**********************************************************
akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 15. April 2008; 19:06
**********************************************************

EU-Vertrag/Debatte:

> Der EU-Vertrag und die Todesstrafe

Um den EU-Vertrag ranken sich etliche Mythen, einer davon ist, dass
mit dem EU-Vertrag wieder die Todesstrafe zugelassen oder sogar
eingefuehrt wird. Die Quelle dieser Behauptung sind die
"Erlaeuterungen" zum "Charta der Grundrechte", wo das in der Charta
selbst angefuehrte Verbot relativiert wird.

Dazu ist vorweg einiges zu sagen: Der Grundrechtskatalog selbst ist in
seiner Rechtsverbindlichkeit unklar, da er an zwei verschiedenen
Stellen des Lissaboner Vertrags einmal als verbindlich und einmal als
keinen neuen Rechtsbestand bildend bezeichnet wird; also eine
Ueberpruefung grundrechtswidriger Akte durch den EuGH anhand dieses
Katalogs nicht moeglich waere. Abgesehen davon bindet er
wahrscheinlich nur die Institutionen der EU, weswegen Richtlinien
resp. Gesetze der EU an diesem Katalog zu messen waeren, nicht aber
nationalstaatliche Rechtsakte. Wobei wiederum diese Lesart des
Vertrags auch nicht ganz unumstritten ist, weswegen der Katalog nicht
von allen EU-Staaten angenommen worden ist.

Die "Erlaeuterungen" zum Grundrechtskatalog liegen in einer aehnlichen
Grauzone und sind mit den Erlaeuterungen zu vergleichen, wie sie
Beamtenentwuerfen zu oesterreichischen Gesetzen beiliegen. Beide sind
nicht rechtsverbindlich, koennen aber im Sinne einer "historischen
Interpretation" von einer juridischen Instanz als Entscheidungshilfe
beigezogen werden.

Jene Kritiker, die den Grundrechtskatalog als Instrument zur
Rehabilitierung der Todesstrafe ansehen, liegen aber dennoch auf alle
Faelle ziemlich falsch. Sie beziehen sich auf folgende Formulierung
aus dem Amtsblatt der Europaeischen Union C 303/17 aus 2007: "Eine
Toetung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie
durch eine Gewaltanwendung verursacht wird, die unbedingt erforderlich
ist, um a) jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen; b)
jemanden rechtmaessig festzunehmen oder jemanden, dem die Freiheit
rechtmaessig entzogen ist, an der

Flucht zu hindern; c) einen Aufruhr oder Aufstand rechtmaessig
niederzuschlagen". Ausserdem ist an der selben Stelle noch die
Moeglichkeit der Todesstrafe in Kriegszeiten vorgesehen.

An sich ist die Kritik mehr als berechtigt, relativiert die Passage ja
nicht nur die Abschaffung der Todesstrafe, sondern gewaehrt auch die
Moeglichkeit, den Verfolgungswillen des Staates hoeher zu stellen als
das Leben eines Menschen (cif. b) und dass sich der Staat mit
toedlichen Waffen gegen jeden, nicht einmal naeher definierten Unmut
aus dem Volk wehren darf (cif. c) -- fuer Staaten, die sich selber
Demokratien nennen, aeusserst bedenklich.

Nur: Diese Formulierungen waren bisher schon ueberall in der EU
Verfassungsrecht, sind sie doch wortwoertlich dem 6.Zusatzprotokoll
(ZP) zur Europaeischen Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1983
entnommen und dieser Europarats-Vertrag wurde von allen Staaten der
heutigen EU ratifiziert. Dieses 6.ZP war ein Meilenstein in der
Geschichte der Menschenrechte, da damit das Verbot der Todesstrafe
erstmals fuer den gesamten Bereich des Europarats ausgesprochen worden
war. Das war damals nicht so selbstverstaendlich, denn immerhin hatte
beispielsweise Frankreich erst 1981 die Todesstrafe abgeschafft.

Allerdings enthielt das ZP auch obzitierte Formulierungen -- wohl als
Zugestaendnis an Staaten, die ein erhoehtes Beduerfnis an Ausuebung
physischer Gewalt gegen ihre Untertanen hatten. Denn selbst dieses
laue Verbot der Todesstrafe war fuer einige Europaratsmitglieder zu
viel. So ratifizierte die Tuerkei erst zwanzig Jahre nach den ersten
Unterzeichnerstaaten -- auf Druck der EU -- das 6.ZP. Russland hat es
bis heute nicht in seinen Rechtsbestand aufgenommen.

Wie die gesamte EMRK ist dieses ZP allerdings nur eine
Grundrechtsminimalvariante und bindet die nationalstaatlichen
Gesetzgeber keineswegs, die Legalitaet der Toetung durch Staatsorgane
nicht weiter einzuschraenken -- genausowenig, wie dies die
Erlaeuterungen zum EU-Vertrag tun.

Von einer Wiedereinfuehrung der Todesstrafe durch den Vertrag kann
also nicht die Rede sein. Man kann es der EU aber ankreiden, dass sie
in diesem Punkt die historische Chance verpasst hat, diese vor einem
Vierteljahrhundert entstandenen Formulierungen nicht im Sinne eines
modernen Menschenrechtsstandards anzupassen. Dass sie das nicht getan
hat, ist im mildesten Fall als schweres Versaeumnis zu werten. Es ist
aber durchaus auch denkbar, dass sich in den Regierungen in diesen 25
Jahren die Vorstellungen ueber ein staatliches Toetungsrecht nicht um
ein Jota gewandelt hat.
*Bernhard Redl*

Erlaeuterungen zur Charta der Grundrechte:
http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/oj/2007/c_303/c_30320071214de00170035.pdf



***************************************************
Der akin-pd ist die elektronische Teilwiedergabe der
nichtkommerziellen Wiener Wochenzeitung 'akin'. Texte im akin-pd
muessen aber nicht wortidentisch mit den in der Papierausgabe
veroeffentlichten sein. Nachdruck von Eigenbeitraegen mit
Quellenangabe erbeten. Namentlich gezeichnete Beitraege stehen in der
Verantwortung der VerfasserInnen. Ein Nachdruck von Texten mit anderem
Copyright als dem unseren sagt nichts ueber eine anderweitige
Verfuegungsberechtigung aus. Der akin-pd wird nur als Abonnement
verschickt. Wer versehentlich in den Verteiler geraten ist, kann den
akin-pd per formlosen Mail an akin.buero{AT}gmx.at abbestellen.

*************************************************
'akin - aktuelle informationen'
a-1170 wien, Lobenhauerngasse 35/2
vox: ++43/1/535-62-00
(anrufbeantworter, unberechenbare buerozeiten)
http://akin.mediaweb.at
akin.buero{AT}gmx.at
Bankverbindung lautend auf: föj/BfS,
Bank Austria, BLZ 12000,
223-102-976/00, Zweck: akin