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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 5. Dezember 2006; 16:01
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Wirtschaft/Nachruf/Kommentar der Anderen:
Das "chilenische Wunder"
Milton Friedmans verheerendes Erbe
WALDEN BELLO, der bekannte globalisierungskritische Soziologieprofessor von 
den Philippinen und Direktor des Instituts "Focus on the Global South" in 
Bangkok setzt den lobtriefenden Nachrufen auf den Guru des Neoliberalismus 
eine Kritik der verheerenden Wirkungen der Friedman'schen Rezepte auf 
Lateinamerika, speziell Chile, entgegen.
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Waehrend Oekonomen den kuerzlich verstorbenen Milton Friedman loben, weil er 
"ein Held der Freiheit waere, dessen Arbeit die Oekonomien transformiert und 
die Welt veraendert haette", wie eine ganzseitige Annonce in der New York 
Times es ausdrueckte, werden die Menschen im Sueden den Chicagoer 
Universitaetsprofessor im Gedaechtnis behalten als Zentrum einer Zerstoerung 
ihrer Oekonomien. Fuer sie wird Friedman lange Zeit mit zwei Dingen 
assoziiert sein: "Freie Marktwirtschaft" in Chile und "Strukturanpassung" in 
Entwicklungslaendern.
Bald nach dem Putsch gegen Allende am 11.9.1973 uebernahmen chilenische 
Absolventen von Friedmans oekonomischer Fakultaet, die bald als die "Chicago 
Boys" tituliert wurden, das Steuer der Oekonomie und betrieben ein Programm 
der oekonomischen Transformation mit doktrinaerer Rachsucht. Friedmans 
vielzitierten Behauptung ueber die politische Freiheit, die Hand in Hand mit 
der Freiheit des Marktes gehe, erhaelt eine gewisse Ironie durch die 
Tatsache, dass in Chile ein Paradies der freien Marktwirtschaft mit Hilfe 
der Bajonette einer der blutigsten Diktaturen Lateinamerikas errichtet 
wurde. Das kann dem Guru nicht entgangen sein. Sogar als Friedman Chile 
waehrend der Diktatur besuchte und den radikalen export-orientierten 
Freihandelskurs des Regimes ebenso lobte wie den Diktator Pinochet fuer sein 
Engagement fuer "den voellig freien Markt als Prinzip", lieferte er Aussagen 
unter dem Titel "Die Zerbrechlichkeit der Freiheit", die angesichts der 
chilenischen Verhaeltnisse nur ironisch sein konnten. Sogar als er seine 
Kritiker anklagte, die ihn "teeren und federn" wuerden wegen der 
Menschenrechtsveletzungen des Regimes, war er noch stolz auf seine 
Inspiration dessen, was er "Chilenisches Wunder" nannte.
Nachdem seine Schueler ganze Arbeit geleistet hatten, war Chile tatsaechlich 
radikal zum Schlechteren veraendert. Die Politik der Freien Marktwirtschaft 
verschaffte dem Land zwei grosse Depressionen in einer Dekade, zuerst 
1974-75, als das Bruttonationalprodukt (BNP) um 12% fiel, dann 1982-83, als 
es um 15% fiel. Im Gegensatz zur ideologischen Erwartung ueber freie Maerkte 
und robustes Wachstum wuchs das BNP von 1974-89 (der Zeit der radikalen 
Friedman-Pinochet-Veraenderung) durchschnittlich nur um 2,6%, verglichen mit 
4% jaehrlich in den Jahren 1951-1971, als der Einfluss des Staates auf die 
Oekonomie viel groesser war.
Mit dem Ende der Periode der radikalen freien Marktwirtschaft waren sowohl 
die Armut als auch die Ungleichheit signifikant angewachsen. Der Anteil der 
Familien, die absolut mittellos waren, war zwischen 1980 und 1990 von 12 auf 
15 Prozent gewachsen, und der Prozentsatz von Familien unter der 
Armutsgrenze von 24 auf 26 Prozent.
Die Verteilung des Einkommens sah also so aus: Der Anteil des 
Volkseinkommens, der zu den 50 Prozent der Aermsten der Bevoelkerung ging, 
sank von 20,4 auf 16,8 Prozent, waehrend der Anteil, der zu den reichsten 10 
Prozent der Bevoelkerung geht, von 36,5 auf 46,8 Prozent anwuchs. Die 
Strukturveraenderungen der Oekonomie resultierten in einer 
"Deindustrialisierung im Namen der Leistungsfaehigkeit und 
Inflationsvermeidung" wie ein Oekonom es beschrieb, waehrend der Anteil der 
Industrieproduktion von 26 Prozent in den spaeten 1960ern auf 20 Prozent in 
den spaeten 1980ern sank. Viele metallverarbeitende und verwandte Betriebe 
wanderten ab waehrend eine exportorientierte Oekonimie die 
landwirtschaftliche Produktion und die Ressourcenausbeutung foerderte.
Die radikale Friedman-Pinochet-Phase der chilenischen oekonomischen 
Konterrevolution wurde in den fruehen 1990ern beendet, als die 
Mitte-Links-Koalition an die Macht kam. In Verletzung des klassischen 
Friedmanismus erhoehte sie die Sozialausgaben, um die Einkommenssituation 
Chiles zu verbessern. Diese interne Kaufkrafterhoehung trug bei zum 
jaehrlichen Wirtschaftswachstum von 6 Prozent in der Post-Pinochet-Zeit.
Wie auch immer, weil das sozialdemokratische Regime die Upper classes nicht 
herausfordern wollte, wurden die grundlegend neoliberalen Konturen der 
Politik beibehalten, mitsamt der Foerderung der Landwirtschaft und des 
Exports der natuerlichen Ressourcen. Daraus resultieren grosse 
Umweltprobleme wie Ueberfischung, oekologische Instabilitaet durch Lachs- 
und Muschelfarmen, Monokulturen in der Forstwirtschaft, die dazu fuehrten, 
dass Chile das am meisten entwaldete Land in Lateinamerika nach Brasilien 
ist. Umweltmanagement wird allgemein als ineffektiv angesehen und von den 
Vorgaben des export-orientierten Wachstums untergraben.
Chile sollte das Paradebeispiel fuer die Freie Marktwirtschaft sein, die auf 
diese Weise von Weltbank und Internationalem Waehrungsfond in den fruehen 
1980ern in anderen Drittweltlaendern eingefuehrt werden wollte. Etwa 90 
Oekonomien, Entwicklungslaendern und Postsozialistischen Staaten, wurde 
"Strukturanpassung" verordnet. Von Ghana bis Argentinien wurde der 
staatliche Einfluss auf die Oekonomie drastisch verringert, staatliche 
Unternehmen im Namen der Leistungsfaehigkeit privatisiert, 
protektionistische Barrieren gegen Importe komplett eliminiert. 
Restriktionen auslaendischer Investoren wurden aufgehoben und durch die 
Bevorzugung des Exports wurde die Oekonomie staerker an den kapitalistischen 
Weltmarkt angebunden.
Strukturanpassungsprogramme (SAP), die die beschleunigte Globalisierung der 
Oekonomie der Entwicklungslaender in den 1990ern bewirkten, schufen die 
gleiche Armut, Ungleichheit und die gleichen Umweltprobleme in den meisten 
Laendern wie in Chile, aber ohne das moderate Wachstum der 
Post-Friedman-Pinochet-Phase. Wie der Chef-Oekonom der Weltbank fuer Afrika 
zugab: "Wir haben nicht gedacht, dass die Human-Kosten dieser Programme so 
gross sein koennten und der oekonomische Gewinn so langsam in Gang kommt." 
Die SAPs waren so diskreditiert, dass Weltbank und Internationaler 
Waehrungsfond in den spaeten 1990ern die Bezeichnung in 
"Armutsverringerungsstrategie-Papiere" aenderten.
Nun sind aber Freie Marktwirtschaft und Strukturanpassungs-Programme bereits 
dermassen institutionalisiert, dass sie, obwohl sie weltweit als unbrauchbar 
erkannt wurden, fortgesetzt herrschen. Der Nachlass von Milton Friedman wird 
die Entwicklungslaender noch lange Zeit begleiten. Tatsaechlich gibt es wohl 
keinen besseren Spruch fuer Friedmans Grabstein als das Zitat aus 
Shakespeares Julius Caesar: "Was Menschen Uebles tun, das ueberlebt sie, das 
Gute wird mit ihren Knochen eingegraben."
(Uebersetzung und Bearbeitung: -ig-)
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