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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 19. Dezember 2006; 14:05
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Reflexionen:

> Gedanken fuer die Linke

Organisiert von KPOe, transform!european network of alternative thinking und
transform.at fand dieses Wochenende (15.-17.12.) eine Internationale
Konferenz ueber Austromarxismus statt.
Wir praesentieren ein paar erste Reflexionen und Berichte.

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Ganz ohne den typischen Charme, den Orte von linken Tagungen und
Fortbildungs-Seminaren oft an sich haben -- in der Art von Erholungsheimen
fuer stalinistische Spitzenfunktionaere der ehemaligen UdSSR -- fand die
Konferenz im Architekturzentrum des Museumsquartiers statt.

Von Freitag bis Sonntag trafen sich TeilnehmerInnen eines breiten linken
Spektrums mit Gaesten und VertreterInnen der Linken aus aller Welt zu
Podiums-Diskussionen und Diskussions-Panels im kleineren Rahmen, zu
kulturellen Veranstaltungen und Vortraegen, die sich, ausgehend vom Thema
Austromarxismus, mit Oekonomie, Philosophie, Geschichte, Soziologie,
Problemen und Visionen der neuen Linken beschaeftigten. Entspannt,
freundlich, tolerant, intelligent - so habe ich die Stimmung empfunden - was
auf die angenehme Atmosphaere der Veranstaltungsraeume und nicht zuletzt
auch darauf zurueckzufuehren war, dass die Veranstaltung nicht den Anspruch
hatte, alle linken Gruppierungen Wiens, bzw. Oesterreichs einzubinden oder
von einem Alleinvertretungsanspruch zu ueberzeugen. Von Vernetzung der
Linken war zwar die Rede, aber die wurde nicht krampfhaft herbeigewuenscht
und befohlen, sondern ergab sich aus einer Gemeinsamkeit der Weltsicht und
gemeinsamen Interessen heraus.

Abseits der Eroerterung der "Nationalen Frage" und der "Staats- und
Transformationstheorie" nahm ich an zwei Veranstaltungen im kleineren Rahmen
teil: einem Panel zum Thema Utopie im Austromarxismus und dem anderen schon
etwas breiter besuchten Forum zum Thema Parteimarxismus und Antisemitismus.

Beide Veranstaltungen hatten sehr gut informierte Vortragende, die den
geschichtlichen Bogen von Marx' Zeiten bis zur Zeit nach dem Zweiten
Weltkrieg spannten - und was die Utopien betrifft, bis in die Gegenwart. Es
ging zum einen um Utopie-Entwuerfe, konkret um Visionen eines veraenderten
und veraendernden Umgangs mit Fragen der Geschlechterdifferenz und allgemein
mit menschlichen Gefuehlen, genauer einer "neuen Organisation" der Liebe.
Der Blick auf den Austromarxismus als "Utopie-Laboratorium" scheint dabei
nicht allzu viel herzugeben:

Die oesterreichisch-marxistische Vision vom Glueck, der Besitz des eigenen
Haeuschens im eigenen Gruen des Schrebergartens und die Freude auf eine Zeit
ohne Arbeit, die einem aber gerecht verdient erst nach einem Leben voller
Plackerei zustand, naemlich als Pension, als Rente, als Ruhestand - war das
alles?

Die Vision einer grundlegend anderen Gesellschaft, mit Gleichheit in den
Beziehungen von Frauen und Maennern, mit anderen Beziehungsformen neben der
Kleinfamilie, scheint in den Utopien der Austromarxisten nicht so auffaellig
stattzufinden.

Sind Beglueckungspolitik, Erziehung, Bevormundung, Ordnung noch immer
Eckpfeiler nicht nur sozialdemokratischer, sondern auch revolutionaerer
Visionaere? Dagegen zitierte Schrage Landauers "aus dem Kapitalismus
austreten" - und als Folge dieses Willensaktes Autonomie in allen Bereichen.
Herausfinden der eigenen wirklichen Beduerfnisse und deren Erfuellung auf
angemessene Weise, passend zu den vorhandenen und erreichbaren Ressourcen
der Gemeinschaft und der Gegend, in der man lebt. Energieautonomie.
Konsumautonomie. Gemeinschaftliche Beziehungen, grossfamilienartig
organisiert, ohne Ausschluss von Alten, Schwachen oder Kindern, gewachsen,
geworden.

Die Stimmung der Diskussion war so frei und undogmatisch, dass es dem
sozialdemokratischen Kultur-Veteranen Dieter Schrage - genauso wie dem
ehemaligen Muehl-Kommunarden oder dem Open Source Visionaer Franz Nahrada
moeglich war, den Bogen zu spannen von der seit Marx veraenderten und doch
im wesentlichen gleich gebliebenen Sozial-Utopie zur persoenlichen Erfahrung
und dem privaten Traum.

Franz Nahrada sprach ueber die sich veraendernden Wertmassstaebe fuer
menschliche Arbeit in den Zeiten der mikroelektronischen
Technologieentwicklung. Arbeits- und Lebensbedingungen, wie sie in der 3.
Welt herrschen, werde es zunehmend auch in den Metropolen Europas und
Amerikas geben. Andererseits sieht er neue Utopien verwirklicht durch die
Moeglichkeit dezentraler Produktion und der Vernetzung der assoziierten
Produzenten. Er nennt als Beispiele Wikipedia oder die Open Source Bewegung.

Der "Inbesitznahme des Menschen mit Haut und Haaren" durch den ungebremsten
Kapitalismus stellt er die Utopie eines Lebens nach den eigenen
Beduerfnissen und Faehigkeiten (nach Marx) gegenueber.

Im Neusprech des Neoliberalismus werden "Freie" Arbeits- und Lebensformen
zur verbreiteten Lebensform: ganz ohne Stechuhr, naemlich rund um die Uhr
haben gut ausgebildete ArbeitnehmerInnen verfuegbar zu sein, mit ihrer
Kreativitaet und ihren Gefuehlen als ganzer Mensch dem Arbeitgeber
verpflichtet. Passen muessen alleinerziehende Muetter oder Menschen ueber
40. Den TeilnehmerInnen dieser Lebens-Modelle faellt ihre Sklaverei eine
Zeit lang gar nicht auf - ausser wenn ihnen frueher oder spaeter massive
Anzeichen der Verarmung und des Hungerns bewusst werden.

Aber auch die autonomen TeilnehmerInnen an den idealen freien kreativen
Netzwerken des Franz Nahrada muessen essen und Miete bezahlen. Und das geht
nach wie vor nicht ohne Lohnarbeit und die wird immer weniger.

Wir bleiben ein bisschen ratlos und haben das Thema erst angetippt. Wir
haben an Utopien auch nicht viel mehr zu bieten als die Austromarxisten des
letzten Jahrhunderts.

Vom Kongress weg gehe ich inspiriert (auch durch die Punschdaempfe von 3
Weihnachtsmaerkten auf meinem Weg) weiter ins Stadtkino, um den Film
"Bamako" des Maliers Abderrahmane Sissako zu sehen. Und da habe ich dann die
Verbindung zur Geschichte und einen Wegweiser zu einer Utopie der Gegenwart:
ich weiss wieder, was ihr nicht fehlen darf: Afrika ist meiner Utopie
zentral.

Oskar Lafontaine nannte bei einer Veranstaltung des Gegengipfels "Enlazando
alternativas" im Sommer 2006 in Wien drei zentrale Forderungen als
Ansatzpunkte eines gemeinsamen Kampfes gegen den Neoliberalismus und als
gemeinsamen Nenner fuer die Bildung von Allianzen quer durch Linke aller
Parteien und Zivilgesellschaft:

1. Eine Re-Regulierung der Waehrungskurse, um hemmungslose Spekulationen und
allzu leichte Kapitaltransfers zu verhindern
2. Ruecknahme von Privatisierungen der oeffentlichen Ressourcen
3. Aenderung der Auflagen des IWF und der Weltbank bei Kreditvergaben

Weltbank, WTO und IWFsind heute im angeblichen Interesse der
"Entwicklungsfoerderung" Vollzieher einer Politik, die den afrikanischen
Staaten die Luft zum Atmen wegnimmt.

Afrika ist kein armer Kontinent, es ist der reichste Ort der Welt. Aber
Afrika ist, wie Aminata Traoré sagt, ein Opfer seines Reichtums. Zuerst
Kolonialismus, dann - kaum davon befreit, - ausgeraubt und ausgebeutet von
einem Wirtschaftssystem, fuer das es sich nicht frei entschieden hat. Die
noch nicht zu Stabilitaet gelangten Regimes seiner Staaten sind gezwungen,
an einem Wettlauf teilzunehmen, den Afrika nicht in Gang gesetzt hat und an
dem es so nicht gleichberechtigt partizipieren kann. Die Regeln dieses
Wettlaufes stehen krass im Widerspruch zur Lebensweise seiner Bewohner. Den
Initiatoren und gewinnenden Teilnehmern dieses Wettlaufs hat dieser
Kontinent allerdings schon immer gratis die materiellen und menschlichen
Ressourcen als Basis fuer ihren heutigen Entwicklungsstand geliefert.

Schoen jedenfalls, dass das an einem Tag moeglich war: die Reise vom
Austromarxismus ueber die Entwicklungen und politischen Implikationen der
Globalisierung der letzten 20 Jahre zur Idee einer linken Utopie der
Gegenwart.

Diese Konferenz hat jedenfalls - fern von Dogmatismus und
Insider-Mentalitaet das Treffen und den Austausch wacher, kluger, kritischer
Geister ermoeglicht und als Folge weitere Kommunikation und
Vernetzungs-Kontakte gefoerdert, Tueren geoeffnet, Informationen ueber die
geschichtliche Basis der oesterreichischen Linken vermittelt und
aufgefrischt, Anstoesse gegeben und die Richtung gezeigt, wie's weitergeht.
*Eva Kumar*

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> Akzeptiertes Paradox

Franz Nahrada meinte in einem Internetbeitrag:

Die Neue Arbeit war in vielerlei Weise Thema auf diesem Kongress, den ich
als ein "Event einer nachdenklichen Linken" beschreiben moechte.
Ausgangspunkt dieses Kongresses war - nach ihrer finanziellen und
organisatorischen Niederlage - die Neuorientierung einer KPOe, die sich in
einem sehr stark von Frauen getragenen Nachdenkprozess endgueltig von ihren
leninistischen Wurzeln verabschiedet und auf die Suche nach der Rolle der
Linken im totalen Kapitalismus gegangen ist. Dabei ist der Austromarxismus
einerseits ein historisch beschraenkter Aufhaenger, andererseits
ueberraschte die frische und spannende Rezeption, vor allem Otto Bauers, der
mit fruehen Einsichten zu Wirtschaft und Politik die bis dato nicht wirklich
verstanden wurden, auch den heutigen Linken noch sehr viel zu sagen hat.
Gerade die bewusste Inkaufnahme dieses Paradox erscheint symptomatisch fuer
eine Linke, die offensichtlich endlich gelernt hat, mehrdimensional zu
denken. Haette frueher die Gedoppeltheit der Einsichten, dass buergerliche
Demokratie einerseits die adaequate Herrschaftsform des Kapitals,
andererseits die unabdingbare Voraussetzung einer transformatorischen
Entwicklung ist, sofort zu einer Spaltung in eine realistische und eine
antirevisionistische Linke gefuehrt, so wurde zumindest von einigen Leuten
die Tragweite solcher Doppelungen fuer das strategische Agieren im Heute
entdeckt.

Quelle: http://www.dorfwiki.org/wiki.cgi?NeueArbeit/Forum

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> Antisemitismusdebatte

Natuerlich gab es auch auf diesem Kongress so manch unueberbrueckbaren
Graben -- einer davon ging schon im Vorfeld der Veranstaltung auf, wie die
Gruppe ArbeiterInnenstandpunkt (ASt) kritisierte. Michael Proebsting vom ASt
wollte sich bei der Veranstaltung und zur dortigen Arbeitsgruppe
"Parteimarxismus und Antisemitismus" anmelden. Doch einen Tag vor der
Veranstaltung wurde er ausgeladen. Der ASt zitiert dazu das Absageemail, in
dem die Absage wie folgt begruendet wird: "Wir haben dies reiflich ueberlegt
und stellen die Ruecksicht auf unsere Gaeste vor Ihren Wunsch der Teilnahme.
Unsere Aufgabe ist es, die Rahmenbedingungen fuer ein konstruktives
Diskussionsklima zu schaffen. Zu viele aber haben gerade zu diesem Thema zu
viele destruktive Auseinandersetzungen mit Ihnen erlebt. Wir koennen eine
Stoerung unseres Panels nicht riskieren und stornieren daher Ihre Anmeldung.
Zwei alternative Panels stehen Ihnen zur selben Zeit offen."

Der ASt sieht dahinter eine Verleumdungskampagne, die die "KPOe-Fuehrung
sowie die sogenannten ´Antinationalen´" gegen den ArbeiterInnenstandpunkt
und Michael Proebsting sowie gegen zahlreiche andere AntiimperialistInnen"
fuehrten. (akin)



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