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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 9. Jaenner 2007; 20:44
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Buecher

> Revolutionaer gegen das "Kapital"

Bollinger, Stefan (Hrsg.):
Lenin. Traeumer und Realist.
Wien (Promedia Verlag) 2006. (= Edition Linke Klassiker)


In der Reihe "Edition Linke Klassiker" ist im Wiener Promedia Verlag eine
Auswahl von Texten Lenins erschienen. Damit wurde der Versuch unternommen,
seine Schriften fuer eine neue Generation wieder lesbar zu machen.
Grundsaetzlich ist dies kein leichtes Unterfangen, da die moderne Lektuere
Lenins auf eine grosse Zahl von Hindernissen trifft. Lenin erscheint fuer
die heutige Generation, die gepraegt wurde durch die
Antiglobalisierungsbewegung, zunaechst ueberhaupt nicht zugaenglich. Die
Bedingungen und Problemstellungen, die das Werk Lenins hervorgebracht
hatten, muten heute fuer jene zu weit entfernt an. Obwohl Marx als Prophet
der Globalisierung noch Eingang in das zeitgenoessische Feuilleton gefunden
hat, wie wir dem Klappentext entnehmen koennen, trifft dies keineswegs auf
Lenin zu. Wie kann man also heute Lenin lesen? Das ist die Frage, die sich
bei der Lektuere des Bandes dem Leser aufdraengt.

Stefan Bollinger, der Herausgeber dieses Sammelwerkes, ueberschreibt seine
Einleitung mit dem Titel "Ein Revolutionaer gegen das ‚Kapital'". Damit
spielt er auf einen Text Gramscis ueber die Oktoberrevolution an, der die
Doppeldeutigkeit dieses Titels thematisiert. Er betrachtete die
Oktoberrevolution nicht nur als Revolution gegen das Kapital, sondern auch
als Revolution gegen die orthodoxe Marx-Interpretation. Lenins politisches
und theoretisches Vermaechtnis bewegt sich in dieser Doppeldeutigkeit.

Die Auswahl der Texte umfasst die wichtigsten Bereiche in Lenins Werk: Die
Frage der Entwicklung des Kapitalismus in Russland und die politischen
Aufgabenstellungen der Sozialdemokratie werden im ersten Abschnitt
behandelt. Darauf folgen Ausfuehrungen Lenins zur Frage der Organisierung
und des Parteiwesens. Die Problemstellungen von Krieg und Imperialismus
sowie das Versagen der II. Internationale werden in den naechsten
Abschnitten vorgestellt. Natuerlich duerfen auch Lenins Ueberlegungen zum
nationalen Selbstbestimmungsrecht, zur Theorie der Revolution in Russland
und zur Macht- und Staatsfrage nicht fehlen. Schliesslich folgt darauf ein
Kapitel zur Neuen Oekonomischen Politik. Abgerundet wird das ganze durch ein
Kapitel ueber das Problem der halbasiatischen Produktionsweise in Russland.
In diesem inhaltlichen Rahmen bewegt sich die Auswahl der Texte. Die Texte
beruhen auf der bekannten Werkausgabe des frueheren Instituts fuer
Marxismus-Leninismus beim ZK der SED.

Die Auswahl umfasst damit die wesentlichen Bereiche im politischen Wirken
Lenins, obwohl es aufgrund der gebotenen Kuerze natuerlich gewisse
Auslassungen geben musste. Eine neue Aufarbeitung der Aspekte in Lenins Werk
kann und will diese Ausgabe nicht leisten.

Eingeleitet wird das Buch von Stefan Bollinger, der drei Aspekte behandelt,
die Lenins Aktualitaet zeigen.. Da ist zum ersten die Frage, wie in einem
gesellschaftlichen Umwaelzungsprozess ein tiefgehender Bruch mit der alten
Gesellschaft vollzogen werden kann. Dieser Prozess bewegt sich in einem
Spannungsverhaeltnis zwischen revolutionaerem Bruch und den notwendig
einzugehenden Kompromissen. Ein zweiter Aspekt ist die Frage des Leninschen
Antidogmatismus. Die Oktoberrevolution war, wie schon erwaehnt, auch eine
Revolution gegen die marxistische Orthodoxie der II. Internationale, die das
"Kapital" mechanistisch ausgelegt hatte. Der dritte aktuelle Aspekt ist die
Machtfrage. Denn Lenin betont immer wieder in eindringlicher Weise die
Bedeutung der Machtfrage fuer den revolutionaeren Prozess. Die heutigen
Debatten laufen genau in die gegenteilige Richtung, sodass es unzutreffend
erscheint, in diesem Zusammenhang von Lenins Aktualitaet zu sprechen. Eine
neuerliche Lektuere Lenins koennte jedoch hier die grossen Leerstellen der
zeitgenoessischen Debatte aufzeigen. Natuerlich kann es keinesfalls um eine
einfache Reproduktion der Leninschen Positionen gehen. Doch Vergleiche zu
modernen Problemstellungen ziehen, ist durchaus sinnvoll.

Die neuerliche Lektuere Lenins waere somit nicht eine fuer die
Attac-Generation, sondern vielmehr eine gegen sie. In dieser Lektuere Lenins
wuerde es darum gehen, die heutigen Problemstellungen neu aufzuarbeiten..
Denn viele der behandelten Fragestellungen und Ueberlegungen Lenins
widersprechen den grundlegenden Thesen der Antiglobalisierungsbewegung. Die
Feststellung, dass "...die Hauptfrage jeder Revolution [...] zweifellos die
Frage der Staatsmacht..."(1) sei, trifft diese politische Bewegung wohl ins
Mark. Diese Problemstellung wird auch von Stefan Bollinger ausformuliert.
Dabei thematisiert er am Rande auch das Verhaeltnis zur liberalen Demokratie
und damit zum Liberalismus als politischer Bewegung.(2) Denn die
Antiglobalisierungsbewegung ist, paradoxerweise, mit diesem Liberalismus auf
einer politischen Ebene verbunden, obwohl sie ihn auf einer oekonomischen
Ebene bekaempft. Die Lektion fuer die Antiglobalisierungsbewegung waere
daher, dass wenn sie den oekonomischen Liberalismus bekaempfen will, oder
wenn sie gar das kapitalistische Privateigentum angreifen will, sie
zunaechst mit der liberalen Demokratie brechen muss.

Stefan Bollinger wirft in seiner Einleitung eine Frage auf, die nicht
unbedeutend ist, obwohl sie recht simpel erscheint: "War Lenin ein
Revisionist?"(3) Bollinger versucht sich dieser Fragestellung historisch zu
naehern und gibt die wichtigsten Positionen Lenins wieder, die der
marxistischen Orthodoxie zu diesem Zeitpunkt widersprachen. Damit beruehrt
er aber einen wunden Punkt. Denn die gesamte sowjetisch gepraegte Literatur
betonte immer den orthodoxen Charakter des Leninschen Werkes. Dabei bezog
sie sich vor allem auf Lenins Kampf gegen den Revisionismus Bernsteins und
Lenins Ausspruch, der Marxismus sei allmaechtig, weil er wahr sei. Es blieb
unberuecksichtigt, dass Lenin viele Aspekte der marxistischen Theorie neu
bearbeiten musste. Es waren teilweise ganz neue Problemstellungen, denen
sich Lenin gegenueber sah. Die klassische additive Formel, die von Stalin
selbst gepraegt wurde und sich darin erschoepft, dass Lenin dem Werk von
Marx nur etwas hinzugefuegt habe, das der neuen Epoche des Imperialismus
Rechnung tragen sollte, ist nur zum Teil richtig. Lenin hat letztendlich die
Orthodoxie der II. Internationale bekaempft, die nicht bloss als Abweichung
und Degeneration analysiert werden kann. Das ist der Grund, warum Gramsci
von einer "Revolution gegen das Kapital" spricht..

Die heutige Lektuere Lenins sollte in einer neuerlichen "Revolution gegen
das Kapital" muenden. In der Tradition des besten Leninismus waere es
notwendig, alte Gewissheiten hinwegzufegen und sich den neuen Problemen aus
einer revolutionaeren Perspektive zu stellen. Es ist notwendig auf diese
neuen Problemstellungen zu reagieren und originelle, realistische und
gleichzeitig visionaere Loesungsansaetze zu finden. Das sollte eine
neuerliche Lektuere Lenins leisten koennen.

Gleichzeitig muss man Problemlagen, die dem Leninismus selbst anhaften,
ansprechen. So bemerkt Bollinger in seiner Einleitung: "Beide Seiten der
Sozialdemokratie [Opportunismus und radikale Linke] behielten auf ihre Weise
recht. Lenin hatte eine pragmatische und wie sich zeigen sollte,
realistische Loesung fuer den Kampf der russischen Arbeiterklasse gefunden.
Er bekam seine Revolution, aber es war ein Weg, der in Stalinismus und
kapitalistische Restauration fuehren sollte. Langfristig zeigte sich, dass
die Bedenken der gemaessigten Sozialdemokraten begruendet waren, die Lenin
hinweggefegt hatte." Diese Feststellung leidet zwar an der deterministischen
Behauptung, dass Lenins Weg in Stalinismus und kapitalistischer Restauration
muenden musste. Abgesehen davon waere diese kritische Fragestellung
ebenfalls eine Aufgabe der neuerlichen Lenin-Lektuere.

Was kann also eine Lenin-Lektuere im 21. Jahrhundert noch leisten und was
soll sie keinesfalls mehr leisten? Diese Frage laesst sich mit einem
politischen Utilitarismus beantworten, so wie Lenin ihn gepflegt hatte:
welche Formen der neuerlichen Lektuere Lenins nuetzen der politischen
Linken? Moeglicherweise kann diese Lektuere die grundlegenden Paradigmen der
Antiglobalisierungsbewegung zerbrechen, moeglicherweise kann sie einen Bruch
mit dem politischen Liberalismus herbeifuehren. Und moeglicherweise bietet
dieses Buch eine kleine Hilfestellung dafuer.
(Sebastian Baryli, Bruchlinien)


Quelle:
http://www.bruchlinien.at/index.php?subaction=showfull&id=1167757261&archive=&start_from=&ucat=15


(1) Lenin, Wladimir Iljitsch: Eine der Kernfragen der Revolution. In: Ders.:
Werke. Band 25: Juni - September 1917. 5. Auflage, Berlin 1977, S. 378.
(2) Bollinger, Stefan (Hrsg.): Lenin. Traeumer und Realist. Wien 2006, S.
28f.
(3) Ebenda, S. 12.
(4) Ebenda, S. 16



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