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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 19. Juni 2007; 15:42
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Buecher:

> Bezirkskaiser in Wien

Hubert Sickinger
Bezirkspolitik in Wien
Studienverlag 2006
200 Seiten, EUR 24.90, ISBN-10: 3-7065-4366-4


Die Politik in Wiens Bezirksvertretungen unterscheide sich sehr stark von
den meisten anderen Ebenen der allgemeinen Vertretungskoerper. Es gebe kaum
so etwas wie eine Trennung in Regierungs- und Oppositionsfraktion und das
Verhaeltnis zwischen den Fraktionen wird von den Bezirksvorstehern "spontan
als ´gut` oder 'sehr gut' bezeichnet", schildert Hubert Sickinger in der
vorliegende Studie "Bezirkspolitik in Wien" (S.97). Dies ist laut Sickinger
vor allem darauf zurueckzufuehren, dass es auf Bezirksebene eben keine
"formalisierten Koalitionen" gibt. Denn der Bezirksvorsteher -- quasi der
Bezirkskanzler -- wird ja nicht von einer absoluten Mehrheit in der
Bezirksvertretung bestimmt, sondern faellt automatisch der staerksten
Fraktion zu -- wenn auch durch eine rein formale "Wahl", bei der keine
Gegenkandidaturen vorgesehen sind. Weiters bekommt die staerkste Fraktion
automatisch eine Bezirksvorsteher-Stellvertretung, eine weitere BV-Stv. darf
die zweitstaerkste Fraktion stellen. Eine Koalitionsbildung wie auf Bundes-
oder Landesebene wuerde also keinerlei Aenderung an der Besetzung der
Spitzenposten ergeben.

Einen zweiten Grund sieht Sickinger darin, dass es vor allem um "stark
lokalbezogene konkrete Problemstellungen" ginge, die nur wenig ideologische
Reibeflaeche boeten.

Es gebe aber auch rein praktische, aus der Not geborene Gruende, warum in
der Bezirksvertretung die Zusammenarbeit gut funktionieren muss,
beispielsweise das knappe Angebot an Mandataren, die qualifiziert genug
sind, komplexe Probleme ueberhaupt verstehen zu koennen oder bei
Kommissionierungen sinnvolle Statements abgeben zu koennen. Sickinger
zitiert den Floridsdorfer SPOe-BV Heinz Lehner: "Es wird immer schwieriger,
Leute zu finden, die sich das antun wollen. Wegen der knapp 5000 Schilling,
wo dann knapp die Haelfte bleibt, das andere nimmt dir dann der
Finanzminister, fuer diesen Stundenaufwand, wenn man es ernst nimmt, da
finde ich nicht mehr so viele. Ich finde irgendwelche Leute, aber die helfen
mir ja nicht. Ich moechte ja fachkompetente, politisch denkende und auch
nach aussen wirkende Leute haben, und die sind immer schwieriger zu finden.
Vor allem auch, weil das Freinehmen fuer die verschiedene Termine immer
schwieriger wird. Wenn einer im Beruf Erfolg hat, dann ist er meistens in
einer Funktion, wo er sich nicht halbe Tage lang frei nehmen kann." (S.87)
Dazu komme, so Sickinger, dass frueher gerade die sozialdemokratischen
Bezirksraete, die ja auch in den meisten Bezirken sehr komfortable
Mehrheiten hatten, oft beim Magistrat oder bei gemeindenahen Betrieben
(bspw. der damaligen Zentralsparkasse) beschaeftigt waren und sich jederzeit
ohne Probleme freinehmen konnten. Heute ist das erstens selbst beim
Magistrat kaum mehr moeglich, zum anderen gibt es auf Grund der
Privatisierungen immer weniger derart gemeindenahe Betriebe. In Folge muss
der Bezirksvorsteher immer mehr auch auf die Mandatare der anderen
Fraktionen bauen koennen.

Und noch ein Grund erzwingt das Ziehen am gemeinsamen Strang, ein Grund, den
Sickinger aber ruecksichtsvollerweise nur andeutet -- die Bezirksvertretung
hat so gut wie keine formale Entscheidungsgewalt und braucht konsensuale
Beschluesse, um ueberhaupt gehoert zu werden. Zwar verfuegt die
Bezirksvertretung seit den Reformen der Stadtverfassung (vor allem der von
1997) ueber ein "echtes" Budget, doch dieses ist zum Grossteil nach den
Vorgaben des Magistrats zu vergeben. Der klaegliche Rest kann frei
eingesetzt werden -- aber meist auch nur dann, wenn der Magistrat nichts
dagegen hat. Wirklich frei kann die Bezirksvertretung eigentlich nur ueber
solche Dinge wie Kulturfoerderung u.ae. entscheiden.

Die Bezirksvertretung muss also eher als Anlaufstelle und
Interessensvertretung der Bezirksbevoelkerung gesehen werden denn als
Entscheidungstraegergremium. Der tatsaechliche Einfluss passiere daher vor
allem auf informeller Ebene. Sickinger sieht dabei OeVP- und SPOe-
Bezirksvorsteher und BV-Stv. imVorteil, die gute Einflussmoeglichkeiten auf
Landes- oder Bundesebene haetten, waehrend gruene und freiheitliche
Mandatare eher auf sich allein gestellt seien.


Kritik

Sickingers Buch ist recht aufwendig recherchiert, man merkt, dass es eine
allesumfassende Studie sein soll, doch gerade dadurch gehen kritische
Fragestellungen eher unter.

Denn das Buch behauptet zwar in seinem Titel, sich mit der Bezirkspolitik in
Wien auseinanderzusetzen, doch hat Sickinger dabei einen aeusserst
konventionellen Begriff von Politik und einen ziemlich autoritaeren Zugang
zum Thema. Zum einen beschaeftigt die Studie sich lediglich mit der Arbeit
der auf Bezirksebene gewaehlten Mandatare und laesst Aktivitaeten von
engagierten Buergern im Bezirk voellig unerwaehnt. Auch die Funktion der
Bezirksvertretung als Protestkanalisierungsinstrument bleibt dabei voellig
unterbelichtet. Zum anderen haette das Buch ueberhaupt besser "Bezirkskaiser
in Wien" heissen muessen, denn der Autor hat lueckenlos saemtliche 23
Bezirksvorsteher von 2004 plus die in der Zwischenzeit neu bestellten plus
noch ein paar ehemalige interviewt. Entsprechend handelt das Buch bis zur
Haelfte fast ausschliesslich von den Bezirksvorstehern. ueber diese
Amtsinhaber gibt es Statistiken Laenge mal Breite: Alter, Karrieren,
erlernte Berufe,... haarklein wird da ueber sie berichtet.

Zwar hat der Autor auch noch einige wenige einfache Mitglieder der
Bezirksvertretung gesprochen, aber diese werden kaum zitiert - denn auch bei
den Passagen des Buches ueber die Arbeit in den Bezirksvertretungen, im
Plenum wie in den Ausschuessen und Kommissionen, kommen fast ausschliesslich
die Vorsteher zu Wort.

Aehnliches gilt fuer die von den Landtagswahlen differierenden Wahlerfolge,
die hauptsaechlich an der Person des Bezirksvorstehers festgemacht werden -
wobei man zugestehen muss, dass in diesem Fall dies vielleicht sogar eher
dem autoritaeren Charakter der Mehrheit der Wahlbevoelkerung als dem des
Autors zu schulden ist. Doch der autoritaere Charakter des Autors und dessen
Zugangs zu Politik wird offensichtlich, wenn er wiederholt die geringe
Paktfaehigkeit der Gruenen kritisiert - soll heissen, dass deren Klubobleute
ihre Mandatare nicht immer so im Griff haben, dass sie bei der Packelei mit
den Obleuten der anderen Fraktionen fuer das Abstimmungsverhalten ihrer
Schaefchen garantieren koennen.

Bezirks- und Graetzelpolitik waere ein spannendes Thema -- aber das ist mehr
als die Befindlichkeit von Bezirkskaisern. Da geht es auch um die enormen
Einflussmoeglichkeiten von Bautraegern, Lobbyorganisationen oder
wohlsituierten Buergern mit guten Kontakten, um Landespolitik und
SPOe-herrliche Buerokratie, Zerstoerung von gewachsenen Graetzelstrukuren
etc. etc. etc.

Somit muss man dem Autor leider Themenverfehlung attestieren. Was besonders
enttaeuschend ist, gilt Sickinger doch als durchaus kritischer Politologe,
der sich vor allem beim Thema Parteienfinanzierung einen Namen gemacht
hat -- doch die vorliegende Studie ist nicht kritischer als der
Presseinformationsdienst des Rathauses. Das Buch wurde vom Wiener Magistrat
gefoerdert -- aber das kann ja hoffentlich nicht der Grund fuer die Lauheit
dieser Abhandlung sein. Enttaeuschend ist ebenfalls, dass der renommierten
Studienverlag sich dieses Buches angenommen hat -- denn auch von diesem
Verlag ist man Kritischeres gewoehnt.
*Bernhard Redl*



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