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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 4. Maerz 2008; 19:21
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EU/Recht:

> Der Blankoscheck von 1994

Vier Verfassungsrechtler stritten coram publico ueber die Europaeische
Union

Willibald Pahrs Schlusswort bei der Diskussions-Veranstaltung der
Initiative "Rettet Oesterreich" letzten Mittwoch fasste den Abend
treffend zusammen: "Es waere mir lieber gewesen, haetten wir uns mehr
dem offiziellen Thema 'Der EU-Vertrag - Harmlose Reform oder Ende der
Freiheit' gewidmet." Da konnte man ihm nur recht geben, denn eine
differenzierte Betrachtung des EU-Vertrags aus juristischer Sicht war
an diesem Abend nicht moeglich; es war mehr eine Debatte ueber die EU
in ihrer Gesamtheit und die Bedeutung der oesterreichischen
Neutralitaet.

Dabei waere der Festsaal im Justizpalast mit seinem streng
konservativen Ambiente durchaus fuer eine trockene Debatte geeignet
gewesen. Aber die Strenge des Orts macht noch keine nuechterne
Debatte. Konservativ allerdings auch das Publikum: Vorne vor allem
aeltere Semester, aufgetakelt fast wie fuer einen Opernbesuch. Die
Stimmung in den vorderen Reihen ist irgendwo zwischen Doeblinger
Regimentern und Schlagenden Burschenschaftern. Sogar John Gudenus ist
hier.

Weiter hinten finden sich dann mehr Pullover und Jeans -- die
Zuspaetgekommenen und die, die nicht unbedingt in der ersten Reihe
sitzen wollen. Mir persoenlich bekannte Gesichter sehe ich hier gerade
mal zwei -- kein Wunder, eine Initiative mit dem Namen "Rettet
Oesterreich" zieht dezidierte Linke nicht unbedingt magnetisch an.

Das Podium war wohl auch nicht nach jedermanns resp. -fraus Geschmack:
Fuenf arrivierte Maenner mit einem Altersdurchschnitt jenseits der 60.
Dennoch versprach die Diskussion nicht uninteressant zu werden, gerade
weil es eben kein linkes Podium war, denn neben dem Diskussionsleiter
Karl Nowak sassen da vier verfassungsrechtliche Kapazunder, die
eindeutig zum Establishment gehoeren und die nicht so leicht zu
ignorieren sind wie unsereiner.

In dubio

Der Juengste der Hochgelehrten, Adrian Eugen Hollaender, beginnt mit
prinzipiellen Worten zum Stellenwert der Neutralitaet: Diese werde von
manchen Verfassungsrechtlern als "Superbaustein" der Verfassung
betrachtet. Mit dem EU-Beitritt waere die Rede vom "integrationsfesten
Verfassungskern" gewesen. Mit der Volksabstimmung waeren die
"Grundprinzipien der Verfassung nicht beseitigt, sondern modifiziert"
worden. Bei einer weiteren Modifizierung waere demnach wieder eine
Volksabstimmung noetig. Und Hollaender zitiert seinen Sitznachbarn
Theo Oehlinger: "Eine Aenderung der Gruendungsvertraege
einschliesslich des Beitrittsvertrags ist neuerlich an den
Grundprinzipien zu messen und gegebenenfalls einer Volksabstimmung zu
unterziehen". Es stelle sich nur die Frage, ob das fuer den eu-vertrag
gelte -- speziell in der Frage der Neutralitaet. Aber auch wenn das
fraglich sei, meint Hollaender: "Was wir fuer das Straftrecht haben
(in dubio pro reo), sollten wir auch im Staatsrecht haben: in dubio
pro democracia!"

Willibald Pahr, nicht nur ehemaliger Aussenminister, sondern davor
auch Leiter des Verfassungsdienstes, sieht das alles sehr relativ: Das
Neutralitaetsbekenntnis im Neutralitaetsgesetz sei "mehr eine
politische als eine juristische Angelegenheit". Deswegen sei ja --
entgegen den sonstigen legistischen Ueblichkeiten -- auch der Zweck
des Gesetzes (zur Behauptung der Unabhaengigkeit; Art 1 Abs. 1
NeutralitaetsG) im Gesetz selbst angefuehrt. Da sich die geopolitische
Lage geaendert habe und die bislang geuebte Praxis der
oesterreichischen Neutralitaet daher nicht mehr dem Zweck entspraeche,
muesse man diese anpassen. Die oesterreichische Neutralitaet sei
"daher nichts Statisches, sondern etwas Dynamisches".

Ins gleiche Horn stoesst Theo Oehlinger: "Die immerwaehrende
Neutralitaet hat ein Ablaufdatum" nach Ende des Ost-West-Konflikts.
Denn erst mit dem Ende dieses Konflikts waere ein Beitritt zur EU
moeglich gewesen. Schliesslich schreibe die EU bereits in ihrer
Gruendungsakte von Maastricht "das Ziel einer kuenftigen gemeinsamen
Verteidigung" fest. Und Oesterreich verpflichtete sich mit der
Volksabstimmung "an der gemeisamen Aussen- und Sicherheitspolitik
vollstaendig und vorbehaltlos" teilzunehmen: "Wir sind mit dem
Beitritt zur Union im Vollsinn des Wortes kein neutraler Staat mehr".

Restneutralitaet

Der Reformvertrag aber beeintraechtige kaum die oesterreichische
"Restneutralitaet". Der Vertrag von Amsterdam mit seinen "sogenannten
Petersberg-Aufgaben, also militaerischen einsaetzen in drittlaendern,
euphemistisch in der sprache der politik ´friedensschaffenden
massnahmen´ genannt" waere ein viel staerkerer Einschnitt gewesen als
der Reformvertrag. Dieser sei diesbezueglich allerdings etwas
widerspruechlich. Einmal hiesse es, "dass die Sicherheitspolitik in
die Kompetenz der Mitgliedsstaaten falle, auf der anderen Seite werden
die Petersberg-Aufgaben ausgedehnt auch auf Terrorbekaempung in
Drittlaendern". Aber, und dies sei neu, die EU binde sich jetzt an die
Grundsaetze der Vereinten Nationen. Allerdings gilt auch: Mit dem
Reformvertrag verpflichteten "sich die Mitglieder, einem Mitgliedstaat
der angegriffen wird, Beistand zu leisten". Und als naechster Satz
"steht wortwoertlich: dies laesst den besondern Charakter der
Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedsstaaten
unberuehrt". Damit seien auch die Neutralen gemeint. Das sei die
sogenannte "irische Klausel" bereits zum Amsterdamer Vertrag, weil
Irland auf so eine Klausel bestanden hatte, um dem Vertrag zustimmen
zu koennen. Im Reformvertrag sei jetzt auf alle Faelle "die
Neutralitaet besser geschuetzt, als sie bisher war".

Hans Klecatsky zitiert daraufhin aus einem Artikel des Linzer
Voelkerrechtlers Manfred Rotter, wonach der EU-Vertrag die
oesterreichische Neutralitaet derogiere, also aufhebe - soweit gibt
Klecatsky Rotter recht. Doch dann zitiert Klecatsky weiter, dass
"daraus keine verfassungsrechtlichen Probleme erwachsen, weil das
Neutralitaetsgesetz nicht zu den staatsfundamentalen Normen zu
zaehlen" sei. Und jetzt hebt Klecatsky seine Stimme ganz gewaltig:
"Das ist falsch. Ich beziehe mich zwar auf den Rotter, aber dieses
Satz ist falsch!" und haut mit der Faust mehrmals auf den Tisch, mit
einer Energie und Entschiedenheit, die man vom 87jaehrigen Doyen des
oesterreichischen Verfassungsrechts nicht erwartet haette. Mit
patriotischer Verve argumentiert er: "Das Neutralitaetsgesetz hat die
Souveraenitaet wieder hergestellt - deswegen haben wir ja am
26.Oktober Nationalfeiertag". Damit sei das Gesetz noch vor den
eigentlichen Verfassungsprinzipien Grundlage des oesterreichischen
Staates.

Die Relativierung seines juengeren Kollegen treibt ihn auf die Palme:
"Immerwaehrend, das sagt der Oehlinger, des is nix. Ich sag: Das ist
wohl was!" Die oesterreichische Neutralitaet nach Schweizer Muster sei
eben eine immerwaehrende: "Das ist ewig!" Wollte man sie abschaffen,
waere eine Volksabstimmung noetig.

Bei den harschen Worten seines alten Mentors bricht Oehlinger dann
doch ein bisserl ein: Ja, die Neutralitaet sei die Fundamentalnorm der
oesterreichischen Verfassung, korrigiert er sich ploetzlich. "Sie kann
daher nur mit Volksabstimmung beseitigt werden." -- Tosender Applaus
und Bravo-Rufe sind die Folge.

Blankoscheck

Moderator Karl Nowak will von der Neutralitaetsdiskussion ein wenig
wegkommen und beschaeftigt sich mit der Entwicklung weg vom Vetorecht
im Rat, hin zu immer mehr mehrheitsrechtlich zu entscheidenden
Politikbereichen. Vieles habe sich in der EU seit der Abstimmung
geaendert. Er fragt Oehlinger: "Haben die Oesterreicher 1994 einen
Blankoscheck unterschrieben, ueber all das, was sich jetzt in der EU
erst entwickelt?"

Der Angesprochene meint dazu, der Reformvertrag bringe zwar viele
Veraenderungen, aber dies sei nur "eine Weiterentwicklung dessen, was
jetzt schon im EU-Vertrag steht". Aber das seien Entwicklungen, die
die EU nicht fundamental veraendern. Und damit werde die
oesterreichische Bundesverfassung zwar veraendert, aber ebenfalls
nicht fundamental veraendert: "Oesterreich bleibt ein demokratischer
Rechtsstaat". Diese Meldung Oehlingers fuehrt dazu, dass sich im
Publikum spottende Bemerkungen und Gelaechter gegenseitig zu
uebertoenen versuchen. Oehlinger hat dafuer kein Verstaendnis: "Ich
moechte wissen, warum das nicht so ist, aus einem Lachen kann ich kein
Argument entnehmen."

Mit amikalem Tonfall treibt allerdings Pahr die Diskussion auf die
Spitze: Im Wort "Blankoscheck" sei schon etwas Wahres drinnen. Denn
Oesterreich habe sich zur EU bekannt und im alten EU-Vertrag stuende
das ja schon alles drinnen, wie eben zum Beispiel das
Mehrstimmigkeitsprinzip. Aber wenn er auch die Auffassung teile, dass
eine Volksabstimmung rechtlich nicht notwendig sei, so meine er doch,
dass sie "aus politischen Gruenden sehr zweckmaessig waere" -- auch
deswegen, damit man sich ueberhaupt einmal serioes damit beschaeftigt
und weiss, was drinnen steht.

Ob man das allerdings ueberhaupt wissen koenne, bezweifelt ein Mann
aus dem Publikum. Er meint, der Vertrag waere bewusst nach dem Motto
"aus jedem Dorf ein Hund" gestaltet, da koenne sich jeder aussuchen,
was er wolle: "Und ich glaub, das ist bewusst so gemacht."

Die Wahrheit

Ebenfalls aus dem Publikum kommt die Frage an Oehlinger, ob er denn
den Eindruck gehabt haette, dass die Politik 1994 dem Volk die ganze
Wahrheit gesagt habe.

Oehlinger meint darauf, er haette damals schriftlich gegen die
Informationspolitik der Regierung protestiert. "Es gab keine objektive
Informationen, persoenlich glaube ich aber trotzdem, dass es eine gute
Entscheidung war."

Klecatsky verweist dabei mit bitterem Laecheln auf die diesbezuegliche
Anfechtung der Volksabstimmung vor dem VfGH: Dieser habe gesagt, dass
die Regierung nicht verpflichtet gewesen sei, zu informieren,
lediglich Desinformation waere ihr untersagt gewesen: "Die Frage ist
nur, wo die Grenze zwischen Nicht-Information und Desinformation
liegt."

Und Klecatsky legt ein weiteres Argument nach, warum eine
Volksabstimmung noetig waere: Naemlich weil sich die EU mit dem
Reformvertrag selbst eine Rechtspersoenlichkeit zugesteht: "Die
Rechtspersoenlichkeit macht aus einem Buendel Rechtsnormen etwas ganz
anderes. Dem haben wir nicht zugestimmt."

Und wenn er schon im Schimpfen ist, bleibt er gleich dabei: "Und jetzt
auch noch diese Verfassungsorgie!" Er meint damit das letzte
Riesenpaket zur Aenderung der oesterreichischen Verfassung, das so
verschiedene Dinge wie das Entsorgen obsolet gewordener Normen, die
Einfuehrung des Asylgerichtshofs und eine Reihe von EU-Anpassungen
enthielt und das kuerzlich durchs Parlament gepaukt worden war.
Besonders regt Klecatsky auf die Neuformulierung des Artikel 50 B-VG
und die Interpretation durch die Bundesregierung. Das stellt sich ihm
so dar: "In Hinkunft gibt es innerhalb der Europaeischen Union keine
verfassungsaendernden Vertraege mehr" -- weil die Politik sie als
solche einfach nicht mehr ansehe und daher auch keine formalen
Verfassungsaenderungen mehr noetig waeren.

Diesbezueglich assistiert Hollaender:"Wo ist das Ende? Wer
entscheidet, was noch eine einfache Weiterentwicklung ist, und was
nicht?" Schliesslich habe der EuGH prinzipiell erklaert, EU-Recht
breche nationales Recht. Was aber nationale Gerichte wie der deutsche
Bundesverfassungsgerichtshof mit seinen "Solange-Beschluessen" nicht
ganz so saehen. Denn das deutsche Hoechstgericht sei sehr wohl der
Meinung, dass die Verfassungsgrundmauern Deutschlands nicht so einfach
auszuhebeln seien.

Letzte Worte

Das Podium ist erschoepft. Die Veranstaltung geht dem Ende zu.
Oehlinger wuenscht lakonisch in seinem Abschlusswort -- in Bezug auf
das ihm nur wenig zugetan gewesene Publikum -- einfach nur "dieser
machtvollen Bewegung viel Erfolg". Das vorletzte Wort hat Klecatsky an
diesem Abend. Er forderte das Publikum auf: "Wenden Sie sich an Ihre
Abgeordneten!" Worauf die allerletzte Bemerkung aus dem Publikum
kommt. Einer ruft: "Wir haben Abgeordnete?"

*Bernhard Redl*




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