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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 24. April 2007; 16:45
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Ruestung/Geschichte:

> Ohne Bosse ist besser

Vor 30 Jahren bei Lucas Aerospace

Ueber dreissig Jahre ist es her, dass britische Gewerkschafter und Techniker
das damals und auch heute kaum Denkbare taten: Sie legten einen Entwurf vor,
der nicht nur die Industrie und ihre Produktionsformen, die Gesellschaft und
ihre Machtverhaeltnisse, sondern auch den Umgang mit der Natur und den
Ressourcen radikal in Frage stellte.

Das Besondere daran: Ihr Entwurf, den sie im Januar 1976 der Oeffentlichkeit
vorstellten, bestand nicht aus einem Papier, das eine neue Welt skizzierte.
Die Beschaeftigten des Luftfahrt- und Ruestungskonzerns Lucas Aerospace
konnten mehr vorweisen. In muehsamer Kleinarbeit hatten sie eine Reihe von
Produkten entworfen und zum Teil bis zur Serienreife durchkonstruiert, die
in erster Linie dem Menschen dienen sollten.

"Wir haben damals auf einem kleinen Gebiet grosse Fragen aufgegriffen",
erinnert sich Mike Cooley, in den 70er Jahren Entwicklungsingenieur bei
Lucas Aerospace, "und sind damit auf ein enormes Interesse gestossen. Dabei
hatten wir nur die Konsequenzen aus einer Reihe von Widerspruechen gezogen."

Zu diesen Widerspruechen gehoerte bspw. der Gegensatz zwischen
Hochtechnologie und Armut, zwischen dem Potenzial industrieller Fertigung
und der gesellschaftlichen Realitaet. "Wir haben damals bei Lucas Aerospace
die raffiniertesten Maschinen produziert, Hochpraezisionsgeraete
angefertigt, Nachbrenner fuer Duesentriebwerke gebaut und Bordcomputer fuer
Militaerjets entworfen. Wir hatten Versuchseinrichtungen und Klimakammern,
in denen die Bedingungen des Weltraums simuliert werden konnten und
draussen, vor den Werkstoren, starben jeden Winter Tausende von alten
Menschen an Unterkuehlung, weil sie sich keine Heizung leisten konnten."

Ein weiterer Widerspruch, der die Beschaeftigten umtrieb, betraf die
Versprechungen, die die Automatisierung und Computerisierung der
Produktionsprozesse begleitet hatten: "Mikroprozessoren, Automaten und
Roboter wuerden den Arbeiter von mechanischen, entseelenden,
selbstzerstoererischen Taetigkeiten befreien, hiess es damals", sagt Cooley.
Herausgekommen sei jedoch das Gegenteil: degradierte Facharbeiter, deren
Fantasie und Vorstellungskraft nicht mehr gefragt waren, entwuerdigte
Produzenten, die kaum mehr waren als Maschinenanhaengsel.

Die Rationalisierungswelle

Lucas Industries Ltd. war bereits ein grosses britisches Unternehmen, als es
zu Beginn der 60er Jahre die Luft- und Raumfahrtsparte des noch groesseren
Elektrokonzerns General Electric Company (GEC) aufkaufte. Lucas belieferte
viele Industriezweige, vor allem die damals noch existierende britische
Automobilindustrie. 1970 beschaeftigte der Gesamtkonzern rund 80000
Arbeitskraefte, fuer die Konzerntochter Lucas Aerospace arbeiteten rund
18000 Spezialisten in 17 Werken. Doch diese grossteils hoch qualifizierten
Arbeiter kamen immer mehr unter Druck.

Die Einfuehrung nummerisch gesteuerter Maschinen fuehrte ueberall in
Grossbritannien zu Rationalisierungen und Massenentlassungen. Auch Lucas
Aerospace kuendigte Entlassungen an. Anfang der 70er Jahre konnten die
Beschaeftigen und das von ihnen gegruendete Combine Shop Stewards Committee,
eine Art inoffizielle Gesamtpersonalvertretung aller 17 Werke, Kuendigungen
aber noch verhindern.

Als das Management von Lucas Aerospace 1974 erneut von 4000 Entlassungen
sprach, begann das Combine Committee nach anderen Loesungen zu suchen und
wandte sich an die Labour Party. Die Partei, die gerade die Unterhauswahl
gewonnen hatte, diskutierte zu jener Zeit darueber, wie sie ihre
Wahlversprechen umsetzen sollte; eine ihrer Zusagen war gewesen, die
Luftfahrtindustrie zu verstaatlichen. Also besuchte eine grosse Delegation
von Shop Stewards (Vertrauensleuten) den Industrieminister Tony Benn.

Doch Benn lehnte eine Verstaatlichung von Lucas Aerospace ab; da wuerden die
anderen Minister nie zustimmen. Aber er versprach den Shop Stewards, sie in
ihrem Kampf zu unterstuetzen. Und so beschloss das Combine Committee im
Januar 1975, in die Offensive zu gehen. Im ersten Schritt schrieb es 180
Wissenschaftler und Universitaeten an: Wie koennen wir unsere Faehigkeiten
und Kenntnisse fuer das Gemeinwohl einsetzen? Gerade mal vier universitaere
Fachbereiche antworteten.

Das Desinteresse bringt Mike Cooley noch heute in Rage: "Diese arrogante
Elite verwechselt immer noch Sprachfertigkeit mit Intelligenz. Dabei zeigt
sich Intelligenz meist in ganz anderen Formen: wie man sich organisiert, wie
man konkrete Probleme bewaeltigt, wie man eine Sache anpackt." Er habe es
waehrend der Entwicklung des Lucas-Plans unzaehlige Male erlebt, dass
ungelernte Arbeiter aufgrund ihres unformulierten, aber latent vorhandenen
Wissens Loesungen fuer Probleme vorschlugen, die weder eine Datenbank noch
ein Akademiker gefunden haette.

Der Alternativplan

"Nach der Umfrage bei den Universitaeten", so Cooley, "taten wir das, was
wir von vornherein haetten tun sollen: Wir fragten die Arbeiter." Und so
entwarf das Combine Committee einen Fragebogen, der an die Shop Stewards
aller Werke ging: Wie viele Leute mit welchen Qualifikationen habt ihr?
Welche Maschinen stehen zu eurer Verfuegung? Wie wichtig sind die Manager?
Koennte die Belegschaft das Werk auch selbst betreiben? An welchen Produkten
mangelt es in eurer Umgebung, in der Gesellschaft, in der Welt?

Innerhalb weniger Wochen trafen unzaehlige Vorschlaege ein. In allen Werken
kam es zu Belegschaftsversammlungen, ueberall setzten sich Ingenieure,
Techniker, Facharbeiter zusammen, entwickelten neue Ideen und setzten sie
um. Sie fertigten Komponenten waehrend der Arbeitszeit, trafen sich zu
Besprechungen in der Mittagspause oder Freitag nachmittags, skizzierten
Plaene und tueftelten an Prototypen.

Nach rund einem Jahr hatte das Combine Committee insgesamt 150 Projekte
beisammen, praesentierte der Konzernleitung im Januar 1976 das Konzept und
legte es spaeter der Oeffentlichkeit vor.

"Das Management reagierte schockiert", erinnert sich Cooley. "Da trat ihnen
ploetzlich eine Belegschaft gegenueber, die ganz andere Gueter herstellen
wollte." Kein Einziger der zu diesem Zeitpunkt noch etwa 15000
Beschaeftigten arbeitete bei Lucas Aerospace, weil er gerne im
Ruestungsbereich taetig war.

Was die Konzernleitung verblueffte, war nicht nur die Frechheit ihrer
Arbeitskraefte, die es wagten, andere Produkte zu verlangen. Die Shop
Stewards forderten auch andere Produktionsformen: Wenn nicht mehr das
Kapital und der Markt darueber bestimmen, was fabriziert wird, dann muessen
die Beschaeftigten auch die Kontrolle ueber die Arbeitsablaeufe bekommen.

Der Lucas-Plan enthielt auch eine fundamentale Kritik der technologischen
Entwicklung. Die technische Entwicklung, sagt Cooley, werde auch heute noch
von den Militaers vorangetrieben, in deren Konzepten der Mensch nur als
Opfer eine Rolle spiele, ansonsten aber ausgeschaltet werden muss. "Unser
Plan fusste hingegen auf einem Konzept: Wir wollten die Menschen aus ihrer
Passivitaet loesen, die ihnen das System aufgezwungen hat."

Die Reaktion

Die Konzernleitung von Lucas Aerospace liess die Shop Stewards Monate nach
dem ersten Gespraech wissen, dass sich das Unternehmen "auch kuenftig auf
die traditionellen Geschaeftsbereiche Luftfahrtsysteme und Komponenten fuer
die Luftfahrt- und Verteidigungsindustrie konzentrieren" wolle. Die
Botschaft war eindeutig: Wer, wenn nicht wir, gibt hier eigentlich das
Kommando?

Die Oeffentlichkeit reagierte anders. Die serioesen Medien berichteten
ausfuehrlich ueber den Lucas-Plan. Die Financial Times nannte ihn den
"radikalsten Plan, den Arbeiter jemals fuer ihre Firma vorgelegt haben", und
in den folgenden Monaten griffen ueberall im Land Belegschaften die Idee
auf. So beschlossen die Beschaeftigten des Chrysler-Werks in Coventry
angesichts der "weit verbreiteten oekologischen Kritik an dem sozial
unverantwortlichen Transportmittel Auto", ebenfalls ein Alternativkonzept zu
entwickeln, und 1978 befuerwortete der Labour-Parteitag einhellig den
Lucas-Plan.

Doch wie so oft ignorierte die Labour- Regierung den Beschluss der
Parteitagsdelegierten. Auch war Tony Benn zu diesem Zeitpunkt nicht mehr
zustaendig er wechselte 1975 ins Energieministerium.

Dass der Lucas-Plan nie umgesetzt wurde, lag auch an den britischen
Gewerkschaften. Das Unternehmen befand sich in der Defensive. Unabhaengige
Marktforschungen hatten ergeben, dass die von der Belegschaft entwickelte
Waermepumpe allein in der EU einen Umsatz von einer Milliarde Pfund bringen
koennte doch die eigenen Organisationen reagierten skeptisch bis ablehnend.
Ohne die Hilfe der Gewerkschaften und die finanzielle Unterstuetzung der
Labour-Regierung konnten die Lucas-Aerospace-Beschaeftigten ihr Projekt aber
nicht weiter verfolgen.

Dass diese das Projekt fallen liessen, hatte mehrere Ursachen. Zum einen
stand die KP an der Spitze der Technikergewerkschaft TASS dem
basisdemokratischen Ansatz der Lucas-Beschaeftigten hoechst skeptisch
gegenueber. Die Lucas- Initiative passte auch nicht zum Oekonomismus, der in
vielen Gewerkschaften verbreitet ist: "Viele haengen immer noch der Idee an,
dass der Lohn alles wettmacht, wenn er nur hoch genug ist", sagt Cooley.
1981 schlug das Lucas-Management zurueck: Es bot Mike Cooley einen
Karrieresprung an, der ihn von der Basis abgehoben haette. Andernfalls
wuerde ihm gekuendigt. Cooley lehnte ab: "Sonst haetten alle gedacht, ich
habe die Seiten gewechselt. Zu diesem Zeitpunkt hatte Margaret Thatcher die
Regierungsmacht uebernommen. Und Lucas Aerospace hatte wegen der
"unguenstigen Marktentwicklung" nochmals Tausende entlassen.

Was blieb also uebrig von der Vision? "Viele unserer Ideen wurden
mittlerweile umgesetzt. Wir waren der Zeit einfach dreissig Jahre voraus",
sagt Mike Cooley. Und allmaehlich daemmere immer mehr Menschen, dass nicht
stimmt, woran viele lange Zeit glaubten dass es fuer jedes Problem eine
technische Loesung gibt.
(Pit Wuhrer, SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2007)

*

Anmerkungen:

Mike Cooley wurde 1981 mit dem "Right Livelihood Award" ("Alternativer
Nobelpreis") geehrt.

Die Langfassung dieses Artikels erschien zuerst in WoZ vom 15.2.2007:
http://www.woz.ch/artikel/2007/nr07/international/14562.html



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