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  akin-Pressedienst.
  Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 19. Juni 2007; 15:47
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  Israel-Palaestina/Kommentar:
  
  > Krokodilstraenen
  
  Uri Avnery zum innerpalaestinensischen Konflikt
  
  
  Was geschieht, wenn anderthalb Millionen Menschen auf einem winzigen, 
  unfruchtbaren Streifen Land eingesperrt sind, abgeschnitten von ihren 
  Landsleuten und jedem Kontakt zur Aussenwelt, Opfer einer wirtschaftlichen 
  Blockade und nicht mehr in der Lage, ihre Familien zu ernaehren?
  
  Die Bevoelkerung des Gazastreifens diente als Versuchskaninchen. fuer ein 
  soziologisches Experiment Israels, der USA und der EU. In dieser Woche 
  zeigte das Experiment Ergebnisse. Sie beweisen, dass menschliche Wesen genau 
  
  wie andere Lebewesen reagieren: wenn zu viele von ihnen in einem kleinen 
  Gebiet unter miserablen Bedingungen zusammengepfercht sind, werden sie 
  aggressiv und sogar moerderisch. Die Organisatoren des Experimentes in 
  Jerusalem, Washington, Berlin, Oslo, Toronto und anderen Hauptstaedten 
  konnten nun befriedigt ihre Haende reiben. Die Opfer des Experimentes 
  reagierten, wie vorauszusehen war. Viele von ihnen starben sogar.
  
  Aber das Experiment ist noch nicht zu Ende. Die Forscher wollen genau 
  wissen, was geschieht, wenn die Blockade noch strenger durchgefuehrt wird.
  
  *
  
  Was hat die gegenwaertige Explosion im Gazastreifen verursacht?
  
  Der Zeitpunkt, an dem Hamas die Entscheidung traf, den Gazastreifen mit 
  Gewalt zu uebernehmen, war nicht zufaellig. Die Hamas hatte zuvor gute 
  Gruende, dies zu vermeiden. Die Organisation ist nicht in der Lage, die 
  Bevoelkerung zu ernaehren. Sie hat kein Interesse daran, das aegyptische 
  Regime zu provozieren, das gerade dabei ist, die Muslimbrueder, die 
  Mutterorganisation von Hamas, zu bekaempfen. Die Organisation hat auch kein 
  
  Interesse daran, Israel einen Vorwand zu liefern, die Blockade noch enger zu 
  
  gestalten.
  
  Doch die Hamasfuehrer entschieden, dass sie keine Alternative haetten, als 
  diejenigen bewaffneten Organisationen zu zerstoeren, die mit der Fatah 
  liiert sind und Praesident Mahmoud Abbas unterstehen. Die USA hatte Israel 
  empfohlen, diese Organisationen mit einer grossen Anzahl von Waffen 
  auszuruesten, damit sie gegen die Hamas kaempfen koennten. Die israelische 
  Armee war von dieser Idee wenig begeistert und fuerchtete, dass die Waffen 
  schliesslich in die Haende der Hamas fallen koennten (wie es ja tatsaechlich 
  
  auch geschieht). Aber unsere Regierung gehorchte wie immer - den 
  amerikanischen Befehlen.
  
  Das amerikanische Ziel ist eindeutig. Praesident Bush hat fuer jedes 
  islamische Land einen lokalen Fuehrer ausgesucht, der unter amerikanischem 
  Schutz herrschen und amerikanischen Befehlen folgen soll: im Irak, im 
  Libanon und nun auch in Palaestina.
  
  Hamas ist davon ueberzeugt, dass der fuer diesen Job auserwaehlte Mann im 
  Gazastreifen Mohammed Dahlan ist. Seit Jahren sah es bereits danach aus, als 
  
  werde er genau fuer diese Position vorbereitet. Die amerikanischen und 
  israelischen Medien sangen ein Loblied auf ihn und beschrieben ihn als 
  starken, entschiedenen Fuehrer, "moderat" (d.h. den amerikanischen Befehlen 
  
  gehorchend) und "pragmatisch" (d.h. den israelischen Befehlen gehorchend). 
  Und je mehr die Amerikaner und Israelis Dahlan lobten, umso mehr untergruben 
  
  sie seinen Ruf unter den Palaestinensern. Besonders als Dahlan sich in Kairo 
  
  aufhielt, als ob er auf die fuer seine Maenner versprochenen Waffen wartete.
  
  In den Augen der Hamas ist der Angriff auf die Stellungen der Fatah im 
  Gazastreifen ein Praeventivkrieg. Die Organisationen von Abbas und Dahlan 
  schmolzen wie Schnee in der palaestinensischen Sonne dahin. Die Hamas hat 
  problemlos den ganzen Gazastreifen uebernehmen koennen.
  
  Wie konnten sich die amerikanischen und israelischen Generaele derartig 
  verkalkulieren? Sie sind nur in der Lage, in streng militaerischen Begriffen 
  
  zu denken: so und so viele Soldaten, so und so viele Maschinengewehre. Aber 
  
  bei internen Kaempfen sind quantitative Berechnungen zweitrangig. Die Moral 
  
  der Kaempfer und die allgemeine Stimmung sind weit wichtiger. Die Mitglieder 
  
  der Fatah wissen nicht, wofuer sie kaempfen. Die Bevoelkerung von Gaza 
  unterstuetzt Hamas, weil sie glaubt, sie kaempfe gegen die israelischen 
  Besatzer. Ihre Gegner werden als Kollaborateure der Besatzung angesehen. Das 
  
  amerikanische Statement ueber ihre Absicht, sie mit israelischen Waffen 
  auszuruesten, hat sie endgueltig verurteilt.
  
  Das hat nichts mit islamischem Fundamentalismus zu tun. Diesbezueglich sind 
  
  alle Nationen gleich: sie hassen Leute, von denen sie annehmen, dass sie mit 
  
  dem fremden Besatzer kollaborieren ob sie nun Norweger (Quisling), Franzosen 
  
  (Petain) oder Palaestinenser sind.
  
  *
  
  In Washington und Jerusalem beklagen die Politiker die "Schwaeche von 
  Mahmoud Abbas".
  
  Nun sehen sie, dass die einzige Person, die eine Anarchie im Gazastreifen 
  und auf der Westbank haette verhindern koennen, Yasser Arafat gewesen waere. 
  
  Er hatte natuerliche Autoritaet. Die Massen verehrten ihn. Selbst seine 
  Gegner wie die Hamas respektierten ihn. Er baute mehrere Sicherheitsapparate 
  
  auf, die mit einander konkurrierten, um einen einzigen Apparat zu 
  verhindern, der einen Staatsstreich haette ausfuehren koennen, wie es jetzt 
  
  im Gazastreifen geschehen ist. Arafat war in der Lage, zu verhandeln, ein 
  Friedensabkommen zu unterzeichnen und sein Volk dahin zu bringen, dieses zu 
  
  akzeptieren.
  
  Aber Arafat wurde von Israel als Monster angeprangert, in die Mukatah 
  eingesperrt und am Ende umgebracht. Die Palaestinenser waehlten Mahmoud 
  Abbas zu seinem Nachfolger, da sie hofften, er wuerde von den Amerikanern 
  und Israelis das erhalten, was sie Arafat zu geben sich weigerten.
  
  Wenn die Fuehrer in Washington und Jerusalem tatsaechlich an Frieden 
  interessiert gewesen waeren, haetten sie sich beeilt, mit Abbas ein 
  Friedensabkommen zu unterzeichnen. Er hatte erklaert, er waere bereit, 
  dieselben weit reichenden Kompromisse zu machen wie Arafat. Die Amerikaner 
  und Israelis ueberhaeuften ihn mit allem erdenklichen Lob, wiesen ihn aber 
  in jeder konkreten Sache schroff zurueck.
  
  Sie machten Abbas nicht die geringsten Zugestaendnisse. Ariel Sharon rupfte 
  
  ihm die Federn aus und verkuendete dann, Abbas sei "ein gerupftes Huhn". 
  Nachdem die Palaestinenser geduldig, aber vergeblich darauf gewartet hatten, 
  
  Bush werde sich bewegen, stimmten sie fuer die Hamas, um mit verzweifelter 
  Hoffnung durch Gewalt das zu erlangen, was Abbas nicht auf diplomatischem 
  Wege erreichte.
  
  Die israelischen Fuehrer, die militaerischen wie auch die politischen, waren 
  
  uebergluecklich. Sie waren daran interessiert, Abbas' Autoritaet zu 
  schwaechen, weil er Bushs Vertrauen hatte. Sie taten alles, um die Fatah zu 
  
  zerstoeren. Um sicher zu gehen, verhafteten sie Marwan Barghouti, die 
  einzige Person, die dazu in der Lage gewesen waere, die Fatah 
  zusammenzuhalten.
  
  Der Sieg der Hamas passte vollkommen zu ihren Zielen. Mit der Hamas muss man 
  
  nicht reden, auch nicht den Rueckzug aus den besetzten Gebieten anbieten 
  oder gar ueber die Aufloesung der Siedlungen verhandeln. Die Hamas ist das 
  Monster unserer Zeit, eine "Terroristenorganisation" und mit Terroristen 
  verhandelt man nicht.
  
  *
  
  Warum also waren die Leute in Jerusalem in dieser Woche nicht zufrieden? Und 
  
  warum entschieden sie sich, sich "nicht einzumischen"?
  
  Zwar zeigten sich die Medien und die Politiker, die seit Jahren mitgeholfen 
  
  hatten, die palaestinensischen Organisationen gegen einander zu hetzen, 
  befriedigt und ruehmten sich mit "wir haben es euch doch gesagt!". Schaut, 
  wie die Araber sich nun gegenseitig umbringen. Ehud Barak hatte Recht, als 
  er vor Jahren sagte, unser Land sei wie "eine Villa mitten im Dschungel"
  
  Aber hinter den Kulissen konnte man Stimmen der Beunruhigung und Angst 
  vernehmen.
  
  Die Verwandlung des Gazastreifens in ein Hamastan hat eine Situation 
  geschaffen, auf die unsere Fuehrer nicht vorbereitet waren. Was muss jetzt 
  getan werden? Den Gazastreifen voellig abschneiden und die Menschen dort 
  verhungern lassen? Mit der Hamas Kontakt aufnehmen? Den Gazastreifen noch 
  einmal besetzen - nun, wo es zu einer grossen Panzerfalle geworden ist? Die 
  
  UN zu bitten, dort eine internationale Truppe zu stationieren und wenn ja, 
  welches Land waere so wahnsinnig, seine Soldaten in diese Hoelle zu senden?
  
  Unsere Regierung hat jahrelang daran gearbeitet, die Fatah zu zerstoeren, um 
  
  ueber kein Abkommen verhandeln zu muessen, das zum Rueckzug aus den 
  besetzten Gebieten und zur Aufloesung der Siedlungen dort fuehren wuerde. 
  Jetzt, wo genau dieses Ziel scheinbar erreicht worden ist, haben sie keine 
  Idee, wie man sich gegenueber dem Hamassieg verhalten soll.
  
  Sie beruhigen sich mit dem Gedanken, dass dies in der Westbank nicht 
  geschehen wuerde. Dort herrscht die Fatah. Dort hat die Hamas keinen 
  Rueckhalt. Dort hat unsere Armee schon die meisten politischen Hamasfuehrer 
  
  verhaftet. Dort ist Abbas noch an der Macht.
  
  So reden Generaele mit der Logik der Generaele. Aber auch in der Westbank 
  hat die Hamas bei den letzten Wahlen die Mehrheit der Stimmen erhalten. Auch 
  
  dort ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Bevoelkerung ihre Geduld 
  verliert. Sie sieht die Expansion der Siedlungen, die Mauer, erlebt die 
  Ueberfaelle unserer Armee, die gezielten Toetungen, die taeglichen 
  Verhaftungen. Sie wird explodieren.
  
  Die auf einander folgenden israelischen Regierungen haben die Fatah 
  systematisch zerstoert, staendig Abbas' Autoritaet beschnitten und fuer die 
  
  Hamas den Weg gepflastert. Nun vergiessen sie Krokodilstraenen.
  
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  Was sollte nun getan werden? Soll Abbas boykottiert werden oder soll man ihn 
  
  mit Waffen ausruesten, um ihn in die Lage zu versetzen fuer uns gegen die 
  Hamas zu kaempfen? Soll man ihn auch weiterhin daran hindern, irgendein 
  politisches Ziel zu erreichen oder ihm wenigstens ein paar Brosamen 
  hinwerfen? Und wenn ja ist es nicht viel zu spaet?
  
  (Und an der syrischen Front: weiter Lippenbekenntnisse abgeben und alle 
  Bemuehungen Bashar Assads, mit Verhandlungen zu beginnen, sabotieren? Im 
  Geheimen verhandeln, trotz amerikanischer Einwaende? Oder weiterhin einfach 
  
  gar nichts tun?)
  
  Im Augenblick gibt es keine Politik und keine Regierung, die politische 
  Entscheidungen trifft. Wer wird uns also retten? Ehud Barak?
  
  Baraks Sieg bei den Vorwahlen der Laborpartei hat ihn fast automatisch zum 
  naechsten Verteidigungsminister gemacht. Seine starke Persoenlichkeit und 
  seine Erfahrung als Generalsstabschef und Ministerpraesident sichert ihm 
  eine beherrschende Position in der neu aufgestellten Regierung. Olmert wird 
  
  sich mit Angelegenheiten befassen, in denen er unuebertrefflich ist: in 
  Parteiintrigen. Aber Barak wird einen entscheidenden Einfluss auf die 
  Politik haben. In den Regierungen der beiden Ehuds wird Ehud Barak ueber 
  Krieg und Frieden entscheiden.
  
  Bis jetzt hatten praktisch all seine Entscheidungen negative Ergebnisse. Er 
  
  hatte mit Assad dem Aelteren schon fast ein Abkommen erreicht und im letzten 
  
  Augenblick wieder aufgegeben. Er hat die israelische Armee aus dem 
  Suedlibanon herausgezogen, ohne mit der Hisbollah zu reden, die dann den 
  Suedlibanon uebernahm. Er zwang Arafat nach Camp David zu kommen, beleidigte 
  
  ihn dort in schlimmster Manier und erklaerte schliesslich, wir haetten 
  keinen Partner fuer den Frieden. Dies bedeutete den Todesschlag fuer 
  jegliche Friedensaussichten, ein Schlag, von dem die israelische 
  Gesellschaft noch immer wie gelaehmt ist. Er ruehmte sich, seine wirkliche 
  Absicht sei die gewesen, Arafat zu entlarven. Er war eher ein gescheiterter 
  
  Napoleon als ein israelischer de Gaulle.
  
  (16.6.07; Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, 
  vom Verfasser autorisiert/gek.)
Volltext: http://www.uri-avnery.de/
  
  
  
  
  
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