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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 23. Mai 2006; 18:05
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Strahlende Zukunft:
> Der winzige Super-GAU
Die IAEO verharmlost die Tschernobyl-Katastrophe. Die WHO schweigt dazu --  
weil sie muss.
Da sitzen sie, die prominenten Experten, die der Welt Tschernobyl erklaeren. 
Es ist der 26. April, grosse Abschlusspressekonferenz im Haus der Ukraine, 
mitten in Kiew. In den zwei Tagen zuvor haben sich internationale 
Expertinnen von -diversen Uno-Organisationen und wissenschaftlichen 
Instituten in diesem Haus getroffen, um die Folgen von Tschernobyl zu 
debattieren. In der Woche zuvor hatten dieselben Expertinnen in Minsk und 
Gomel drei Tage lang ueber Tschernobyl diskutiert.
An der Pressekonferenz in Kiew soll nun Bilanz gezogen werden-andem Tag, an 
dem vor zwanzig Jahren der Reaktor explodierte. Michail Balonow von der
Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) ist da, Michael Repacholi von 
der Weltgesundheitsorganisation (WHO), ein Vertreter des 
Uno-Entwicklungsprogramms (UNDP), Wladimir Choloscha, der ukrainische 
Vize-Tschernobyl-Minister, und noch zwei Repraesentanten aus Weissrussland 
und Russland. Sie verkuenden den JournalistInnen: Der Unfall sei schlimm, 
aber nicht so schlimm, wie man urspruenglich angenommen habe -- es sei an 
der Zeit, wieder optimistisch nach vome zu schauen.
Danach darf man Fragen stellen -- zum Beispiel: «Wie sieht es aus mit dem 
Americium?» «Wird es ueberwacht?» «Gibt es eine Karte fuer Kiew?» Die 
Maenner vome an den Tischen beginnen zu tuscheln. Danach ergreift der Mann 
aus Russland das Wort: «Americium ist kein Problem», sagt er, da brauche man 
sich keine Sorgen zu machen. Choloscha muesste antworten, doch die Zeit ist 
um, die Pressekonferenz wird abgebrochen, die hohen Maenner eilen davon.
Wie ist das nun mit dem Americium? Einer, der auch an der Pressekonferenz 
anwesend ist und es wissen muesste, heisst Sergej Schtscherbak. Auf seiner 
Visitenkarte steht Oekospezialist der UNDP. Er wiederholt, was der Russe 
schon gesagt hat: «BezueglichAmericiumbrauchenSie sich keine Sorgen zu 
machen.»
«Kiew ist also nicht plutoniumverseucht?»
«Nein. Vielleicht gibt es noch ganz geringe Mengen Plutonium -- aber das 
stammt von oberirdischen Atombombentests, die man frueher gemacht hat.»
«Es gibt also kein Americium-Ueberwachungsprogramm? »
«Nein, das waere sehr aufwendig und teuer. Dazu fehlt das Geld.» Vielleicht 
glaubt Sergej Schtscherbak wirklich, dass es in Kiew kein Plutonium gibt, 
schliesslich lebt er hier. Aber es hat reichlich Plutonium in der 
Hauptstadt.
Zu Beginn der Wissenschaftskonferenz erhielten die TeilnehmerInnen den 
«Nationalen Report der Ukraine» zu Tschernobyl. Darin findet sich eine Karte 
mit der Plutoniumkontaminierung. Der violett eingefaerbte Fleck geht von 
Tschernobyl bis nach Kiew runter und darueber hinaus in den Sueden. 
Interessant ist eine zweite Karte: Ein Ausblick auf die 
Americium-Verseuchung im Jahr 2056 -- die violette Farbe ist noch dunkler, 
die Kontamination noch staerker als heute und Kiew liegt mitten drin.
Das unheimliche Americium
Americium-241 ist ein unheimliches Radionuklid -- das beim Super-GAU gar 
nicht freigesetzt wurde. Radionuklide pflegen nach einer gewissen Zeit zu 
zerfallen, meistens in ungefaehrliche Elemente. Nicht so bei Plutonium-241. 
Man redet zwar viel von Plutonium, meint dann aber meistens Plutonium-239, 
das eine Halbwertszeit von ueber 24 000 Jahren hat und sehr gefaehrlich ist; 
atmet man geringste Mengen davon ein, kann dies zu Lungenkrebs fuehren.
Plutonium-241 gilt als nicht so gefaehrlich und hat eine Halbwertszeit von 
14,4 Jahren. Doch wenn Plutonium-241 zerfaellt, entsteht Americium-241. Ein 
aeusserst gefaehrliches, sehr giftiges und aggressives Radionuklid --  
mindestens so moerderisch wie Plutonium-239. Andere Radionuklide wie Caesium 
oder Strontium werden langsam, aber sicher verschwinden -- der 
Americiumgehalt wird jedoch sukzessive ansteigen. Hundert Jahre nach dem 
Unfall wird es etwa den Hoechststand erreichen. Und es wurde viel mehr 
Plutonium-241 als Plutonium-239 freigesetzt. Der grosse Albtraum steht also 
noch bevor.
Organisierte Desinformation
Die Art, wie mit Americium umgegangen wird, ist bezeichnend fuer die 
Tschernobyl-Debatte: Wenn man etwas nicht weiss, sagt man nicht, dass man es 
nicht weiss -- man sagt, dass das Problem nicht existiere und man sich nicht 
zu sorgen brauche. Und das fuehrt zu einem gigantischen 
Informationsschlamassel. Da ist zum Beispiel der offizielle Bericht des 
Tschernobyl-Forums. Dem Tschernobyl-Forum gehoeren acht Uno-Organisationen 
an sowie Vertreterinnen der ukrainischen, weissrussischen und russischen 
Regierung. Die IAEO, die WHO und das UNDP haben dabei die Federruehrung.
Im September vergangenen Jahres publizierten sie eine Pressemitteilung unter 
dem Titel «Tschernobyl: Das wahre Ausmass des Unfalls. 20 Jahre spaeter legt 
ein UN-Bericht definitive Antworten vor und zeigt die Wege zur Rueckkehr zu 
einem normalen Leben.» Die Pressemitteilung beginnt mit dem Satz: «Insgesamt 
koennten bis zu viertausend Personen an der Strahlung sterben, die durch den 
Reaktorunfall in Tschernobyl vor zwanzig Jahren freigesetzt wurde. (...) 
Dennoch konnten bis Mitte 2005 weniger als fuenfzig Tote direkt auf die 
Strahlung durch den Unfall zurueckgeruehrt werden.»
Die Medien nahmen diese Information gerne auf- sie war auf Englisch und 
hochoffiziell. Die Wissenschaftskonferenzen in Minsk und Kiew fanden 
hingegen erst wenige Tage vor dem Jahrestag statt. Da hatten die 
auslaendischen Medien schon seit Wochen ueppig ueber Tschernobyl berichtet. 
Man hatte laengst genug vom Thema und schickte keine Journalistinnen mehr 
dorthin.
Maechtiges Tschernobyl-Forum
Die IAEO trat auf und rapportierte sowohl in Minsk wie in Kiew die 
offiziellen 50 respektive 4000 Toten. Die WHO aeusserte sich ebenfalls, ging 
aber nur wolkig auf die gesundheitlichen Folgen ein -- keine Zahlen, keine 
Statistiken, keine Fakten. Der WHO-Vertreter sagte zum Beispiel in Minsk, er 
sei gefragt worden, welche Lehren man aus Tschernobyl ziehe: «Wir lernten, 
dass wir die Leute besser informieren muessen. Es ist zum Beispiel ein 
Problem, dass man die Leute als  bezeichnete, man haette 
sie  nennen muessen.» Jetzt kaemen sie nicht aus 
diesem Opferstatus . heraus, das muesse endlich ueberwunden werden, damit 
sie ihr Schicksal wieder selbst in die Hand naehmen und ein erfuelltes Leben 
aufbauen koennten.
Die weissrussischen und ukrainischen WissenschaftlerInnen hoerten irritiert 
zu. An beiden Konferenzen legten sie die Resultate ihrer Studien vor --  
ueber steigende Krebsraten, andere schwere Krankheiten, Missbildungen und 
genetische Schaeden (vgl. Kasten «Gesundheitliche Folgen»). Doch die 
internationalen Vertreterinnen gingen nicht darauf ein. Ein Mitglied der 
ukrainischen Akademie der Wissenschaften meldete sich zu Wort und sagte, es 
sei fuer sie schon beschaemend, wenn man ihre Ergebnisse einfach uebergehe. 
Worauf ihm der WHO-Vertreter entgegnete: «Wir konnten nur qualitativ 
hochstehende Studien beruecksichtigen. Ihre Studien erfuellen nicht die 
internationalen Standards.» Der Ukrainer schwieg -- abgekanzelt wie ein 
Kind, das die Pruefung nicht bestanden hat.
Hunderte von Studien wurden gemacht. Alle kommen zu aehnlichen Ergebnissen, 
und viele basieren auf enorm grossen Populationen, auf Tausenden 
untersuchter Menschen, die entweder in den verseuchten Gebieten leben oder 
als AufraeumarbeiterInnen -- so genannte LiquidatorInnen -- in Tschernobyl 
waren. Zudem verfuegt Weissrussland seit Anfang der siebziger Jahre ueber 
ein Krebsregister. Die WissenschaftlerInnen sind deshalb in der Lage, die 
Krebserkrankungen nach dem Unfall zu vergleichen mit der Zeit vor dem 
Unfall. In der Schweiz koennte man das nicht, da es hierzulande kein 
flaechendeckendes Krebsregister gibt.
Doch selbst wenn die Studien nicht genuegten: Weshalb stand die WHO diesen 
Wissenschaftlerinnen nicht bei? Warum ist es in zwanzig Jahren nicht 
moeglich, Studien zu machen, die den Standards genuegen? Will sie es gar 
nicht wissen?
Der IAEO-Skandal
Schaut man die Mcdicnbcrichterstattung in der Schweiz an, erscheint 
Tschernobyl als abgehobener, diffuser ExpertInnenstreit. Die NZZ berichtete 
zum Beispiel am 26. April in einer Sonderbeilage ueber Tschernobyl. Die 
verantwortliche Wissenschaftsredaktorin Heidi Blattmann schreibt:« Das 
Ausmass der Folgen ist auch 20 Jahre danach noch schwierig zu bestimmen und 
entsprechend umstritten.» Blattmann beklagt, dass sich «mit Einzellfaellen, 
so tragisch sie sind», nichts beweisen lasse. Und moniert, es gebe «nur 
aeusserst selten genuegend Daten fuer eine saubere statistische Analyse». 
Damit hat Blattmann Recht. Doch es gibt Gruende fuer die miserable 
Datenlage. Die NZZ wusste das, sah sich aber nicht genoetigt, 
daraufhinzuweisen.
Bevor die Beilage erschien, nahm die NZZ Kontakt auf mit Claudio Knuesli, 
dem Praesidenten der Aerztinnen gegen Atomkrieg, Schweiz (IPPNW/PSR). Man 
wollte von ihm eine Einschaetzung ueber den angeblichen ExpertInnenstreit. 
Knuesli, Onkologe in Basel, belieferte die Redaktion mit den 
unterschiedlichsten wissenschaftlichen Materialien, erklaerte aber auch die 
Hintergruende des angeblichen Informationsdefizits: Die IAEO haelt die WHO 
und alle anderen UN-Organisationen an der kurzen Leine.
In den fuenfziger Jahren beschaeftigte sich die WHO noch intensiv mit den 
Folgen der Strahlung. 1956 traf sich eine WHO-Expertengruppe, die sich mit 
der
Wirkung «ionisierender Strahlung» beschaeftigte. Die Experten kamen zum 
Schluss: Alle kuenstliche radioaktive Strahlung muesse vom genetischen 
Gesichtspunkt als fuer den Menschen schaedlich angeschen werden -- die 
Kernenergie bedrohe die kuenftigen Generationen. Dieses WHO-Papier wurde 
1957 unter dem Titel «Strahleneffekte auf das menschliche Erbgut» in Genf 
veroeffentlicht.
Zwei Jahre spaeter unterzeichneten IAEO und WHO eine Vereinbarung, die die 
WHO zwingt, der IAEO alle Forschungsprojekte ueber Gcsundheitsaspekte im 
Zusammenhang mit Strahlung zu unterbreiten -- um allfaellige 
«unterschiedliche Auffassungen» zu bereinigen. Zudem verpflichtet diese 
Vereinbarung die WHO zur Geheimhaltung, falls ihre Ergebnisse den Interessen 
der IAEO zuwiderlaufen. Die IAEO kann also definieren, was erforscht und was 
publiziert wird. Und in den Statuten der IAEO steht, dass sie verpflichtet 
ist, die «zivile Nutzung der Kernenergie zu foerdern».
1995 organisierte die WHO eine Konferenz und wollte auf den zehnten 
Tschernobyl-Jahrestag einen Bericht publizieren. Die IAEO untersagte der WHO 
die Publikation -- womit die Ergebnisse fuer die Wissenschaft verloren sind. 
«De facto war hier die WHO der Zensur durch die IAEO unterworfen», sagt 
Knuesli. Er beruft sich dabei auf eine Aeusserung des frueheren 
WHO-Generaldirektors Hiroshi Nakajima von 2001. Dieser hatte vor laufender 
Kamera bezeugt, dass die IAEO die Macht besitzt, die WHO an der 
Veroeffentlichung ihrer Resultate zu hindern.
Dass es diese Vereinbarung zwischen der IAEO und der WHO gibt, ist seit 
einigen Jahren bekannt. Die beiden Organisationen haben sie nie dementiert. 
Nach Aussagen von hoeheren Uno-Beamten -- die aber nicht namentlich genannt 
werden moechten -- sind auch andere UN-Organisationen in aehnlicher Weise an 
die IAEO gebunden und zum Schweigen verdammt. Die Medien ignorieren jedoch 
diese unheilvollen Verstrickungen systematisch. Man pflegt lediglich 
festzustellen, die wissenschaftlichen Daten fehlten -- und ohne Daten keine 
Folgen.
«In den kuenftigen Geschichtsbuechern wird stehen, dass die WHO bei der 
wissenschaftlichen Aufarbeitung der Gesundheitsschaeden nach Tschernobyl 
durch die Foerderer der Atomenergie massiv behindert wurde», konstatiert der 
Onkologe Knuesli: «Doch bevor dies . der jungen Generation gelehrt werden 
kann, muss es die aeltere Generation selber lernen.».
(Susan Boos, WoZ 20/06)
*
> Kasten: Die gesundheitlichen Folgen
• Zu erwartende Todesfaelle:
Die IAEO spricht von 4000 Menschen, die kuenftig noch an den Folgen von 
Tschernobyl sterben wuerden. Die Zahl beruht auf einer abstrakten Rechnung, 
die auf Erfahrungswerten der Atombomben-Opfern von Hiroschima und Nagasaki 
basieren. Nimmt man jedoch die Daten der UN-Strahlenschutzkommission 
UNSCEAR, kommt man auf 28 000 bis 69 000 zusaetzliche Krebstote.
• Schilddruesenkrebs:
Offiziell sind viertausend Kinder an Schilddruesenkrebs erkrankt. Die IAEO 
und die WHO anerkennen Schilddruesenkrebs als Folge von Tschernobyl, weisen 
aber immer wieder daraufhin, es seien nur neun Kinder an Schilddruesenkrebs 
gestorben, die anderen seien wieder «gesund», was so nicht stimmt: Den 
Betroffenen hat man die Schilddruesen entfernt, deshalb muessen sie ein 
Leben lang kuenstliche Schilddruesenhormone zu sich nehmen.
• Andere Krebserkrankungen:
Die Brustkrebsrate in den verseuchten Gebieten ist massiv angestiegen. Auch 
die Zahl anderer Krebserkrankungen wie Magen-, Lungen-, Nieren- oder 
Harnblasenkarzinome sowie Leukaemie sind signifikant angestiegen.
• Genetische Schaeden:
In den hoeher kontaminierten Gebieten Weissrusslands ist die Rate an 
missgebildeten Saeuglingen markant gestiegen. Basierend auf den 
UNSCEAR-Daten ist weltweit mit 30 000 bis 200 000 genetisch geschaedigten 
Kindern zu rechnen. In der ersten Generation findet man allerdings nur zehn 
Prozent der insgesamt zu erwartenden genetischen Schaeden.
• Andere Erkrankungen:
Vor allem die LiquidatorInnen leiden an einer Vielzahl von 
unterschiedlichsten Erkrankungen -- vor allem unter Herz-Kreislauf'-Beschwerden, 
massiven neurologischen Problemen und grauem Star. Bei Kindern in den 
kontaminierten Gebieten Weissrusslands ist Diabetes um das Dreifache 
angestiegen und tritt zum Teil schon im Alter von sechs bis zehn Monaten 
auf.
• Allgemeiner Gesundheitszustand:
Laut ukrainischer Regierung sind 94,2 Prozent der LiquidatorInnen, 89,9 
Prozent der Evakuierten und 84,7 Prozent der Einwohnerinnen in den 
verstrahlten Gebieten krank. (WoZ 20/06)
Quellen: http://www.ippnw.ch
http://www.ippnw.de
http://www.gfstrahlenschutz.de
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