 2002 noch als Satire im britischen "Daily
Telegraph" auftauchte, ist mittlerweile im angelsaechsischen Raum in
einem ganz ernsthaften Sinn gebraeuchlich. Da geht es beispielsweise
um betrunkene Autofahrer, die andere gefaehrden. Nicht das Auto toetet
den Passanten, nein, es ist der Alkohol! Auch die Zunahme an
haeuslicher Gewalt unter Alkoholeinfluss muss da herhalten. Die
inneren Konflikte, die latente Gewaltbereitschaft des Taeters, die
Frustration in einer immer brutaler werdenden Gesellschaft? Egal, der
Alkohol ist schuld, das ist die einfachste Loesung. Da kommt der
Popanz der "komasaufenden Jugendlichen" ganz recht!

Ueberhaupt: Wer muss denn Alkohol trinken? Wer muss denn rauchen? Man
kann doch auch so lustig sein! Aber bitte nicht zu laut!

Apropos laut: Es wundert mich, dass die Warnung vor
"Passivtelefonieren" noch nicht aufgetaucht ist -- denn das
Handyverbot in der Grazer Tramway ist genau das. Natuerlich will man
nicht immer die Liebesprobleme oder die Einkaufsliste der Sitznachbarn
mitanhoeren, aber muss man gleich jede auch noch so laeppische
Aergerlichkeit verbieten? Vor allem dann, wenn sie doch nur Ausdruck
von Lebendigkeit ist? Wenn ich dann noch das Jammern ueber die
Spassgesellschaft hoere...! Sehr witzig -- welcher Spass?

Das alles ist aber auch im Kontext zu sehen mit dem Ueberwachungswahn.
Meint da wer, dies sei an den Haaren herbeigeholt? Nunja, was haetten
wir denn da -- nur ein Auszug aus den Schlagzeilen der letzten Wochen:
Online-Durchsuchung, Videoueberwachung an Schulen, Fingerabdruecke im
Reisepass, jederzeitige Ortung durch die Polizei via Handy. George
Orwell kann man wirklich nur vorwerfen, dass er seinen Roman "1984"
nannte. Er haette ihn "2018" nennen sollen, denn wenn wir nicht
aufpassen, haben wir in zehn Jahren die Televisoren in unseren
Wohnungen und sind gechipt wie jetzt schon unsere Haustiere. Schutz
der Intimsphaere wird es dann nur fuer Spitzenpolitiker,
Generaldirektoren und Polizisten geben.

Das, so wird uns heute schon erklaert, dient nur unserem Schutz -- das
Recht, nicht ueberall gefilmt zu werden, ist genauso eine buergerliche
Freiheit wie das Recht, hie und da Spass zu haben, selbst wenn er
nicht ganz gesund sein sollte. Aber buergerliche Freiheit ist ein
abstraktes Gut, wir haben vergessen, wie wichtig es ist und dass es
auch erst einmal erkaempft werden musste. Und wir haben vergessen,
dass einmal gewonnene Freiheiten immer wieder aufs Neue erkaempft
werden muessen, wenn wir sie behalten wollen. Wir halten diese
Freiheiten fuer selbstverstaendlich und ganz langsam (in den letzten
Jahren nur ein wenig beschleunigt durch 9/11) kommen sie uns abhanden.
Vor zehn Jahren noch haetten wir das obligatorische Abgeben von
Fingerabdruecken beim Beantragen eines Passes noch als das
qualifiziert, was es tatsaechlich ist: Als faschistische Scheisse!
Heute regt uns das kaum mehr auf.

Dem Willen zur Freiheit steht uns als Gegner nicht nur unsere eigene
Faulheit gegenueber, sondern als Folge eines Paradigmenwechsels auch
die Vorstellung, dass die gesamte Gesellschaft wie ein preussisches
Waisenhaus im 19.Jahrhundert zu fuehren ist: Zucht und Ordnung zum
Wohle der Zoeglinge und wer beim Rauchen erwischt wird, wird bestraft.

Wir sind am besten Weg in eine Gesellschaft, die den
Horrorvorstellungen der Ueberwachung aus "1984" oder der
Praedestination wie in Huxleys "Brave New World" schon recht nahe
kommt. Auch Thomas Morus "Utopia" kommt einem da in den Sinn, das,
wenngleich als Positivbild verstanden, auch nichts anderes war als die
Vorstellung von einem autoritaeren Obrigkeitsstaat.

Doch am besten wurde das, was uns draeut, im 1993 entstandenen
Hollywood-Film "Demolition Man" beschrieben: Eine nette Gesellschaft
ohne Kriminalitaet, weil die totale Ueberwachung existiert, und in der
man Strafzettel fuer das Verwenden von Fluechen oder Faekalausdruecken
bekommt. Sex gibt es, um Ansteckungsgefahren zu vermeiden, nur mehr
virtuell, und Alkohol, Nikotin sowie fleischliche Nahrung sind genauso
verboten wie Rockmusik.

Der neue Faschismus kommt nicht von ein paar Trotteln, die mit
Hakenkreuzbinde herumlaufen -- die dienen hoechstens zur Ablenkung.
Der neue Faschismus will uns nur beschuetzen und wir, die wir in einer
Welt leben, in der auch in Mitteleuropa soziale Sicherheit immer
weniger vorhanden ist, greifen begierig nach diesem Schutzangebot und
lassen uns von unseren weisen Oberhaeuptern in den Schlaf singen.
Genau um das zu verdeutlichen, habe ich mit dem scheinbar harmlosen
Beispiel ueber die Gewichtsnormen meinen Text begonnen -- nur um uns
vor gesundheitlichen Gefahren zu beschuetzen, werden da unsere Koerper
zugerichtet. In einem anderen Kontext waere diese Angelegenheit
hoechstens aergerlich. Im Kontext aber einer immer rigider, da
aengstlicher werdenden Gesellschaft, die sich eine allmaechtige
Obrigkeit herbeisehnt, die alles regelt, um uns die perfekte Welt zu
schaffen, darf man schon damit beginnen, sich zu fuerchten.

In einer solchen Welt hat auch Spass keinen Platz. Denn der Spass,
wenn man spuert, dass man lebt, ist zutiefst subversiv. Da merkt das
Individuum, dass es eines ist, und dass es mehr gibt, als der gute
Geschmack und das gesunde Volksempfinden zulassen moechten -- und dass
ein Leben vor dem Tod vielleicht doch moeglich ist. Spass ist, wenn
dieses Wesen, Mensch geheissen, begreift, dass Leben mehr ist als
Unterhaltungskonsum ā la "panem et circenses", sondern dass man auch
selber mal laut werden muss -- auch nach 22 Uhr!

Dieser Spass soll uns verdorben werden. Wir sollen gut beschuetzte
Arbeitsameisen werden. Denn wenn wir jetzt nicht doch noch aufwachen,
werden wir uns im totalen Staat wiederfinden. Dann kommen die Zoepfe
wieder und die Spiessbuerger regieren. Dahin fuehrt der Weg. Ich
uebertreibe? Vielleicht! Vielleicht kann ich in 10 Jahren ueber meinen
heutigen Alarmismus lachen. Es ist zu hoffen.
*Bernhard Redl*


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