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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 18. Maerz 2008; 18:31
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Zeitgeschichte:

> Die Aufrechten

Die Aufrechten sind immer eine Minderheit. Jedenfalls - in den harten
Zeiten. Vor siebzig Jahren war keiner gezwungen, seines Nachbarn Hab
und Gut zu pluendern. Aber er "durfte" es tun, wenn der Nachbar ein
"Jud'" war. Nur wenige leisteten Widerstand. Nicht die Kirchen; die
Bischoefe begruessten den Anschluss. Nicht die Sozialdemokraten; Karl
Renner stimmte freudig mit "Ja". Und schon gar nicht die
Austrofaschisten, die Zerstoerer der Demokratie.

Es gab Widerstand in Oesterreich. Mein Vater Laurenz Genner, vor 1934
Nationalratsabgeordneter der SPOe, wurde 1938 Kommunist. Und mit ihm
tausende fruehere Sozialdemokraten, die die Schande nicht ertragen
wollten. Er wusste zwar von den Moskauer Prozessen und lehnte sie ab;
aber die KPOe war die einzige Partei, die 1938 zum Kampf gegen die
Nazis aufrief. Mein Vater hat ihr - trotz Enttaeuschungen und
Konflikten - bis 1956 gedient; nach der Niederschlagung des
ungarischen Aufstands trat er (wie viele andere) aus.

Der Widerstand gegen die Nazis war schwach. Aber es gab, immerhin, die
Akten des Dokumentationsarchivs zeigen es, in fast jedem groesseren
Betrieb in Wien eine illegale Zelle, die versuchte, die
Ruestungsproduktion zu sabotieren. Mit ohnmaechtigen Mitteln; aber
jede gelockerte Schraube, jeder Schaden an einem fuer die Front
bestimmten Motor war ein kleiner - und doch so wichtiger - Beitrag zur
Niederlage des Naziregimes.

Als die Zelle im Siemens-Werk Leopoldau aufflog, verraten von Spitzeln
der Gestapo, schrieb der Staatsanwalt empoert: Die Angeklagten haetten
"viele Jahre lang das Elend der Arbeitslosigkeit gespuert" und erst,
"als der Nationalsozialismus auch in den Alpen- und Donaugauen die
Fuehrung uebernommen hatte", wieder "sichere Stellungen in ihrem
Berufe" gefunden. "Trotzdem haben sie sich in ihrem Betriebe
kommunistisch gegen das Reich betaetigt!!!"

Einige Siemens-Arbeiter wurden hingerichtet, andere verschwanden
hinter Gittern. Der Widerstand schlug zurueck. Die "Rote Front" (so
hiess die illegale Zeitung, die mein Vater in Wien herausgab) schrieb
im Juli 1942, dass "wir vier von den Siemensspitzeln bereits kennen.
Ueber diese Lumpen ist das Urteil schon gesprochen."

"So sehr einem das widersprechen mag, und so sehr ich in
Friedenszeiten gegen die Todesstrafe bin", sagte mein Vater - "im
Kampf gegen die Gestapo durften wir auch vor Hinrichtungen nicht
zurueckschrecken."

In seiner Gruppe gab es auch eine "U-Boot-Referentin", Doris Brehm,
deren Aufgabe es war, geheime Unterkuenfte fuer Juden, Deserteure und
andere "Unterseeboote" zu organisieren. "Es gab private Villen",
schrieb sie 1945, "in deren Kellern Menschen wohnten, die nie das
Tageslicht sahen. Es gab Schrebergartenhuetten, wo Familien im
Dachgeschoss hausten und sich kaum ruehren konnten, damit kein Nachbar
Verdacht schoepfte."

Nur wenige gingen das Risiko ein, Verfolgten zu helfen. Der Widerstand
war ohnmaechtig im Vergleich zur faschistischen Maschine, die das Land
beherrschte. Aber es gab ihn, er war moeglich, er wird auch in Zukunft
moeglich sein.

Die Widerstandskaempfer hofften auf ein anderes, ein besseres
Oesterreich. Sie wurden nach der Befreiung bitter enttaeuscht. Darum
ist ihr Kampf nicht zu Ende. Auch heute nicht.
*Michael Genner*

*

Literatur:

Michael Genner, "Mein Vater Laurenz Genner. Ein Sozialist im Dorf",
Veroeffentlichung des Ludwig Boltzmann Instituts fuer Geschichte der
Arbeiterbewegung, Europa-Verlag, Wien 1979.

Claudia Erdheim, "Laengst nicht mehr koscher. Die Geschichte einer
Familie", Czernin-Verlag, Wien 2006.

Biographische Daten:
Laurenz Genner (1894 - 1962).
1917 Journalist bei der "Arbeiter-Zeitung"
1925 Mitarbeit am "Sozialdemokratischen Agrarprogramm"
1925-1934 Aufbau "roter Bauerngruppen" im Waldviertel
1932-1934 Abgeordneter zum Nationalrat
1934 Verhaftung
1934-1938 illegale Arbeit fuer die "Revolutionaeren Sozialisten"
1938 Uebertritt zur KPOe
1938-1940 wegen "Beihilfe zum Hochverrat" inhaftiert
1942 Herausgabe der illegalen Zeitschrift "Die Rote Front" in Wien
1944 neuerliche Verhaftung nach dem 20. Juli, Selbstmordversuch,
Flucht
1945 Mitglied der Provisorischen Regierung
1945-1954 Landtagsabgeordneter und Landesrat in Niederoesterreich
1947 Organisator von Landbesetzungen im Marchfeld
1949 Landbesetzung und Gruendung einer Genossenschaft in Sommerein
1954 von der KPOe-Fuehrung kaltgestellt
1957 Austritt aus der KPOe.


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