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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 16. Mai 2006; 15:48
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Russland:
> Kaum noch Tschetschenen da...
Der erste russische Krieg gegen Tschetschenien endete -- nach dem 
Gegenangriff der Aufstaendischen Ende August 1996 -- mit einem 
Waffenstillstand und Vereinbarungen ueber wirtschaftliche und politische 
Fragen(1). Doch 1999 begann der Krieg erneut. Und er dauert, trotz 
gegenteiliger Behauptungen aus Moskau, bis heute an(2). Fragen wie diese 
bleiben unbeantwortet: Kann man bei diesem Krieg von einem Voelkermord 
sprechen? Hat Russland im Laufe der Zeit seine Ziele veraendert? Spielt der 
Islam eine wichtige Rolle, oder wird er nur instrumentalisiert?
Die UNO-"Konvention ueber die Verhuetung und Bestrafung des Voelkermordes" 
vom 9. Dezember 1948 definiert dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit 
als Handlung, "die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, 
rassische oder religioese Gruppe als solche ganz oder teilweise zu 
zerstoeren"(3).
Die Mehrheit der Tschetschenen glaubt, dass die Operationen, die von der 
russischen Armee in ihrer Republik durchgefuehrt werden, diesen Tatbestand 
erfuellen. Sie wollen nicht wahrhaben, dass dies, streng juristisch gesehen, 
mit Sicherheit nicht der Fall ist.
In Moskau hoert man vorsichtigere Einschaetzungen. General Eduard Worobiow 
etwa, der sich 1994 weigerte, den Befehl zum Angriff auf Tschetschenien zu 
erteilen, und deshalb entlassen wurde, haelt auch zwoelf Jahre spaeter die 
Militaerintervention fuer falsch, weil "es stets noch andere Moeglichkeiten 
zur Loesung der Frage" gegeben habe.
Aber von einem Voelkermord in Tschetschenien will er nicht sprechen. In 
seinen Augen handelt es sich um einen Kampf gegen den Separatismus. Dabei 
werde das Ziel verfolgt, das tschetschenische Territorium als Teil der 
Russischen Foederation zu erhalten.
Die Tschetschenin Lida Jusupowa hat viele Jahre das Buero der russischen 
Menschenrechtsorganisation "Memorial" in Grosny geleitet. Auch sie haelt es 
fuer schwierig, das Wort Voelkermord, das in die Alltagssprache Eingang 
gefunden hat, im streng juristischen Sinne zu benutzen. Lida Jusupowa, die 
seit kurzem in Moskau am Abschluss ihrer rechtswissenschaftlichen 
Dissertation arbeitet, gibt jedoch andererseits zu bedenken: "Nach dem 11. 
September 2001 haben wir von unseren russischen Kollegen immer wieder 
gehoert, man koenne diesen Begriff fuer die 'Massnahmen zur 
Terrorismusbekaempfung' nicht benutzen. Aber wenn Putin die Hamas nach 
Moskau einlaedt, warum kann er dann nicht auch mit Bassajew reden? In 
Tschetschenien kaempfen die einen fuer ihre Freiheit und die anderen fuer 
die 'Durchsetzung der verfassungsmaessigen Ordnung.' Doch welche Seite denkt 
dabei an das Volk?"
Um den Tatbestand des Voelkermords an den Tschetschenen zu begruenden, 
braucht man, wie auch Frau Jusupowa weiss, eindeutige Zahlen. Aber die gibt 
es nicht: "Es wurde zu lange mit einer Volkszaehlung gewartet. Wenn man 
heute untersuchen wollte, wie viele Tote es unter den Tschetschenen gab und 
wie viele Menschen vor dem Krieg nach Westeuropa oder Russland geflohen 
sind, wuerde man herausfinden, dass es in Tschetschenien kaum noch 
Tschetschenen gibt!"
Al-Qaida -- ein Popanz des Kreml
Das ist der Grund, warum sie bitter von einem Akt der Barbarei redet: "Mir 
ist klar, dass dieser Konflikt fuer Europaeer schwer zu durchschauen ist. 
Aber ist es nicht eine abscheuliche Tat, die Kultur eines Volkes 
systematisch zu zerstoeren?" Waehrend der Deportationen(4) von 1944 wurden 
"alle historischen Werke, die in arabischer oder tschetschenischer Sprache 
unsere Geschichte darstellten, auf dem grossen Platz von Grosny verbrannt. 
Seither weiss niemand mehr, wie die alten Tuerme in unseren Bergdoerfern 
gebaut wurden. So geht die Tradition verloren. Von 300 dieser Bauwerke gibt 
es heute nur noch weniger als 50. Und wir haben nicht einmal Zugang zu 
ihnen, weil in den Bergen ueberall Truppen stationiert sind."
Als Gipfel des Zynismus empfindet Jusupowa die Behauptung russischer 
Regierungsvertreter, in Tschetschenien wuerden nur "legale Methoden" 
angewandt: "Ist es nicht pervers, gegen eine winzige ethnische Minderheit 
vorzugehen und damit einen Konflikt zu entfesseln, der fast den gesamten 
Kaukasus erfasst?" Bis man in Europa irgendwann die Kabardino-Balkaren, 
Inguscheten, Dagestaner und die anderen kleinen Voelker der Region zur 
Kenntnis nehme, werde es zu spaet sein, glaubt Jusupowa und stellt die 
Frage: "Warum hat man bei der zweiten Offensive saemtliche Vertreter 
internationaler Organisationen sowie die internationalen Medien vom 
Operationsgebiet fern gehalten? Weil Russland kein Interesse daran hat, dass 
die Welt von den unmenschlichen Methoden erfaehrt, mit denen man in 
Tschetschenien vorgeht, um wieder fuer Ordnung zu sorgen. Und die so 
genannte Tschetschenisierung bedeutet doch nur, dass heutzutage statt der 
Russen die lokalen Machthaber ihre Herrschaft mit den gleichen Mitteln 
ausueben, also mit Morden, Entfuehrungen und all diesen Dingen."
Valentina Melnikowa ist Vorsitzende des Komitees der Soldatenmuetter. 
"Letztendlich weiss niemand, was der Kreml wirklich will, ausser dass 
Wladimir Putin sich weigert, zu verhandeln. Die Behoerden schieben die 
Schuld auf al-Qaida, doch bislang haben sie keinen einzigen Beweis fuer die 
Anwesenheit auslaendischer Soeldner in Tschetschenien praesentiert. In 
diesem Konflikt wird alles geheim gehalten, wie ueberhaupt alles, was mit 
der russischen Armee zu tun hat. Putin schenkt den Berichten seiner 
Untergebenen bedingungslos Glauben, obwohl sie nie von unabhaengiger Seite 
ueberprueft wurden. Ein zivilisiertes Land haette nicht zugelassen, dass 
sich ein Krieg so ausweiten kann, wie dies momentan geschieht."
Doch welche Rolle spielt im Konflikt zwischen Russland und Tschetschenien 
die von der russischen Propaganda immer wieder beschworene Religion? 
"Ueberhaupt keine", antworten die meisten Tschetschenen, die ihren Glauben 
genauso praktizieren wie zuvor, also diskret und zurueckhaltend, wie es der 
Tradition des Sufismus entspricht. "Man hat den Islam, die Islamisten und 
Fundamentalisten richtig hineingezogen", sagt Lida Jusopowa. "Und warum 
werden eigentlich nur die Muslime als Extremisten eingestuft? Warum werden 
nicht auch die Skinheads in den grossen russischen Staedten als orthodoxe 
Fundamentalisten bezeichnet?"
Valentina Melnikowa sieht es ebenso: "Wir haben es mit einer 
Instrumentalisierung der Religion zu tun. Seit 1999 beschuldigt der Kreml 
Wahhabiten und Fundamentalisten, um die wahren Taeter zu decken. Die 
Situation wird von Tag zu Tag schlimmer. Die Liquidierung von Maschadow im 
Jahr 2005 hat den Konflikt weiter angeheizt, und das Militaer scheint kein 
Interesse zu haben, den Krieg zu beenden. Auch Putins Entscheidung nach der 
Katastrophe von Beslan(5), die bisher in den Regionen gewaehlten Gouverneure 
von oben zu ernennen(6), zeigt die Unfaehigkeit unserer Regierung. Denn was 
soll eigentlich die Wahl der Gouverneure mit dem weltweiten Krieg gegen den 
Terror zu tun haben?"
(Anne Nivat, Le Monde diplomatique, Mai 2006)
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(1) Das Abkommen von Khasaviurt (Dagestan) wurde von Boris Jelzin und Asian 
Maschadow, dem zu dieser Zeit unumstrittenen Anfuehrer der 
Unabhaengigkeltskaempfer, unterzeichnet. Maschadow wurde in einer von der 
OSZE und auch von Russland als recht-massig anerkannten Abstimmung im Januar 
1997 zum Praesident Tschetscheniens.gewaehlt.
(2) Zuletzt hat Praesident Wladimir Putin im Januar 2006 verkuendet: "Der 
Krieg ist vorbei." (Anm. des LayOuters: Erinnert irgendwie an das "Mission 
ausgefuehrt" seines Amtskollegen Bush zum Thema Irak)
(3) Die Charta der Vereinten Nationen und die Genfer Genozid-Konvention von 
1948 verpflichten die Staatengemeinschaft zum Eingreifen, um "Voelkermord zu 
verhindern oder aufzuhalten". Auch der Artikel 6 der Statuten des 
Internationalen Gerichtshofs definiert das Verbrechen des Voelkermords.
(4) Am 23.Februar 1944 wurden die Wajnachen (Tschetschenen und Inguscheten) 
auf Befehl Stalins in grosser Zahl in Viehwaggons nach Mittelasien 
deportiert. Sie trafen dort auf Balkaren, Karatschen, Krimtataren und 
Wolgadeutsche, die allesamt - ohne dass es Beweise gegen sie gab - der 
Kollaboration mit den Deutschen beschuldigt wurden. Der 23.Februar war 
damals ein Feiertag zu Ehren der Roten Armee. Seit 2005 wird er als "Tag der 
Verteidigung des Vaterlands" begangen.
(5) Am 1. September 2004 wurde in Beslan, Nordossetien, eine ganze Schule 
von tschetschenischen Unabhangigkeitskaempfern in Geiselhaft genommen. Nach 
dem Sturm der russischen Truppen auf die Schule blieben 344 Tote zurueck, 
ueber die Haelfte davon waren Kinder. Die gewaehlten Gouverneure wurden nach 
der Wahl von den lokalen Parlamenten bestaetigt.
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