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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 5. September 2006; 18:57
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Glosse/Wahl/Recht:
> Die Rache der Formalverfassung
Parteien, Listen, Fraktionen, die Summe der Mandatare: Es ist alles eins in 
Oesterreich. Das freie Mandat der einzelnen Abgeordneten steht eh nur am 
Papier. Um Parteien, Wahllisten und Fraktionen auseinanderhalten zu koennen, 
braucht man schon Verfassungsjuristen und selbst die kennen sich nicht aus, 
weil sich ueber diese Begriffe eine kaum durchdringbare Schicht an 
Rechtspraxis gelegt hat.
Man erinnere sich an die Aufregung, als das LiF mit seinen Abgeordneten 
Fraktionsstatus beanspruchte und sich dabei auf die Geschaeftsordnung des 
Nationalrats berief, die besagt, dass fuenf Abgeordnete ausreichen, um einen 
Klub zu begruenden. Haider beschwerte sich damals darueber, dass diese 
Abgeordneten ja nicht als solche gewaehlt worden waeren -- jetzt machte er 
aehnliches und beschwert sich darueber, dass die Abgeordneten, die er selbst 
aus der alten FPOe gefuehrt hat, nicht mehr alle Rechte auf jene Liste 
beanspruchen koennen, mit der sie ins Parlament gekommen sind -- weil die 
bloederweise von einer anderen Partei (der alten FPOe) auch beansprucht 
werden.
Politische Parteien sind private Institutionen -- haben also eigentlich mit 
der Zusammensetzung des Nationalrats nichts zu tun. Wahllisten hingegen sehr 
wohl, doch die haben formal nichts mit Parteien zu tun. Fraktionen hingegen 
haben weder mit Parteien noch mit Wahllisten zu tun: Sie bilden sich formal 
durch freiwillige Assoziation der gewaehlten freien Abgeordneten.
Der Formalismus ist natuerlich graue Theorie und in einzelnen Bestimmungen 
wird er auch immer wieder faktisch durchbrochen, doch er existiert -- fernab 
von der politischen Realitaet. Wegen dieser Realitaet nennt man ja auch 
einen aus einem Klub ausgetretenen Abgeordneten einen "wilden". Das soll 
wohl soviel heissen wie "vogelfrei", "aussaetzig", "mit Bann belegt" oder 
sowas -- weil er nicht mehr der Disziplin seiner Partei resp. Fraktion 
unterliegt und tatsaechlich sein freies Mandat wahrnehmen kann.
Im alltaeglichen politischen Geschehen ohne solche "Betriebsunfaelle" nimmt 
kein Beteiligter diese Formalismen wahr, die sehr wohl auch als ein Beitrag 
zur Gewaltentrennung angesehen werden koennten. Genausowenig wie der 
Unterschied von Parlamentsmehrheit und Regierung ernstgenommen wird. Es 
heisst, wir haetten "eine Regierung aus OeVP und BZOe" -- aber Parteien 
regieren nicht, dass tun nur einzelne Regierungsmitglieder resp. diese in 
ihrer Gesamtheit. Die Parteienzugehoerigkeit dieser Regierungsmitglieder ist 
diesbezueglich irrelevant. In der Bundesverfassung steht nichts von 
Parteienregierung -- die Realverfassung allerdings sieht anders aus.
All das faellt aber immer nur dann auf, wenn ploetzlich die heile Welt des 
Parteienstaates nicht mehr funktioniert. Dann faellt auch auf, dass 
vorrangig die Bundesregierung zustaendig ist fuer die Bestellung der 
Wahlbehoerden -- also jenen Organen, die ueber die Ordnungsmaessigkeit von 
Wahlen befinden sollen, bei denen die Zusammensetzung eben jenes Gremiums 
bestimmt wird, dass dann der Regierung "vertrauen" soll. Sowas geht solange 
gut, solange einigermassen von den massgeblichen Politikern demokratische 
Grundsaetze zumindest insofern beachtet werden, wie dies in buergerlichen 
Demokratien ueblich ist. Doch selbst wenn dies der Fall ist, reicht es, dass 
eine Partei sich spaltet -- schon kommt der Rechtsstaat ins Stolpern. Man 
frage besser nicht, was passiert, wenn dollfuss-aehnliche Figuren in die 
Regierung kommen.
Die politische Praxis des Parteienstaats ist keine gute. Aber sie ist 
bequem. Die diesbezueglichen rechtlichen Bestimmungen sind hoechst unsauber 
und nur deswegen in diesem Zustand, weil sie den Parteien so sehr genehm 
sind und langerprobt in diesem Staat -- allerdings in einem Staat, der die 
laengste Zeit durch ein Gleichgewicht rechter und sozialdemokratischer 
Politiker stabil gehalten wurde, die die laengste Zeit auch noch miteinander 
koalierten.
Man bedenke jedoch, dass wir den Austrofaschismus auch einigen 
Verfassungsluecken verdanken, weil sich vorher niemand dafuer interessiert 
hat -- ausser einem Beamten, der Dollfuss den Tip gab, diese Luecken zu 
nutzen. Eine saubere Verfassung, die formal "wasserdicht" ist, aber auch 
gewaehrleistet, dass nicht so einfach eine Realverfassung daruebergelegt 
werden kann, waere dringend notwendig. Aber solange ein derartiges 
Desinteresse selbst in einer politisch interessierten Oeffentlichkeit 
vorherrscht, werden auch die derzeit im stillen Kammerl gefuehrten 
Verhandlungen zu einer neuen Bundesverfassung wieder nur eine 
"oesterreichische Loesung" werden. Da darf man sich dann nicht wundern...
*Bernhard Redl*
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