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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 16. Jaenner 2007; 19:00
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Venezuela:
> Hinter der bolivarischen Fassade
In den 1960er und 70er Jahren war der Name Douglas Bravo fast allen
gelaeufig, die sich mit den lateinamerikanischen Revolutionsprozessen
auseinander setzten. Heute ist der 74-jaehrige Chefideologe der
venezolanischen Guerillabewegungen, der zu Beginn der 1960er Jahre die
Fuerzas Armadas de Liberación Nacional (FALN) gegruendet hatte, weitgehend
in Vergessenheit geraten; nicht so in Venezuela selbst, wo er sowohl
innerhalb als auch ausserhalb der Anhaengerschaft von Hugo Chávez hohes
Ansehen geniesst.
Das nachfolgende Gespraech fand zwei Tage nach den Praesidentschaftswahlen
vom 3.Dezember in Bravos kleiner Wohnung im 18.Stockwerk eines jener
abgetakelten Wolkenkratzer statt, die das Stadtbild von Caracas so
nachhaltig praegen. Zu unserer grossen Ueberraschung schwelgte unser
Interviewpartner jedoch nicht in seiner laengst ueberwundenen Vergangenheit,
sondern entfaltete eine zukunftsweisende Vision, aus der bei aller Kritik an
seinem ehemaligen Waffenbruder Hugo Chávez die Moeglichkeit einer
alternativen Gesellschaftsordnung hervorleuchtet. Das Gespraech fuehrte Leo
Gabriel.
- Wie wir wissen, haben Sie sich immer wieder kritisch zu Praesident Chávez
geaeussert. Welches sind die ideologischen Grundlagen fuer diese Position?
Der "Dritte Weg" ist eine politische Stroemung, die aus der Partido de la
Revolución Venezolana hervorgegangen ist. Diese Stroemung spiegelt die
politische Beziehung mit unserem Freund José Maria wieder. José Maria war
der Deckname von Hugo Chávez, als wir uns trafen, um die politischen
Projekte gegen den Pacto de Punto Fijo zu diskutieren, mit dem sich die
venezolanische Bourgeoisie an die USA verkaufte. Diese Diskussionen
etablierten einen programmatischen Rahmen, in dem wir gemeinsame Strategien
erarbeiteten, um die verloren gegangene Souveraenitaet wiederzuerlangen. Das
ging so lange gut, bis sich Chávez dann bei seinem ersten Wahlkampf mit
einer Reihe von politischen Kraeften umgab, die den ehemaligen Strukturen
des Pacto de Punto Fijo angehoert hatten: COPEI, Acción Democrática und URD.
Und als Chávez sein erstes Kabinett bildete und den Generalstab ernannte,
hatte er sich von den revolutionaeren Positionen bereits entfernt. In keinem
Moment habe ich jedoch die freundschaftlichen Beziehungen zum Praesidenten
abgebrochen, aber ich habe mich politisch von ihm distanziert.
- Aber hat sich nicht Chávez dann wieder geaendert und gegen Mitte seiner
Amtszeit radikalisiert? Hat das nicht Ihre Meinung ueber ihn wieder
veraendert?
In dem Masse, in dem er seine Bolivarianische Allianz vorantrieb,
radikalisierte er seine anti-imperialistische, anti-kapitalistische und
globalisierungskritische Sprache. Seine Praxis widersprach dem aber. Wenn
wir uns etwa die Verfassung anschauen, so bemerken wir, dass diese den
kapitalistischen Neoliberalismus widerspiegelt. Im Artikel 299 heisst es zum
Beispiel, dass die Wirtschaft demokratisch, partizipativ, selbstverwaltend
und marktwirtschaftlich sein soll. Das ist schon der erste Widerspruch: Eine
Wirtschaft kann nicht zugleich marktorientiert und demokratisch sein. Oder
der Artikel 312 oder 313, wo der Staat den transnationalen Unternehmungen,
wie z.B. den Erdoelkonzernen, alle Garantien einraeumt.
- Sie meinen also, dass die Politik von Chávez einen doppelten Boden hat?
Ja genau. Denn unter Berufung auf diese Verfassung sind 49 Gesetze
entstanden, die alle einen neoliberalen Charakter haben.
- Zum Beispiel?
Das Landgesetz, das Gesetz ueber den Lebensraum der Indigenen, das Gesetz
ueber die Mineraloele und das Erdgas. Am 30. Maerz dieses Jahres wurde im
Parlament z.B. ein Rahmengesetz fuer die gemischten Betriebe verabschiedet.
Dieses Gesetz legt fest, dass die internationalen Erdoelkonzerne fuer die
Leistungen, die sie erbracht haben und fuer die sie auch bezahlt wurden,
jetzt zu 40 Prozent zu Miteigentuemern der Betriebe werden. Andere Laender
wie Mexiko und Saudi Arabien haben diese Politik der Auslieferung der
Betriebe an die Transnationalen Konzerne nicht mitgemacht. Ausserdem gibt
das Gesetz den Multis das Recht, eine multinationale Streitkraft zu
schicken, wenn der venezolanische Staat die Vereinbarungen nicht einhaelt.
Das ist sehr schwerwiegend. Denn wir wissen ganz genau, dass die USA mit den
21 Milliarden Fass Oel, die sie noch unter ihrem Territorium haben, ihre
Oelreserven bald erschoepfen werden. Sie brauchen also das Oel von
Afghanistan und Venezuela und sind bereit, alle Mittel einzusetzen, um sich
dessen zu bemaechtigen. Um sich als Imperium aufrecht zu erhalten, brauchen
die USA also die 300 Milliarden Fass Erdoel, die es in Venezuela gibt. Und
das erwaehnte Gesetz gibt ihnen die Moeglichkeit, diese Verletzung der
Souveraenitaet auch "legal" durchzufuehren.
- Aber andererseits gibt es das Landgesetz (Ley de Tierras), das die
Grundlage fuer eine umfassende Agrarreform abgibt?
Urspruenglich dachten wir, dass dieses Landgesetz die Grossgrundbesitzer
benachteiligt. Heute wissen wir aber, dass es auch den Boden fuer die
Uebernahme der Laendereien durch agroindustrielle Grossbetriebe bereitet
hat. Denn 80 Prozent der Kredite fuer die durch das Gesetz enteigneten
Laendereien sind den Agroindustrien zugesprochen worden und nur 20 Prozent
den vielen, vielen Kleinbauern, fuer die das Gesetz angeblich gemacht wurde.
Ja mehr noch: Waehrend frueher die Landlosen Landbesetzungen vornahmen und
manchmal gesiegt haben, sagt jetzt das Gesetz: Wer Landbesetzungen vornimmt,
verliert automatisch den Anspruch auf Eigentum und Kredite.
Auch die Formulierung des Gesetzes ueber den indigenen Lebensraum (Ley de
Habitat Indígena) ist komplizierter, als es den Anschein hat.
- Warum?
Weil es zwar viele schoene Worte ueber das Recht der indigenen Voelker auf
ihre eigene Kultur enthaelt. Wenn es aber an den oekonomischen Kern geht, so
bestimmt das Gesetz, dass sich die Demarkierung nur auf ihr "Habitat"
erstreckt, also das umliegende Gemeindeland, und nicht auf das gesamte
Territorium, auf das sie den Bestimmungen der UNO zufolge einen gesetzlichen
Anspruch haetten. Warum also? Weil es auf den indigenen Territorien wie in
der Gran Savana, im Amazonas, in der Sierra de Perejá Uran, Gold, Bauxit,
Erdoel und Erdgas gibt.
- Aber gibt es da nicht auch eine Stroemung innerhalb des Movimiento Quinta
República, die gegen diese neoliberalen Tendenzen auftritt? Was halten Sie
z.B. von den Misiones und den Kooperativen, die in den letzten Jahren
entstanden sind?
Theoretisch muss man diese Misiones beglueckwuenschen, denn durch sie werden
teilweise die Einnahmen aus dem Erdoelgeschaeft umverteilt, die
traditionellerweise von den Multis, der nationalen Bourgeoisie und der
Buerokratie aufgefressen wurden. Heute kommt ein Teil, wenngleich auch ein
sehr geringer Teil, den armen Klassen zu gute. Aber das hat ueberhaupt
nichts zu tun mit dem Kampf um eine alternative, parallele Macht dieser
benachteiligten Schichten. Wenn wir uns anschauen, wie sie organisiert sind,
muessen wir feststellen, dass diese Organisationen sehr vergaenglich sind
und ueberhaupt nicht nachhaltig. Es wird also in keiner Weise dadurch ein
Modell geschaffen, das eine Alternative zum Kapitalismus darstellt. Es gibt
keine Gemeinde, keine einzige Kooperative, die gemeinschaftlich,
selbstverwaltet und oekologisch produziert. Heute werden mehr Pestizide
eingesetzt als in anderen Perioden der Geschichte des Landes.
- Aber es gibt doch eine Bank fuer die Frauen und eine Vielzahl von
Kooperativen, die wir gesehen haben?
Ja, aber darunter gibt es keine einzige, die selbstaendig waere. Alle werden
sie durch den Staat finanziert! Das ist alles ein Geschenk, und wenn es ein
Geschenk ist, dann kann es auch nicht dazu beitragen, ein neues System zu
kreieren, das eine Alternative zum Kapitalismus darstellt.
- Aber es gibt doch auch linke Kraefte innerhalb der Bewegung um Hugo
Chávez, wie z.B. die, die sich im Barrio 23.Januar und in vielen anderen
staedtischen Randvierteln gebildet haben?
Ja, aber wir muessen auch die Saeuberung der linken Kraefte in Rechnung
stellen, die seit 1999 stattgefunden hat, als die Regierung Chávez ihr Amt
angetreten hat. Vielleicht haben Sie bemerkt, dass es in der Regierung einen
linken Fluegel gibt, einen revolutionaeren Fluegel. Es gibt ein radikales
Denken in der Regierung, das mit der Regierungspolitik ueberhaupt nicht
einverstanden ist. Ich wuerde sogar sagen, dass diese Leute 80 Prozent der
Bewegung darstellen. Da gibt es die Campesinos, Indígenas, die Arbeiter usw.
Aber wir koennen uns nichts vormachen: Diese 80 Prozent halten nicht die
realen Machtfaktoren in ihren Haenden. Diese gelangen jeden Tag mehr in die
Haende des neoliberal-kapitalistischen Sektors.
Erstmals erschienen in Lateinamerika Anders Panorama 6/2006
http://www.lateinamerika-anders.org
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