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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 8. Mai 2007; 14:06
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Bildung/Kommentar

> Schule und Gesellschaft [1]

Die Gewalt hat ihre Wurzeln im Kapitalismus


Heute lebt der Grossteil der Menschheit unter den Bedingungen der
allgemeinen Krise des Kapitalismus und der sie begleitenden ideologischen
Krise. Durch die Globalisierung hat sich das Elende und die Ausbeutung des
Menschen durch den Menschen verstaerkt. Dass der Kapitalismus entscheidende
Lebensprobleme der Menschen nicht loesen kann, wird den Jugendlichen immer
deutlicher bewusst und buergerliche Kaelte bewirkt Gleichgueltigkeit,
Resignation und letztlich Gewalt. [2]

Die krisenhaften Tendenzen, die auch in den Zentren der
hochindustrialisierten Welt spuerbar werden, treffen gerade junge Menschen
besonders hart, die noch keine Chance hatten, eine eigene Existenz
aufzubauen. Zunehmende Gewaltbereitschaft ist die Folge. Fuer ein ganzes
Heer von RegierungsvertreterInnen, BildungsexpertInnen,
ErziehungswissenschafterInnen, PsychologInnen etc. ist die Frage der
zunehmenden Jugendgewalt in Schule und Gesellschaft ein Phaenomen, dessen
Erforschung entweder ohne Zuhilfenahme der Soziologie durchgefuehrt werden
soll, oder die in den unerforschten Abgruenden des menschlichen Geistes
anzusiedeln ist. Wir wollen diese Frage in grundsaetzlicher Weise aufwerfen.

Aggression ist erlernbar. Wenn die Schule dem kapitalistischen System
unkritisch gegenuebersteht und Jugendliche nur ausbildet, damit sie im
Konkurrenzkampf oekonomisch ueberleben, duerfen wir uns nicht wundern wenn
soziale Defizite immer mehr zunehmen und sich in Gewalt aeussern. Gerade in
einer Situation des multikulturellen Zusammenlebens an oeffentlichen
Pflichtschulen etwa entstehen soziale Raenge unmittelbar in der Schule. Sie
wird zu einem Ort, wo Konkurrenz, Ellbogentechnik und der Kampf aller gegen
alle fuer das kuenftige Leben in der Profitgesellschaft trainiert werden.
Aber die Individuen sind nicht dafuer verantwortlich zu machen.

IdeologInnen des Kapitals

Die herrschende Ideologie (Paedagogik) hat ein auffallendes Desinteresse
daran, die zunehmende Gewalt zu erklaeren. Das hiesse naemlich, das
Scheitern der kapitalistischen Gesellschaft und ihres Bildungssystems
eingestehen zu muessen. In Zeiten von Privatisierungen, Ich-AGs und des
Vormarschs der Esoterik wird auch an Schulen alles unternommen, um die
gesellschaftlichen Dimensionen von Gewalt auf den Individualbereich zu
reduzieren. Die Herrschenden haben grosses Interesse daran,
gesellschaftliche Antagonismen in das "Innere" des menschlichen Bewusstseins
zu verlegen. Im Erziehungsbereich, wo die ideologischen Koordinaten junger
Menschen nachhaltig gelegt werden, hat diese einseitige psychologisierende
Methode desastroese Folgen. An einem Beispiel soll das gezeigt werden:

Einer der bekanntesten Theoretiker seines Faches ist Hartmut von Hentig. In
seiner paedagogischen Theorie bleibt die gesellschaftliche Realitaet
weitgehend ausgeklammert. Die oekonomische und soziale Welt sei von der
Schule weitgehend fern zu halten, denn die Schule sei "kein geeignetes
Mittel, die Gesellschaft zu veraendern, wohl freilich das Gute in ihr zu
foerdern." (Hartmut von Hentig, Die Schule neu denken. Muenchen, Wien,
1993)- Hentig gibt in seinem Buch "Minima Paedagogica" hoechst sonderbare
Anweisungen zum Gluecklichsein, wie etwa diese:

"Zuhoeren, mithoeren, traeumen / lernen, sich bewegen, sich in Szene setzen
/ ein Feuer machen und es hueten, Wasser stauen, ein tiefes Loch graben /
miteinander kochen und das Gekochte gemeinsam essen / danach abwaschen" etc.
etc.

Diese Perlen der Paedagogik sollen zu erfolgreichen Sozialisierungsprozessen
fuehren. Wie hilflos derzlei "Theorie" der gesellschaftlichen Realitaet
gegenuebersteht, demonstriert Hentig selbst hoechst anschaulich, wenn er die
Rolle und die Entstehung der Gewalt in der Geschichte thematisiert.
"Barbarei hat in er Weltgeschichte verschiedene Anlaesse, aber immer nur
einen Grund gehabt: Die Natur des Menschen, wenn sie ueberfordert ist. Das
Sprichwort "Hunger und Not kennt kein Gebot" sagt das im einfachen Reim."
(Hentig, a.a.o.) Das Beispiel Hentig soll fuer viele seiner Art stehen. Sie
gehen von der Oberflaeche der Erscheinungen aus und fluechten in die
deskriptive Analyse. Damit geben sie selbst, ohne dass dies explizit
zugegeben wird, politische Praemissen vor.

Der Schulalltag spiegelt die Barbarei der kapitalistischen Gesellschaft
wider

Lassen wir die Theorien und kommen wir zu den Tatsachen. Faktum ist, dass
Verhaltensstoerungen und ein breit gefaechertes Spektrum zunehmender
Gewaltanwendungen als allgemeine Tendenz an oeffentlichen Schulen zu
beobachten sind. Tatsache ist weiters, dass wir im Zeitalter fallender
Bildungsausgaben leben. Das geht im Pflichtschulbereich so weit, dass wir
von einer tendenziellen Aushungerung sprechen koennen. Lehrkraefte muessen
Faecher unterrichten, fuer die sie nicht ausgebildet sind. Tendenziell
werden kuenstlerische Faecher vernachlaessigt und ausgeduennt. Fallweise
wird gar kein Musikunterricht mehr abgehalten. Grund: "Es ist kein Geld da".
Mehr Geld ist da fuer Faecher, die der Verwertbarkeit des Menschen fuer die
Wirtschaft dienen. Die kulturelle Dimension, die Allgemeinbildung,
verkuemmert. Dringend noetige Massnahmen zur Sozialisierung von Kindern, die
aus proletarischen und sub-proletarischen Verhaeltnissen kommen oder deren
Eltern aus Kriegsgebieten gefluechtet sind, entfallen. Grund:
Sparmassnahmen. [3]

Kommen die Lehrkraefte mit Kindern, die von der Gesellschaft im
Vorschulalter nicht sozialisiert wurden, nicht zurecht, dann werden sie von
der Ministeriumsbuerokratie grundsaetzlich allein-verantwortlich gemacht.
Sie muessen daher "besser qualifiziert" werden und in ihrer Freizeit
"Fortbildungskurse" absolvieren. Die buerokratischen Schikanen werden
verstaerkt, ein sich verdichtendes System aus "Controlling" und "Feed back"
fuehrt zu Mehraufwand und weiterer unbezahlter Arbeit. In der sich
oeffnenden Schere aus buerokratischem Druck einerseits und Entsozialisierung
und kulturellem Rueckwaertsgang andererseits bleiben Kinder und LehrerInnen
auf der Strecke. "Burn out", Nervenzusammenbrueche und erhoehter
Konkurrenzdruck innerhalb der Kollegenschaft sind die Folge. Neue
Schulmodelle, psychologische Massnahmen, esoterischer Hokuspokus,
"Bildungsstandards" etc. werden die dramatischen Defizite im oeffentlichen
Schulbereich nicht eliminieren.

Entsolidarisierung und Gewalt nehmen zu

Die Jugendlichen erleben eine technisch hoch entwickelte Gesellschaft, die
mit Wirtschaftswachstum glaenzt und den Waren-Output vervielfacht. Zugleich
sehen sie, dass die Gesellschaft die notwendigsten Grundbeduerfnisse einer
zunehmenden Zahl von Menschen zu befriedigen. Der Reichtum dieser Welt ist
nur fuer Wenige, Lebensraeume und Lebensbedingungen der Anderen
verschlechtern sich permanent. Arbeitslosigkeit und Ausgeschlossen-Sein aus
der Gesellschaft drohen. In dieser Hoffnungslosigkeit verkommt die Schule zu
einer Reparaturanstalt fuer jene Schaeden, die eine tendenziell sich
brutalisierende Gesellschaft verursacht. Die kapitalistische Gesellschaft
gibt ihre immanente Krise in vorm von "Sachzwaengen" (z.B. Budgetkuerzungen)
an die Schulen weiter.

Viele junge Menschen, die oft in subproletarischen Verhaeltnissen
sozialisiert wurden, die oft in der Situation der "Halbsprachigkeit"
aufgewachsen sind, sehen keine Alternative vor sich, als sich mit
Gelegenheitsarbeiten durchs Leben zu schlagen. Das wissen sie schon in der
Schule und resignieren. Zugleich brennen sich die neoliberalen Axiome tief
in ihr Bewusstsein: schoen, reich, stark, erfolgreich, flexibel,
marktorientiert, karrierebewusst ...., auch wenn dazu keine Chance besteht.
Der weltgeschichtliche Abstieg verlaeuft vom Individuum zur Ich-AG.

Die Schuld traegt ein System, das auf Profitmaximierung, Sozialabbau und
militaerische Aufruestung setzt. Auch Oesterreich leistet seinen Beitrag zur
Aufruestung der EU, dieses Jahr liegt das oesterreichische Militaerbudget um
33% ueber dem des Vorjahres. Das "Lissabon-Ziel" der EU, naemlich staerkste
Wirtschaftsmacht der Welt zu werden, kostet gigantische Summen. Das Ergebnis
ist, dass die EU alle Ausgaben rigoros kuerzt, die dem Weltmachtstreben im
Weg stehen. Die Kosten tragen wir, vor allem aber eine junge Generation, der
zunehmend die Hoffnung auf eine bessere Welt geraubt wird.

Eine Gesellschaft, die Aufruestung, Massenarbeitslosigkeit, prekaere
Beschaeftigungsverhaeltnisse und zunehmende Ausbeutung jener, die noch im
Arbeitsprozess stehen, vorantreibt, ist alleinverantwortlich fuer die
Ausbreitung von Jugendgewalt in allen ihren Formen.
(Leider anonym/leicht gekuerzt)


(1) Dieser Text wurde einem Akin-Leser auf der 1.Mai-Demo zur
Veroeffentlichung uebergeben, leider ohne dass der Autor seinen Namen
nannte. Wir stellen trotzdem dessen Ueberlegungen zur Diskussion, hoffen
aber, dass sich der Autor noch namentlich meldet.

(2) Anmerkung der Tipperin: Gleichgueltigkeit und Resignation sind das
Gegenteil von Gewalt. Gewalttaetig werden Menschen m.E. aus Verzweiflung,
aus Wut, aber nicht aus Gleichgueltigkeit.

(3) Anmerkung der Tipperin: Die Herkunft aus dem Proletariat oder dem
Subproletariat ist m.E. nicht der Grund fuer mangelnde Sozialisation.
Vielmehr sind patriarchale, gewaltorientierte und "sprachlose"
Verhaeltnisse - die zweifellos mit dem Kapitalismus zusammenhaengen, aber
auch andere Ursachen haben - verantwortlich zu machen. Eine "proletarische
Erziehung" im klassischen Sinn ist genau das nicht.


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