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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 4. Dezember 2007; 21:14
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Moderne Zeiten/Kommentar:

> Behoerdenrepublik Oesterreich

Nach 7 Jahren Experimenten muss Projekt "Buergerkarte" als endgueltig
gescheitert angesehen werden. Wahrscheinlich wird es genau deswegen
verlaengert.


Oesterreich hat rund 25.000 Behoerden und Koerperschaften oeffentlichen
Rechts, etwa 470.000 Bedienstete, etwa 50 Millionen Rsa/Rsb-Briefe
jaehrlich, knapp eintausend unterschiedliche Behoerdenablaeufe sind allein
auf help.gv aufgelistet, taeglich werden etwa 1,5 Millionen Verwaltungsakte
durchgefuehrt .

Jaehrlich duerften etwa 250 Millionen behoerdliche Personentransaktionen
anfallen (das sind alle Verwaltungsschritte multipliziert mit der jeweils
betroffenen Personenzahl). Die Zahl je Staatsbuerger ist dabei hoechst
unterschiedlich. Waehrend kinderlose urbane unselbstaendig Beschaeftigte
ohne Immobilienbesitz etwa mit jaehrlich 3-5 Transaktionen rechnen muessen,
steigert sich das bei Eigenheimbesitzern rasch auf 20-30 Amtsfaelle, im
gewerblichen Bereich sind 3-500 Amtsfaelle im Jahr auch keine Seltenheit.

Seit 2001 hat sich eine winzige Technokratengruppe im Bundeskanzleramt in
den Kopf gesetzt, mittels eines komplizierten elektronischen Systems den
Buergern den Zugang zu den Behoerden drastisch zu erschweren.

Mit dem 2004 in Kraft getretenen eGovernment-Gesetz wurde eine ganze Nation
in Geiselhaft genommen. Innerhalb von drei Jahren sollten alle Behoerdenwege
elektronisch mittels einer Buergerkarte "einfacher" und "billiger"
abgewickelt werden koennen, so die euphorische Selbstbeweihraeucherung. 2007
laeuft diese Uebergangsfrist aus.

Waehrend in allen anderen Bereichen elektronische Anwendungen und
Internetdienste boomen, duempeln die Buergerkartenanwendungen dahin.
Onlinebanking nutzen drei Millionen Kunden, selbst eCommerce und
Online-Shopping wurde 2006 laut einer KMU-Studie von ca.1,8 Mio.
Oesterreichern genutzt. In bestimmten Bereichen, wie Flug- und
Bahnreisebuchungen, Verkauf von Veranstaltungskarten oder
Hotelreservierungen liegt der Onlineanteil mittlerweile zwischen 50 und 90%
aller Bestellungen/Reservierungen. Soziale und berufliche Netzwerke sind
ohne Web2.0-Anwendungen nicht mehr denkbar.

Anlaesslich der im Parlament geplanten Prolongierung des
eGovernment-Gesetzes lohnt es sich Ankuendigungen und Ergebnisse zu
vergleichen. http://help.gv.at, die offizielle eGovernment-Plattform der
Bundesregierung, listet etwa 1000 verschiedene Behoerdengaenge auf, etwa das
2-3fache gibt es zusaetzlich in Oesterreich. Nur knapp mehr als 100
Behoerden, darunter etwa 70 Gemeinden (von 2350), bieten ueberhaupt
irgendeinen Buergerkartendienst an. Oesterreichweit werden nur 6 Anwendungen
angeboten, 36 weitere Anwendungen nur in bestimmten Orten.

Die bundesweiten Dienste betreffen Pensionsantraege, ZMR-Meldebestaetigung,
Kinderbetreuungsgeld, FinanzOnline und zwei Dienste fuer Heeresangehoerige.

Zum Finanzamt ohne Karte

Wie dramatisch gescheitert die Buergerkartenloesungen sind, wird am Beispiel
FinanzOnline deutlich. FinanzOnline wird sowohl klassisch, mit
Benutzerkennung und Passwort, als auch als Buergerkartenloesung angeboten.
Nach einer Auskunft des BMF nutzen 2006 mehr als eine Million Menschen
FinanzOnline, diese stellten seit 2003 rund 15 Millionen Antraege und
fuehrten 23 Millionen Transaktionen durch, gerade 3.500 Teilnehmer hatten
auch einen Einstieg mit Buergerkarte versucht. "Auf Grund der Erfahrungen",
so das BMF, "wird es auch nach 2008 den Zugang ohne Buergerkarte geben."

Der Anteil an Buergerkartentransaktionen an allen Behoerdenanwendungen liegt
bei weniger als einem Promille, wobei die Oesterreicher als durchaus
aufgeschlossen gegenueber Online-Behoerdendiensten zu bezeichnen sind.
Regelmaessig benoetigte Dienste, wie der jaehrliche Finanzausgleich werden
von weit ueber einer Million Oesterreicher online erledigt, aber eben nicht
mit der Buergerkarte, sondern mit einem ausreichend sicheren Loginverfahren,
das wesentlich einfacher zu nutzen ist und auch besser durchschaubar ist.

Selbst geschenkt ist zu teuer, so koennte man alle bisherigen
Foerderversuche zusammen fassen. Eine 2005 durchgefuehrte Foerderaktion des
BMF, die den Ankauf des Kartenlesers subventionierte blieb bei einem
Bruchteil der geplanten 200.000 Foerderungen haengen (Ende 2006: ca 10.000
Faelle).

Das Projekt ist auch aus verfassungsrechtlichen Gruenden hoechst bedenklich.
Private Anwendungen, wie Onlinebanking, Musikdownload, Kartenbestellung oder
Online-Shopping, sind durch Wahlfreiheit und Wettbewerb gekennzeichnet.
Diese sind bei Behoerdenanwendungen nicht gegeben. Mit Behoerden hat man in
der Regel zwangsweisen Kontakt. Behoerdenanwendungen, Formulare und
Kontaktmoeglichkeiten muessen sich daher nach den Moeglichkeiten der
einfachen Buerger orientieren und duerfen keine Spezialkenntnisse
voraussetzen.

Werden technische, administrative oder organisatorische Huerden errichtet,
wie das mit der Buergerkartentechnik der Fall ist, dann widerspricht das dem
verfassungsrechtlichen Gleichheitsgebot. Wenn bestimmte Anliegen nur mehr
mit Buergerkarte oder ansonsten mit Zusatzkosten erledigt werden koennen,
waere ein derartiges Gebot verletzt.

Datenverknuepfung bis zum Abwinken

Aus Datenschutzsicht ist das Konzept abzulehnen, da es auch die Moeglichkeit
zum glaesernen Buerger schafft. Bisher wurden Behoerdenvorgaenge mittels
Aktenzahlen erledigt, der Buerger konnte sicher sein, dass seine Daten nur
bei der zustaendigen Behoerde abrufbar waren. Mit dem Stammzahlen- und
Bereichszahlensystem soll es aber in Zukunft moeglich sein, verschiedenste
Verwaltungsschritte beliebig miteinander zu verknuepfen.

Wird das Projekt weiter verfolgt, wird es in Zukunft moeglich sein, voellig
unterschiedliche Buergerinteressen miteinander zu verknuepfen.
Kirchenaustritt, Bauansuchen, Parkpickerl, chefaerztliche Bescheinigung,
Beihilfeantag fuer den Musikschulbesuch, Meldung von Veranstaltungen,
Exekutionsantraege, Eheschliessung, Fahrtenbeihilfen, Autowrackentsorgung,
Flohmarktmeldungen, Verlustmeldungen, Steuererklaerungen, Sozialhilfeantrag,
Fischerkarte, Kindergartenmeldung, Lenkerauskunft, Mietzins- und
Studienbeihilfe, Verlustmeldungen und das Anmelden zum Verteilen von
Flugblaettern und noch vieles mehr koennte dann miteinander verknuepft
werden und Anlass fuer Spekulationen ueber den buergerlichen Lebenswandel
fuehren.

Was versprach Josef Cap 2006, als sich das Scheitern der Buergerkarte immer
deutlicher abzeichnete, sinngemaess: "Wenn die SPOe einmal etwas zu reden
hat, dann wird es dieses Gesetz nicht mehr geben."
(ftp://ftp.freenet.at/beh/cap-buergerkarte.pdf).

Unheimliche Black Box

Auch vom Standpunkt der IT-Sicherheit weist das Konzept schwere Maengel auf.
Installiert man das Buergerkartensystem, dann ist man mit einer Fuelle von
Fehlermeldungen und Warnhinweisen konfrontiert. Die verwendeten Zertifikate
werden von vielen Internet-Browsern nicht richtig erkannt, trotz angeblich
verschluesselter Seiten werden Daten unverschluesselt uebertragen und es
muessen eigene Internet-Ports (3495/3496) geoeffnet werden, dies bietet
weitere Angriffsmoeglichkeit.

Vom Buerger wird das Gegenteil von dem verlangt, was in allen
Sicherheitsbroschueren empfohlen wird. Er kann entweder alle Warnungen
ignorieren, dann weiss er nicht mehr, ob das System sicher ist oder er muss
die Buergerkarte sofort wieder deinstallieren. Der Benutzer wird
entmuendigt, er kennt nicht einmal alle Daten, die er bei der
Buergerkartennutzung verwenden muss, insbesondere ist ihm die Datei zur
Erstellung der eigenen Signatur unbekannt.

Die Buergerkarte emtpuppt sich auch als die klassische Einstiegsmoeglichkeit
fuer den beruechtigten Polizeitrojaner. Es passt ins Bild, dass sich das
Innenministerium fuer die Verbreitung der Buergerkarte stark macht. Es passt
auch ins Bild, dass die Basisprogramm-Module nicht offen gelegt werden und
dieselben Personen, die diese Programme entwickelt haben und zu BMI und BKA
ein aussergewoehnliches Nahverhaeltnis haben, auch gleichzeitig als
"unabhaengige" Pruefstelle fuer eGovernment-Anwendungen fungieren.

Tatsaechlich ist eGovernment auch ohne das komplizierte und bedenkliche
Buergerkartensystem moeglich. Es gibt keinen vernuenftigen Grund nicht auch
im Online-Verfahren mit Aktenzahlen zu arbeiten. Keinen Grund, ausser
natuerlich, dass die Verknuepfbarkeit der Buergerdaten nicht mehr gegeben
waere und die Datenschutzinteressen der Buerger gewahrt blieben.

eGovernment-Europameister?

Waehrend sich Oesterreich laufend als eGovernment-Europameister
beweihraeuchert, entpuppt sich die Spitzenstellung als politische
Mogelpackung. Die unbestrittenen Erfolge im Verwaltungsbereich, etwa das
elektronische Rechtsinformationssytem RIS, die elektronische
Gesetzespublikation, der Behoerden-Portalverbund oder FinanzOnline wurden
nicht wegen des eGovernment-Gesetzes erreicht, sondern trotz dieses
Gesetzes. Alle diese Anwendungen widersprechen im Kern den Anforderungen des
eGovernment-Gesetzes.

Kurz zusammen gefasst, dort wo die eGovG-Bestimmungen angewandt werden
herrscht Chaos, Akzeptanzprobleme und fehlende Nutzung, dort wo eGovernment
funktioniert wird das eGovG ignoriert. Wie lange wird der oesterreichische
Steuerzahler das missglueckte Konzept "Buergerkarte" noch finanzieren?

Nach sieben Jahren Experimentieren und Scheitern kann wohl nicht mehr von
Anfangsschwierigkeiten gesprochen werden. Jetzt aufzuhoeren waere aber immer
noch die kostenguenstigste und buergerfreundlichste Loesung. Doch am
Mittwoch wird die Verlaengerung im Parlament abgenickt.
(Arge Daten/bearb.)

Quelle: http://www.argedaten.at/

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