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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 15. April 2008; 19:06
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EU-Vertrag/Debatte:
> Der EU-Vertrag und die Todesstrafe
Um den EU-Vertrag ranken sich etliche Mythen, einer davon ist, dass 
mit dem EU-Vertrag wieder die Todesstrafe zugelassen oder sogar 
eingefuehrt wird. Die Quelle dieser Behauptung sind die 
"Erlaeuterungen" zum "Charta der Grundrechte", wo das in der Charta 
selbst angefuehrte Verbot relativiert wird.
Dazu ist vorweg einiges zu sagen: Der Grundrechtskatalog selbst ist in 
seiner Rechtsverbindlichkeit unklar, da er an zwei verschiedenen 
Stellen des Lissaboner Vertrags einmal als verbindlich und einmal als 
keinen neuen Rechtsbestand bildend bezeichnet wird; also eine 
Ueberpruefung grundrechtswidriger Akte durch den EuGH anhand dieses 
Katalogs nicht moeglich waere. Abgesehen davon bindet er 
wahrscheinlich nur die Institutionen der EU, weswegen Richtlinien 
resp. Gesetze der EU an diesem Katalog zu messen waeren, nicht aber 
nationalstaatliche Rechtsakte. Wobei wiederum diese Lesart des 
Vertrags auch nicht ganz unumstritten ist, weswegen der Katalog nicht 
von allen EU-Staaten angenommen worden ist.
Die "Erlaeuterungen" zum Grundrechtskatalog liegen in einer aehnlichen 
Grauzone und sind mit den Erlaeuterungen zu vergleichen, wie sie 
Beamtenentwuerfen zu oesterreichischen Gesetzen beiliegen. Beide sind 
nicht rechtsverbindlich, koennen aber im Sinne einer "historischen 
Interpretation" von einer juridischen Instanz als Entscheidungshilfe 
beigezogen werden.
Jene Kritiker, die den Grundrechtskatalog als Instrument zur 
Rehabilitierung der Todesstrafe ansehen, liegen aber dennoch auf alle 
Faelle ziemlich falsch. Sie beziehen sich auf folgende Formulierung 
aus dem Amtsblatt der Europaeischen Union C 303/17 aus 2007: "Eine 
Toetung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie 
durch eine Gewaltanwendung verursacht wird, die unbedingt erforderlich 
ist, um a) jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen; b) 
jemanden rechtmaessig festzunehmen oder jemanden, dem die Freiheit 
rechtmaessig entzogen ist, an der
Flucht zu hindern; c) einen Aufruhr oder Aufstand rechtmaessig 
niederzuschlagen". Ausserdem ist an der selben Stelle noch die 
Moeglichkeit der Todesstrafe in Kriegszeiten vorgesehen.
An sich ist die Kritik mehr als berechtigt, relativiert die Passage ja 
nicht nur die Abschaffung der Todesstrafe, sondern gewaehrt auch die 
Moeglichkeit, den Verfolgungswillen des Staates hoeher zu stellen als 
das Leben eines Menschen (cif. b) und dass sich der Staat mit 
toedlichen Waffen gegen jeden, nicht einmal naeher definierten Unmut 
aus dem Volk wehren darf (cif. c) -- fuer Staaten, die sich selber 
Demokratien nennen, aeusserst bedenklich.
Nur: Diese Formulierungen waren bisher schon ueberall in der EU 
Verfassungsrecht, sind sie doch wortwoertlich dem 6.Zusatzprotokoll 
(ZP) zur Europaeischen Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1983 
entnommen und dieser Europarats-Vertrag wurde von allen Staaten der 
heutigen EU ratifiziert. Dieses 6.ZP war ein Meilenstein in der 
Geschichte der Menschenrechte, da damit das Verbot der Todesstrafe 
erstmals fuer den gesamten Bereich des Europarats ausgesprochen worden 
war. Das war damals nicht so selbstverstaendlich, denn immerhin hatte 
beispielsweise Frankreich erst 1981 die Todesstrafe abgeschafft.
Allerdings enthielt das ZP auch obzitierte Formulierungen -- wohl als 
Zugestaendnis an Staaten, die ein erhoehtes Beduerfnis an Ausuebung 
physischer Gewalt gegen ihre Untertanen hatten. Denn selbst dieses 
laue Verbot der Todesstrafe war fuer einige Europaratsmitglieder zu 
viel. So ratifizierte die Tuerkei erst zwanzig Jahre nach den ersten 
Unterzeichnerstaaten -- auf Druck der EU -- das 6.ZP. Russland hat es 
bis heute nicht in seinen Rechtsbestand aufgenommen.
Wie die gesamte EMRK ist dieses ZP allerdings nur eine 
Grundrechtsminimalvariante und bindet die nationalstaatlichen 
Gesetzgeber keineswegs, die Legalitaet der Toetung durch Staatsorgane 
nicht weiter einzuschraenken -- genausowenig, wie dies die 
Erlaeuterungen zum EU-Vertrag tun.
Von einer Wiedereinfuehrung der Todesstrafe durch den Vertrag kann 
also nicht die Rede sein. Man kann es der EU aber ankreiden, dass sie 
in diesem Punkt die historische Chance verpasst hat, diese vor einem 
Vierteljahrhundert entstandenen Formulierungen nicht im Sinne eines 
modernen Menschenrechtsstandards anzupassen. Dass sie das nicht getan 
hat, ist im mildesten Fall als schweres Versaeumnis zu werten. Es ist 
aber durchaus auch denkbar, dass sich in den Regierungen in diesen 25 
Jahren die Vorstellungen ueber ein staatliches Toetungsrecht nicht um 
ein Jota gewandelt hat.
*Bernhard Redl*
Erlaeuterungen zur Charta der Grundrechte:
http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/oj/2007/c_303/c_30320071214de00170035.pdf
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