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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 23. Jaenner 2007; 20:20
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"Gesundheit"/Glosse:
> "Behindert uns nicht"
Ueber das Recht auf Unvollkommenheit
"Behindert uns nicht", so lautet die Botschaft von Menschen mit 
unterschiedlichen Beduerfnissen, die sich in der Oeffentlichkeit 
selbstbewusst Gehoer verschaffen. Menschen, die sich bemuehen in den 
unterschiedlichsten Zusammenhaengen - von der Wissenschaft bis zur 
unmittelbaren Begleitung - fuer und mit "Menschen mit Behinderung" eine 
lebenswerte Umwelt zu gestalten, ringen um Bezeichnung, ringen um Benennung. 
Im Rahmen der Sprachdebatte hat sich durchgesetzt, nicht mehr von 
behinderten Menschen zu sprechen, sondern von "Menschen mit Behinderung", 
der Mensch soll im Mittelpunkt stehen. Dieser Grundgedanke laesst ausser 
acht, dass die Bezeichnung "behinderter Mensch" den Interpretationsspielraum 
des behindert Werdens durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen noch offen 
gelassen hatte, waehrend die Rede von "Menschen mit Behinderung" die 
Behinderung zur Sache dieser Person macht. In dieser Sprachdebatte spiegelt 
sich die Aufrechterhaltung von Distanz, letztlich des Unterschiedes zwischen 
normal und anormal wider. Was wuerden Sie empfinden, wenn Ihnen eine Frau, 
die ihr Leben im Rollstuhl verbringt erzaehlen wuerde, sie haette gerade ihr 
erstes Kind geboren und mit Bedauern feststellen muessen, dass es keine 
Behinderung hat?
Nach Galtung liegt Gewalt dann vor, wenn "Menschen so beeinflusst werden, 
dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als 
ihre potentielle Verwirklichung". Er praegte den Begriff der strukturellen 
Gewalt, diese benennt die im System, in der Gesellschaft eingeschriebenen 
Faktoren der Gewalt, etwa die Einschraenkungen der Freiheit und die 
Einschraenkungen der Identitaet. Einschraenkungen der Freiheit erfolgen 
durch Marginalisierung und Vereinzelung. Einschraenkungen der Identitaet 
erfolgen durch Penetration und Normierung. Penetration schafft den 
betroffenen ausgeschlossenen Personen um den Preis der Anpassung einen Platz 
im benachteiligten Raum. Eine Form der Normierung ist die Verobjektivierung 
durch Diagnosen und Behandlungstechniken.
Die gesellschaftlichen Verhaeltnisse sind der Ort der Realisierung von 
Gewalt. Geistige Behinderung setzt sich zusammen aus Behindert-Sein und 
Behindert-Werden, entsteht durch Interaktionsverschraenkungen nach der 
Geburt. Erst der gesellschaftspolitische Rahmen, die Sozialisation schaffen 
die Bedingung der Moeglichkeit der geistigen Behinderung. Sie ist eine 
soziale Herstellung einer der Biologie zugeschriebenen Eigenschaft. Im 
Alltag der betroffenen Menschen sind emotionale Reaktionen des sozial 
vermittelten Schreckens nur allzu praesent. Die medizinische Lehre von den 
‚Fehlbildungen', die Teratologie, leitet ihren Namen von ‚teras' (gr) = 
Monster ab, um nur ein Beispiel fuer Phantasmen im sozialen Bewusstsein der 
Gesellschaft zu nennen.
Die Grenzen zwischen Normalitaet und Anormalitaet sind historisch entstanden 
und nach jeweiligen Machtlagen verschoben worden. Im Mittelalter galten 
Kinder, die den damals gueltigen Kriterien nicht entsprachen, als vom Teufel 
"Besessene", von satanischen Maechten untergeschobene Kinder, als 
"Wechselbalg". Wer der Selektion in der Kindheit entkam, fiel den 
Hexenprozessen und Folterungen zum Opfer. Zu Beginn der Neuzeit wurden 
Menschen vermehrt in Narren- und Tollhaeuser gesperrt. Als anormal geltende 
Menschen wurden haeufig zur Belustigung des Publikums ausgestellt und 
tiergleich in Kaefigen gehalten. Die mit der Aufklaerung entstehenden 
medizinisch-psychiatrischen Wissenschaften entwickelten eine Pathologie des 
Wahnsinns, die die Menschen als krank erklaerte, als die Welt fehlerhaft 
deutend und folglich als un- bzw. irrsinnig reagierend. Initiiert wurde eine 
bis in die Gegenwart reichende Suche nach objektiv begruendbaren somatischen 
Ursachen einer vorab vermuteten Krankheit des Wahnsinns.
Waehrend der Phase der beginnenden Industrialisierung im 19. Jahrhundert 
entstanden unter dem Einfluss sozialdarwinistischer Erkenntnisse 
Perspektiven, die ob der angespannten sozialen Situation Gesundheits- und 
Bevoelkerungspolitik biologistischen Steuerungsprogrammen unterwarf. Die 
"Schuld" an ihrer sozialen "Unbrauchbarkeit" wurde den betroffenen Menschen 
gegeben, die zahlreichen Anhaenger dieses Ansatzes in Wissenschaft und 
Politik legten den ideologischen Grundstein fuer die Euthanasie zur Zeit des 
Nationalsozialismus.
Heute entpuppen sich die Tendenzen der Humangenetik, eugenische 
Zielsetzungen und praeventive Praktiken als blosse Selektion von 
auserwaehlten, als qualitativ wertvoll erachteten Menschenmaterials. 
Argumentiert wird mit der Vermeidung von Leid. In Aussicht gestellt wird 
eine behindertenfreie Welt. Ein Mythos einer Normalitaet wird geschaffen, 
mit dem aus dieser Perspektive Behinderung zum vermeidbaren, nicht 
lebenswerten Leidenszustand wird. Es geht um die Erschaffung des "perfekten 
Menschen". Die biomedizinische Oekonomie erzeugt einen Machbarkeitsdruck.
Inmitten dieser gesellschaftlichen Stroemungen finden sich betroffene 
Menschen zu Interessensverbaenden und Bewegungen zusammen, diskutieren ueber 
Wege der Integration und Inklusion, plaedieren fuer eine Ethik der 
persoenlichen Verantwortung und eine Ethik der Anerkennung des Anderen.
Jeder Mensch hat ein Recht auf Unvollkommenheit. Darin liegt die 
Moeglichkeit von Entwicklung. Leben und Lebensmoeglichkeiten in aller 
Vielfalt wahrzunehmen, unterschiedliche Blickwinkel der Betrachtung von Welt 
und Mensch als Bereicherung zu begreifen, von einer Grundhaltung auszugehen, 
die den anderen Menschen als gleichwertig erachtet, alle Menschen in ihrem 
Grundbeduerfnis, angenommen zu werden, ernst zu nehmen, schafft die Basis 
menschlicher Waerme und Geborgenheit, schafft die Lust am Entdecken unserer 
Potentiale, unserer Kreativitaet, am miteinander Lernen und Wachsen. 
Lebensfreude wird zum Merkmal der Lebensqualitaet.
*Rosalia Krenn*
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