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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 9. Oktober 2007; 19:25
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Tuerkei/Buecher:
> Was will Europa in Kleinasien?
Sauter, Dieter:
Tuerkisches Roulette.
Herbig Verlag, 254 Seiten, 19,90 Euro
Seit der Wahl von Abdullah Guel Ende August hat die Tuerkei ein
islamisch-konservatives Staatsoberhaupt. Doch ueber das Land gibt es viel
mehr zu sagen.
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Hand aufs Herz: Wer haette je gedacht, dass ausgerechnet eine islamische
Partei die Tuerkei kapitalistisch modernisieren, den ueberaus maechtigen
Generalstab ausbremsen und das halb europaeische, halb asiatische Land
Richtung EU fuehren wuerde? Und wer haette je damit gerechnet, dass sich
eine islamische Bewegung so schnell reformieren koennte? Noch 1994 hatte die
damalige Wohlfahrtspartei Refah den Sieg ihres Kandidaten bei der
Oberbuergermeisterwahl von Istanbul mit einer Massenveranstaltung gefeiert:
In Zehnerreihen, mit Fackeln und Fahnen waren seinerzeit die
Parteidelegierten im Gleichschritt in das Fussballstadion einmarschiert, wo
sie ihren Vorsitzenden Necmettin Erbakan feierten und die Einfuehrung der
Scharia forderten. Erbakan war anschliessend sogar fuer kurze Zeit
Ministerpraesident - bis ihn die Militaers 1996 aus dem Amt jagten.
Einleuchtende Analyse
Danach verliessen die «Erneuerer» um Tayyip Erdogan und Abdullah Guel im
Streit mit den «Traditionalisten» um Erbakan die Refah-Partei und gruendeten
ihre eigene Organisation, die Partei der Gerechtigkeit und der Entwicklung
(AKP). Mittlerweile ist die AKP die bei weitem erfolgreichste Partei der
Tuerkei. Ausgerechnet die islamisch-konservative AKP hat geschafft, was in
den achtzig Jahren seit Gruendung der Republik Tuerkei keiner anderen
Regierungspartei gelungen war: Sie hielt fast eine volle Legislaturperiode
durch - und wurde bei der vorgezogenen Wahl im Juli mit einem
ueberwaeltigenden Stimmenvorsprung im Amt bestaetigt. Ueber den Aufstieg der
AKP ist viel geschrieben worden, aber selten zuvor hat jemand eine so klare
und einleuchtende Analyse vorgelegt wie Dieter Sauter in seinem neuesten
Buch «Tuerkisches Roulette».
Das Besondere am Buch ist sein Zugang. Sauter hat bewusst darauf verzichtet,
mit PolitikerInnen zu reden. Es «ist nicht die Aufgabe von Politikern,
auslaendischen Journalisten andere Antworten zu geben als jene, die bereits
in Pressemitteilungen oder Reden veroeffentlicht sind», schreibt er.
Stattdessen interviewte er Fachleute, die ihm und uns die grossen
Veraenderungen in der tuerkischen Gesellschaft und die Konstanten in der
tuerkischen Politik darlegen. So berichtet beispielsweise der Politologe
Ahmet Turkyilmaz, dass sich die Gesellschaft nach rechts bewege: Frueher
neigten rund sechzig Prozent der WaehlerInnen konservativen und rechten
Parteien zu, heute sind es siebzig Prozent.
Neue Rolle fuer das Militaer
Turkyilmaz und die anderen ExpertInnen, die Sauter befragte, liefern auch
eine Erklaerung fuer diese Verschiebung und den Aufstieg der AKP: Einerseits
die Landflucht, die die Staedte explodieren laesst - in denen es aber keine
sozialen Sicherungssysteme mehr gibt. Anderseits die Herausbildung eines
anatolischen Kapitals, das sich, so der Politwissenschaftler Tanju Tosun,
«in den Siebziger- und Achtzigerjahren langsam von frommen Handwerkern und
Haendlern zu einem wuchtigen wirtschaftlichen Faktor entwickelt hat». Und
das vor allem von der AKP vertreten wird.
Auch die Rolle des Militaers, das immer noch zahlreiche Konzerne
kontrolliert, habe sich geaendert. Das sagt jedenfalls Uemit Cizre von der
angesehenen Stiftung fuer Wirtschaftliche und Soziale Studien. Die
Wissenschaftlerin hat in einer akribisch recherchierten Studie die
Strategiepapiere des Nationalen Sicherheitsrats analysiert und sich dadurch
mit der achtgroessten Armee der Welt angelegt. Seit dem Ende des Kalten
Krieges haetten sich deren Nato-Generaele den «inneren Feinden» zugewandt,
sagt sie, dadurch aber ihre Unantastbarkeit verloren, weil sie nun nicht
mehr «ueber den Parteien stehen», sondern selbst Partei geworden seien. Und
damit auch angreifbar - wie der Sieg von Guel bei der Praesidentschaftswahl
zeigte, den die Militaers verhindern wollten.
Sauter zeichnet nicht nur ein klares Bild der vielen Veraenderungen in der
tuerkischen Gesellschaft, er beschreibt auch - etwa anhand eines Interviews
mit der Menschenrechtlerin Eren Keskin - die Konstanten: die vielen
Misshandlungen und die Missachtung der BuergerInnenrechte. Die extrem
hierarchischen Strukturen der parlamentarischen Parteien, die noch nie den
Abgang eines Fuehrers, einer Vorsitzenden ueberlebt haben. Den fragilen
Zustand der Oekonomie. Und er schildert am Beispiel eines mafiosen
Parkplatzbetreibers die grassierende Korruption (Parkplaetze sind in
Istanbul inzwischen ein Millionengeschaeft), am Beispiel eines Kolumnisten
die Kontrolle der Medien, am Beispiel eines Polizisten die Zustaende bei den
Sicherheitsorganen. Er spricht mit Sexualtherapeuten, Frauenrechtlerinnen,
Kurden, KuenstlerInnen, EU-Befuerwortern und mit einem Stammesfuehrer in
Anzug und Krawatte, der das Prinzip der Blutrache erlaeutert.
Kleine Schnitzer
Abgesehen von etlichen Wiederholungen, die durch die integrale Wiedergabe
mancher Interviews entstanden sind, und von Fluechtigkeitsfehlern, die einem
aufmerksamen Lektorat haetten auffallen muessen (warum, um Himmels willen,
ist an einer Stelle von «Katrillionen» die Rede, wo doch zehn Billiarden
gemeint sind?), abgesehen von solchen kleinen Schnitzern also bietet das
Buch einen exzellenten Blick auf die sich rasch wandelnde, von Gegensaetzen
gepraegte tuerkische Gesellschaft. Die Gretchenfrage, die Sauter am Schluss
stellt («Was will Europa in Kleinasien?») muessen die LeserInnen selbst
beantworten. Und das koennen sie erst nach der Lektuere.
(Pit Wuhrer, WOZ vom 04.10.2007/bearb.)
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http://www.woz.ch/artikel/2007/nr40/wissen/15458.html
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