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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 12. Februar 2008; 18:15
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Zeitgeschichte:
> "Eine neue, bessere Menschheitsepoche"
Zum 100.Geburtstag des Anarchisten Ferdinand Gross
Vor hundert Jahren, am 11. Februar 1908, kam Ferdinand Gross als Kind 
des Hutmachers Wenzel Gross und der Hausfrau Maria Gross, geborene 
Kreusel, in Wien zur Welt. Zu seinen ersten Erinnerungen zaehlte der 
Abschied vom Vater, als dieser fuer die Oesterreichisch-Ungarische 
Armee in den Ersten Weltkrieg ziehen musste. Seine ausgepraegte 
Abscheu vor allem Militaerischen duerfte hier ihre Wurzel haben. Krieg 
blieb ihm sein Leben lang eine der schrecklichsten Geisseln der 
Menschheit. Neben dem Krieg zaehlte der Hunger in der Zeit waehrend 
und nach dem 1. Weltkrieg zu seinen fruehesten Erinnerungen, von denen 
er auch im hohen Alter noch erzaehlte. Nach der Grundschule in Wien 
zog Ferdinand Gross mit seiner Familie nach Graz, wo er 1925 eine 
Schlosser- und Dreherlehre bei den Puch-Werken abschloss. In einer 
Zeit, in der sich grosse Teile der ArbeiterInnenklasse ganz 
selbstverstaendlich noch in der ArbeiterInnenbewegung engagierten, 
suchte auch Ferdinand Gross ab 1925 Kontakt zu SozialdemokratInnen und 
KommunistInnen. Sein diesbezuegliches Engagement fuehrte zu seiner 
ersten Entlassung von seinem Arbeitsplatz bei den Puch-Werken. Mit 
einem Freund begab er sich daraufhin auf die Walz. Von Hamburg aus 
wollten die beiden nach Brasilien auswandern, was jedoch scheiterte. 
Arbeits- und mittellos landete Ferdinand Gross schliesslich in 
Luxemburg, wo er von einer kurzfristigen prekaeren Beschaeftigung in 
die naechste stolperte. Dabei handelte es sich um schwere koerperliche 
Arbeiten, wie Hilfsarbeiten bei der Errichtung von Eisenbahntrassen, 
deren Bedingungen fuer viele EuropaeerInnen heute kaum vorstellbar 
waren. Ferdinand Gross sollte diese Jahre spaeter als seine "soziale 
Schule" bezeichnen.
Nach Graz zurueckgekehrt, erwartete ihn zunaechst wieder das Schicksal 
von Arbeitslosigkeit. Er engagierte sich in der "Saengerrunde 
Freiheit" und in der so genannten "Friedlandsiedlung", einem Versuch 
eine Siedlung fuer Arbeitslose aufzubauen. Die "Saengerrunde Freiheit" 
trat 1933 anlaesslich einer Rede des oesterreichischen Anarchisten 
Rudolf Grossmann, genannt Pierre Ramus, in Graz auf. Dabei lernte 
Ferdinand Gross erstmals sein spaeteres grosses Vorbild persoenlich 
kennen und war vom pazifistischen Anarchismus von Ramus "Bund 
herrschaftsloser Sozialisten" begeistert. Der Bund vertrat in seiner 
1922 beschlossenen Grundsatzerklaerung "das Prinzip individueller 
Freiheit in sozialer Gemeinschaft" und strebte einen "Kommunismus 
zwangloser Assoziation, fuer den grundlegend ist das 
Nichtvorhandensein irgend eines Monopolprivilegiums"(1) an.
Bund herrschaftsloser Sozialisten
Zum ersten Mal war "Ferdl", wie er von seinen GenossInnen genannt 
wurde, mit dem Beitritt zum Bund politisch organisiert. Weitere 
persoenliche Begegnungen mit Pierre Ramus und das Studium der 
Schriften von Kropotkin, Tolstoi und anderen AnarchistInnen festigten 
seine Ueberzeugung und befluegelten sein enthusiastisches Engagement 
fuer einen pazifistischen Anarchismus. Er engagierte sich fuer die 
Vasektomie, die freiwillige Sterilisation des Mannes. Nach der 
Ausschaltung des Parlaments durch das austrofaschistische Regime wurde 
das Engagement des "Bundes herrschaftsloser Sozialisten" fuer die 
Vasektomie verfolgt und Pierre Ramus zu 14 Monaten schweren Kerkers 
verurteilt. Waehrend Pierre Ramus seine Strafe in der Grazer 
Haftanstalt Karlau verbuesste, fuehrte eine kleine Gruppe des 
ehemaligen Bundes, an deren Rand sich auch Ferdinand bewegte, die 
Vasektomierungen weiter. Nachdem die Gruppe aufgeflogen war, wurden 
fuenf beteiligte Anarchisten zu Gefaengnisstrafen verurteilt. "Ferdl" 
blieb jedoch vorerst auf freiem Fuss und konnte schliesslich ueber die 
aus Bulgarien nach Graz gefluechteten bulgarischen Anarchisten Dimitri 
Keremidtschieff, Haralampi Dimitroff-Haralampieff und Panajot 
Tschiwikoff Kontakte zu anarchistischen Gruppen im Ausland knuepfen. 
Mit dem Beginn des Spanischen Buergerkriegs 1936 begannen sich auch 
die Grazer AnarchistInnen neu zu formieren, die sich 1937 in zwei 
anarchistischen Gruppen organisierten: eine um den Malergehilfen Josef 
Stefflitsch und eine um die Schwestern Ottilie und Maria Leeb 
(verheiratete Binder und Rader). Ferdinand Gross hielt zu beiden 
Kontakt und arbeitete in beiden Zusammenhaengen immer wieder mit. 
Flugblaetter wurden illegal verteilt und Zusammenkuenfte organisiert, 
schliesslich sogar eine kleine Untergrundzeitschrift mit wechselnden 
Titeln herausgegeben. Eine Verhaftungswelle im November 1937 zerschlug 
diese Strukturen wieder weitgehend. Noch im Jaenner wurden Stefflitsch 
und andere nach §58b und c des Strafgesetzes, wonach sie zu Handlungen 
"zur gewaltsamen Veraenderung der Regierungsform und Herbeifuehrung 
einer Empoerung und eines Buergerkrieges im Innern aufgefordert, 
angeeifert und zu verleiten gesucht" haetten, angeklagt und 
verurteilt.
Wer Ferdinand Gross spaeter nach seiner politischen Biographie 
befragte, dem erklaerte er mit diesen Erfahrungen, warum er die 
Untergrundarbeit fuer wenig sinnvoll erachtete und fuer ein offensives 
Bekenntnis zum Anarchismus eintrat. Waehrend andere AnarchistInnen in 
Graz die NS-Zeit durch innere Emigration ueberlebten und ihre 
Aktivitaeten einstellten, wurde Ferdinand Gross nach dem "Anschluss" 
erst richtig aktiv. Alte Nummern von Ramus' Zeitschrift "Erkenntnis 
und Befreiung" legte er in den Umkleideraeumen der Puch-Werke aus, in 
denen er mittlerweile wieder arbeitete. Ehe man den Urheber dieser 
Aktion finden konnte, wurde er am 1. Maerz 1939 jedoch aus einem 
anderen Grund von der Gestapo festgenommen.
Gestapo und KZ
Beim folgenden Verhoer bei der Gestapo bekannte er sich offensiv zum 
herrschaftslosen Sozialismus und erklaerte, Anarchist und Kriegsgegner 
zu sein. Mit der Drohung, bei der kleinsten Auffaelligkeit "nach 
Dachau" zu kommen, wurde er entlassen. Wer "Ferdl" persoenlich kannte, 
weiss jedoch, dass dieser gluehende Anarchist einfach nicht ruhig sein 
konnte. Bei einer von den Nazis in den Puch-Werken veranstalteten 
Feier anlaesslich der Okkupation der Tschechoslowakei im Maerz 1939 
verweigerte er als Einziger den Deutschen Gruss und wurde prompt wegen 
"politischer Unzuverlaessigkeit" entlassen.
Es folgte eine erneute Vorladung durch die Gestapo, die ihn als 
"Schutzhaeftling" nach Dachau deportieren liess. Von dort wurde er ins 
KZ Flossenbuerg, 1940 wieder nach Dachau verlegt. Im Sommer 1944 wurde 
er zum Straftransport abkommandiert, was fast immer einem Todesurteil 
gleichkam. "Im Viehwaggon wurde er ins >Arbeitslager< Neckarelz bei 
Mosbach (Baden-Wuerttemberg) gebracht, wo er in einem aufgelassenen 
Gipswerk fuer die Fortfuehrung der Ruestungsindustrie arbeiten musste. 
Zunaechst wieder Stubenaeltester, meldete er sich dann zum Arbeiten 
und war zunaechst fuer die Wartung des Werkzeugs zustaendig, dann als 
Kantineur taetig. Nach der Bombardierung des nahegelegen Dorfes wurde 
er zum Ruecktransport nach Dachau abkommandiert."(2) Auf dem Weg zum 
Bahnhof gelang ihm im Maerz 1945 gemeinsam mit einem kommunistischen 
Spanienkaempfer die Flucht und schliesslich die Rueckkehr nach 
Oesterreich zu seiner Frau Rosa nach Graz. Wie bei vielen ehemaligen 
KZ-Haeftlinge blieben diese Jahre fuer ihn eine Zeit der traumatischen 
Erlebnisse. Auch wenn Ferdinand Gross in spaeteren Jahren wesentlich 
lieber von seiner Begeisterung fuer den Anarchismus sprach, als von 
seinen schrecklichen Erlebnissen im KZ, so bildete dieses doch immer 
das Gegenbild, das zeigte, was aus einer Gesellschaft werden konnte, 
die nicht den Weg der Freiheit ging.
Befreiung
Nach allem was er erlebt hatte, wollte der wieder in Graz lebende 
Anarchist nach 1945 die neue Freiheit nutzen, um fuer seine Gedanken 
zu werben. Verglichen mit der breiten anarchistischen Szene der ersten 
Republik, waren aber nur wenige AktivistInnen uebrig geblieben. Die 
Reorganisationsversuche der anarchistischen Szene in Graz blieben 
ebenso erfolglos, wie in anderen Teilen Oesterreichs. So blieb "Ferdl" 
Gross nach 1945 primaer ein Einzelkaempfer, der jedoch ab 1970 neue 
Kontakte v.a. in die antimilitaristische Friedensbewegung in Graz 
knuepfen konnte. 1976 gruendete er schliesslich seine eigene 
Zeitschrift, die er in der Nachfolge der Zeitschrift von Pierre Ramus 
"Befreiung" nannte und die er ueber Jahre allein herausbrachte. Sie 
war das letzte Bindeglied zwischen den juengeren Generationen 
oesterreichischer AnarchistInnen und der anarchistischen Bewegung der 
ersten Republik. Ein Grossteil der Texte verfasste er - teilweise 
unter verschiedenen Namen - selbst; er machte aber auch laengst 
vergessene Texte fuer juengere Generationen zugaenglich.
Ein Alter unter Jungen
Es gehoerte zu seinen erstaunlichsten Faehigkeiten, dass Ferdinand 
Gross bis ins hohe Alter erfolgreich Kontakt zur Jugend suchte. Auch 
wenn in den 1980er- und 1990er-Jahren viele junge Anarchos aus der 
autonomen Szene nichts mehr mit dem "alten Mann" anfangen konnten, so 
blieb er fuer jene, die ihm zuhoeren wollten, eine faszinierende 
Inspiration, die weit mehr war als ein lebendes Geschichtsbuch. Man 
musste seinen teils christlich angehauchten Anarchopazifismus und 
seine uneingeschraenkte Begeisterung fuer Pierre Ramus, Leo Tolstoi 
oder Peter Kropotkin nicht teilen, um dem unermuedlichen 
Einzelkaempfer, der sich trotz aller Verfolgungen nie brechen liess, 
Respekt zu zollen und einfach gerne zuzuhoeren. Ich kann mich noch gut 
erinnern, wie "Ferdl" Gross noch 1993 an einem Camp junger 
AnarchistInnen in Niederoesterreich teilnahm und einige von uns ganz 
fasziniert seinen Geschichten lauschten, waehrend andere - die heute 
teilweise gerade ihre Karrieren in Wirtschaft und Politik bestreiten 
und denen ihr damaliger Anarchismus heute sicher peinlich waere - den 
"alten Mann" als harmlosen, freundlichen Spinner abtaten und nur ihre 
eigene maennlich inszenierte (Gewalt)Pose fuer radikal hielten. Noch 
im Alter von 86 Jahren gab er uns fuer unsere kurzlebige Zeitschrift 
Vogelfrei ein Interview, in dem er voller Optimismus erklaerte: "Es 
bedarf nur der schaffenden Haende aus der ewig gruenenden und 
fruchtbaren Erde, den Nahrungsbedarf fuer alle Menschen zu decken und 
zwar ueberreich, um nirgends Menschen hungern lassen zu muessen. Das 
Privileg der herrschenden Klasse muss entzogen werden auf dass alle 
Menschen das Recht auf Wohlstand haben. Wenn wir dafuer viele Menschen 
gewinnen wird dies eine neue bessere Menschheitsepoche einleiten." (3)
Nach dem Tod seiner Frau Rosa 1994, die er jahrelang waehrend ihrer 
Erkrankung an multipler Sklerose gepflegt hatte, und deren Tod ihn 
schwer traf, blieb er in seiner Wohnung allein und beschaeftigte sich 
weiter mit der Herausgabe seiner Zeitschrift. Im Dezember 1997 brachte 
er, bereits schwer erkrankt, noch die Nummer 85 seiner "Befreiung" 
heraus, ehe er entkraeftet ins Grazer Landeskrankenhaus eingeliefert 
werden musste, wo er am 12. Jaenner 1998 verstarb. Mit ihm starb auch 
der letzte Vertreter des Anarchismus der ersten Republik.
Die juengeren AnarchopazifistInnen, mit denen Ferdinand Gross schon 
einige Zeit zusammengearbeitet hatte, benannten ihre eigene 
Zeitschrift "friedolin" in "friedolins befreiung" und traten damit das 
Erbe von Ferdinand Gross' "Befreiung" an. Die Zeitschrift wurde jedoch 
Ende 1999 eingestellt. Sie war nicht das einzige anarchistische 
Projekt der juengeren Generation, dem der lange Atem eines Ferdinand 
Gross fehlte.
*Thomas Schmidinger*
(1) Was ist und will der Bund herrschaftsloser Sozialisten? Die auf 
der Bundestagung am 25. und 26. Maerz 1922 angenommenen Leitsaetze und 
Richtlinien unserer Anschauung und Betaetigung, Kapitel 2: Die 
Grundsaetze des Bundes herrschaftsloser Sozialisten
(2) Reinhard Mueller: Ferdinand Gross (Wien 1908 - Graz 1998) - Aus 
dem Leben eines oesterreichischen Anarchisten und Antimilitaristen. S. 
4 - 15: 9
(3) Vogelfrei, Zeitschrift der Libertaeren Liga, Nummer 1 (1/94), S. 
24-26
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