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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 12. September 2006; 17:21
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Wahlk(r)ampf 06/Gruene:
> Aerger garantiert
Brief der Gruenen Partei
Es begab sich in den Tagen vor der Nationalratswahl 2006, dass uns folgende
Einladung ins Haus flatterte:
"Am 1.Oktober wird gewaehlt. Und ihr wollt alle moeglichst viele Stimmen auf
eure jeweilige Liste vereinen. Aber warum soll man Euch eigentlich waehlen -
trotz allem? Oder noch genauer: Warum sollen Menschen mit linken
Ueberzeugungen Euch waehlen? Wenn Ihr uns das erklaeren koennt oder wollt,
seid ihr herzlich eingeladen, fuer unser Blatt einen Beitrag zu verfassen.
Alles, was nicht ein Standardwahlkampftext ist und auch sonst nicht die
Intelligenz unserer Leser beleidigt, werden wir gerne abdrucken."*
O.K., wir wollen! Aber koennen wir auch...?
Der Anspruch, den ihr an uns stellt, ist ja ziemlich hoch: Weniger das mit
der Beleidigung der LeserInnen-Intelligenz oder das Verbot des
Standardwahlkampftextes stellt uns vor Probleme, als viel mehr das Woertchen
"sollen". Denn: definitiv Nein! Das Waehlen der Gruenen wurde bis heute noch
nicht in das Pflichtenheft der "Menschen mit linken Ueberzeugungen"
aufgenommen. Und grob teilen sich die Gruenen in drei Gruppen: In jene, bei
der das Ausfuellen der "Wahlhilfe" wahlkabine.at eine Empfehlung fuer die
SPOe ergibt, dann jene, bei der KPOe herauskommt; und schliesslich auch
jene, fast schon vernachlaessigbare Gruppe, denen von wahlkabine.at die Wahl
der Gruenen nahegelegt wird.
Oder anders gesagt: Es gibt viele Menschen, denen die Schwerpunktsetzungen
der Gruenen ausreichend Gruende zur Wahl der Gruenen bietet:
* der Umstieg auf erneuerbare Energie,
* die Steigerung der Energieeffizienz,
* die Schaffung einer gemeinsamen Schule der Sechs- bis Vierzehnjaehrigen
und die Senkung der KlassenschuelerInnenhoechstzahlen,
* mehr Geld fuer Bildung auf allen Ebenen,
* die Bindung von Foerderungen und oeffentliche Auftraege an die effektive
Umsetzung von Frauenfoerderprogrammen,
* die Schaffung einer Grundsicherung fuer alle, die sie brauchen
* und vor allem der Vergleich mit der Programmatik und politischen Praxis
der MitbewerberInnen.
Aber die Vorstellung, dass es - siehe unser Problem mit wahlkabine.at -
Menschen geben kann, die mit einer einzigen Partei in all ihren inhaltlichen
Positionen und deren politischen Praxis uebereinstimmen, waere weltfremd.
Das trifft nicht nur auf WaehlerInnen der Gruenen zu, sondern -
innerparteiliche Diskussionen bzw ihre Rezeption beweisen es - auch fuer
Mitglieder, AktivistInnen und FunktionaerInnen der Gruenen.
Auch wir muessen unsere Arbeit hinterfragen und einer kritischen Bewertung
unterziehen. Etwa an Hand der Fragen:
* Ist es sinnvoll, sich auf formalisierte Demokratie einzulassen, wenn es
doch gerade darum geht, politische Partizipation jenseits formalisierter
Rituale zu ermoeglichen?
* Koennen wir unsere individuellen politischen Positionen in den
inhaltlichen Positionen einer Partei zumindest mehrheitlich wiedererkennen?
* In wie weit unterscheidet sich die politische Praxis einer Partei von
ihrer Programmatik?
Nun, es waere wohl etwas ueberraschend, wenn wir keinen Sinn darin saehen,
sich AUCH auf Elemente formalisierter Demokratie einzulassen. Gaebe es die
Gruenen im Nationalrat nicht, so gaebe es auf der formalisierten Ebene
ueberhaupt keine Stimme gegen die verschiedenen Abstufungen rassistischer
Politikansaetze der anderen im Parlament vertretenen Parteien.
Den Zwischenruf "Gruenes Migrationsmodell" haben wir gehoert, liebe
LeserInnen. Dennoch erlaubt uns, einmal unsere Aktivitaeten auf der formalen
Ebene zur Verbesserung der Situation etwa von "sans papiers" und Menschen in
Schubhaft in der letzten Legislaturperiode grob (und damit unvollstaendig)
darzustellen. Da waere unter anderem zu nennen:
* Entschliessungsantrag 2002 betreffend des Vorschlages einer
"Legalisierungsaktion" (602/AE XXI. GP).
* Abweichende persoenliche Stellungnahme zum Fremdenrechtspaket 2005 (mit
umfangreicher Schubhaftkritik auf der Parlamentshomepage).
* Umfangreiche parlamentarische Anfrage (75 Fragen) zu den Auswirkungen des
Fremdenrechtspakets in Bezug auf Schubhaft/Abschiebung (4066/J XXII. GP).
* Entschliessungsantrag zur Ratifizierung der UNO - Konvention zum Schutz
der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehoerien. (763/A
XXII. GP). Enthaelt konkrete Vorschlaege fuer Verbesserungen der Rechtslage,
auch fuer Menschen ohne Aufenthaltsrecht, inklusive der Schaffung von
Regularisierungsmoeglichkeiten. Im Menschenrechtsausschuss vom Juli 2006 auf
die Tagesordnung reklamiert, mit den Regierungsstimmen vertagt.
* Entschliessungsantrag 2006 zu "Dublin - Abschiebungen". Enthaelt konkrete
Forderungen zum Thema Schubhaft und AsylwerberInnen. (363/UEA XXII. GP).
* Entschliessungsantrag 2006 zu den Fluechtlingstragoedien u.a. mit der
Forderung, Schutzbeduerftige mittels Quoten auf EU - Staaten und natuerlich
auch Oesterreich aufzuteilen.
* Drei detaillierte parlamentarische Anfragen zum Fall Ceesay (Tod eines
Schubhaeftlings in Linz) haben sich abgesehen vom Einzelfall mit den
aktuellen Problemen in der Schubhaft auseinandergesetzt. Unzaehlige
Zeitungsartikel wurden vom gruenen Klub angeleiert (z.B Profil vom
6.2.2006). Die neue und schlechte Anhalteordnung wurde massiv kritisiert.
* Eine parlamentarische Anfrage zur Vergabe der Schubhaftbetreuung im
Dezember 2005 in Tirol hat sich umfangreich mit dem Thema Schubhaftbetreuung
beschaeftigt.
Die Qualitaet dieser Arbeit kann mit Hilfe der Ordnungsnummer der Anfragen
und Beantwortungen auf der Website des Parlaments ueberprueft werden. Wir
laden dazu herzlich ein. Unsere Arbeit waere nicht denkbar gewesen ohne
Unterstuetzung durch NGOs. Aber umgekehrt profitieren auch
ausserparlamentarische AktivistInnen von unserer Arbeit. Diese Arbeit
konnten wir nur leisten, weil wir tatsaechlich im Nationalrat sitzen.
Haben die Gruenen ueber gute Arbeit im Rahmen der formalisierten Demokratie
hinaus etwas zu bieten? Wir meinen - wenig ueberraschend - ja.
Als einzige im Parlament vertretene Partei verfuegen die Gruenen ueber so
etwas wie eine Vision fuer die Zukunft dieser Gesellschaft: Eine Vision, die
ueber punktuelle Arbeit hinausgeht und auf eine Veraenderung der sozialen,
oekologischen und politischen Situation dieser Gesellschaft abzielt. Um nur
ein paar Stichworte zu nennen:
* Als einzige im Nationalrat haben die Gruenen bereits 1997 ein Modell einer
bedarfsorientierten Grundsicherung erarbeitet und praesentiert. Ein Modell,
das mit der Almosengewaehrung der gegenwaertigen Sozialhilferegelungen
bricht und Rechtsansprueche auf Existenzsicherung FUeR ALLE, DIE ES BRAUCHEN
schafft, aber auch zentrale Rahmenbedingungen nennt wie etwa einen
gesetzlichen Mindestlohn, die Schaffung einer Arbeitslosenanwaltschaft oder
die Etablierung von Unterstuetzungsangeboten im Sozial-, Bildungs- und
Gesundheitsbereich. Ausgehend von der Tatsache, dass es eine Schande ist,
dass es im fuenftreichsten Land der Welt Arrmut gibt, geht es den Gruenen
aber nicht nur um Sicherung der physischen Existenz von Menschen, sondern um
den Zugang zum gesellschaftlichen Leben fuer alle.
* Als einzige im Nationalrat vertretene Partei besetzen die Gruenen
zumindest 50% der Funktionen mit Frauen.
* Als einzige Partei haben wir konkrete Vorschlaege vorgelegt, die etwa
Foerderungen und Zugang zu oeffentlichen Ausschreibungen von
frauenpolitischen Massnahmen in Betrieben abhaengig machen.
* Als einzige Partei haben wir eine Karenzmodell vorgelegt, das auf
Erhoehung der Beteiligung von Maennern an der Betreuungsarbeit abzielt und
partnerschaftliche Aufteilung der Betreuungsarbeit sowie berufliche
Orientierung der Betreuenden belohnt.
* Als einzige im Parlament vertretene Partei fordern die Gruenen das
Wahlrecht fuer alle Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt in Oesterreich
haben.
* Als einzige im Nationalrat vertretene Partei haben die Gruenen Konzepte
fuer einen nachhaltigen Umstieg in erneuerbare Energie.
* Als einzige im Nationalrat vertretene Partei zielen die Gruenen nicht auf
populistische Horuck-Loesungen fuer gesellschaftliche Probleme ab, sondern
legen ihren politischen Konzepten die Unteilbarkeit der Menschenrechte zu
Grunde.
Bleibt die Frage nach dem Auseinanderklaffen von politischer Programmatik
und politischem Alltagshandeln. Ja, die Gruenen streben es an, ihre
politischen Vorstellungen umzusetzen. Nicht erst in fuenfzehn oder zwanzig
Jahren, sondern ehestens. Am allerbesten jetzt! Und zweifellos hat das auch
Einfluss auf die praktische Politik einer Partei. Das zu leugnen, waere
geradezu Selbstbetrug.
Gerade die Regierungsgespraeche mit der OeVP des Jahres 2002 haben aber
gezeigt, dass die Gruenen nicht einfach eine Regierungsbeteiligung um jeden
Preis anstreben. Im Gegenteil: Es gab eben nicht nur ein oder zwei
Differenzen mit der OeVP, sondern eine grundlegende Verschiedenheit in
praktisch allen Politikbereichen. Wir haben die Konsequenz gezogen und sind
vom Verhandlungstisch aufgestanden. Und es gibt - inzwischen sind vier Jahre
ins Land gezogen, in denen sowohl SPOe wie auch OeVP Gelegenheit hatten,
ihren Zugang zur Politik unter Beweis zu stellen - keinen Grund zur Annahme,
dass die Gruenen einen "billigeren" Regierungspartner abgeben koennten. Im
Gegenteil: Die Zahl der von den Gruenen SpitzenkandidatInnen genannten
"musts" einer Koalition mit einer anderen Partei wird Tag fuer Tag laenger.
Es geht eben NICHT nur um Macht, sondern um gesellschaftliche, soziale und
politische Veraenderung. Eine Veraenderung, fuer die im Bereich der formalen
Demokratie in Oesterreich ausschliesslich die Gruenen stehen.
Klar: Linke koennen SPOe waehlen, aber sie waehlen damit Zwangsernaehrung
von Schubhaeftlingen, die Umweltorientierung der fruehen 70er, eine
paternalistische Sozialpolitik und eine Gleichstellungspolitik, die sich in
Luft aufloest, ehe sie ueber die Lippen der WahlwerberInnen kommt. Sie
waehlen eine Partei, deren Parlamentsklub trotz anderslautender Beteuerungen
auch in der naechsten Legislaturperiode zu 2/3 aus Maennern bestehen wird.
Und sie waehlen damit die grosse Koalition; wie es derzeit aussieht, unter
einem Bundeskanzler Schuessel.
Klar: Linke koennen - je nach Facon - SLP oder KPOe waehlen, aber sie
schenken ihre Stimme (abseits der Frage, wie sich etwa die KPOe in juengster
Vergangenheit gegenueber NGOs oder dem EKH verhalten hat) damit der OeVP,
die ihrem Ziel, eine Mehrheit fortschrittlicher Parteien in Oesterreich zu
verhindern, naeher kommt.
Klar: Linke muessen nicht waehlen gehen, aber Nichtwahl verlaengert das
erbaermliche Schauspiel, dass die OeVP von Schuessel ueber Bartenstein,
Gehrer bis hin zu Grasser seit sechs Jahren liefert.
Menschen mit linken Ueberzeugungen koennen auch Gruene waehlen. Und wir
koennen euch versprechen: Ihr werdet euch ueber uns aergern! Aergern, weil
wir dies oder das getan oder gesagt oder nicht getan oder nicht gesagt
haben. Ihr werdet euch aergern, weil unsere RepraesentantInnen sich weder
die proletarische Revolution auf die Fahnen heften noch den Bundeskanzler
torten, wenn er wieder einmal zu Westenthalers Deportationsphantasien
schweigt. Ihr werdet euch aergern, weil wir ein Modell fuer
ArbeitsmigrantInnen vorgelegt haben, das Oesterreich klar und deutlich als
Einwanderungsland benennt und die Situation der in Oesterreich befindlichen
Menschen ohne oesterreichische Staatsbuergerschaft deutlich verbessert, das
aber mit dem Punktemodell auch ein Element beinhaltet, dass scheinbar der
Forderung nach "offenen Grenzen" widerspricht. Und ihr werdet euch aergern,
weil wir uns fuer euren Geschmack zu sehr auf das Regelwerk der
formalisierten Institutionen der Demokratie einlassen.
All das und vieles mehr ist nicht nur Gegenstand des Aergers fuer euch,
sondern auch der staendigen inhaltlichen Debatte (ist doch eine nette
Umschreibung des Wortes Aerger, oder?) innerhalb der Gruenen. Die Gruenen
sind eine Partei des "work in progress", der staendigen inhaltlichen
Debatte, der Ueberpruefung eigener Positionen und auch eine Partei, die
Fehler eingestehen und korrigieren kann.
Wir versprechen euch nicht nur Aerger (das koennte das Wahlmotiv fuer
Menschen mit zu niedrigem Blutdruck sein), sondern vor allem die
Moeglichkeit, an der politischen Debatte bei den Gruenen teilzuhaben. Einer
politischen Debatte, die ihren Ausdruck in der politischen Praxis im
Nationalrat, in neun Landtagen und unzaehligen Gemeindevertretungen findet.
Es ist nicht der einzige Ansatz, die Welt zu veraendern, aber es ist ein
Ansatz. Und fuer diesen Ansatz bitten wir euch um Unterstuetzung; um eure
Kritik, um eure Anregungen, um eure Teilhabe an der politischen Debatte; und
am ersten Oktober etwa um eure Stimme bei der Nationalratswahl...
Reinhard Pickl-Herk
Pressesprecher der Gruenen
* Anm. d. Red.: Eingangs zitierte Einladung ging in gleicher Formulierung
auch an die SLP, die KPOe und sogar die SPOe.
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