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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 16. Mai 2006; 15:47
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Tuerkei/Kurdistan:

Wer kennt die Falken der Freiheit?

Die tuerkischen Streitkraefte sind in den kurdischen Gebieten aufmarschiert,
um die PKK endgueltig aufzureiben. Derweil begehen ominoese »Kurdische
Freiheitsfalken« Anschlaege in der Westtuerkei.


»Das Vaterland ist unteilbar«, steht in grossen Lettern auf einem Berg in
der Provinz Van, genau gegenueber der einstigen armenischen Klosterinsel
Ahtamar. Darunter rollen Panzer und Kanonen der tuerkischen Armee in
Richtung Suedosten in die Provinz Hakkari. Dort im Dreilaendereck zwischen
der Tuerkei, dem Iran und dem Irak, will das tuerkische Militaer die
Kaempferinnen und Kaempfer der PKK, die sich auf der irakischen Seite der
Grenze in den Qendil-Bergen verschanzt haben, endgueltig schlagen.

Tuerkisches und iranisches Militaer fuehrt seit Ende April Angriffe auf
Stellungen der PKK auf irakischem Staatsgebiet durch. Proteste der
irakischen Regierung werden dabei einfach ueberhoert. Die kurdischen Gebiete
der Tuerkei sind in den vergangenen Wochen zu einem grossen Heerlager
geworden. Auf der 200 Kilometer langen Strecke zwischen Van und Bitlis
halten drei Checkpoints der Jandarma, einer Einheit der tuerkischen
Streitkraefte, die Reisenden auf und kontrollieren deren Papiere und das
Gepaeck. Aehnlich sieht es auf anderen Strecken in der Osttuerkei aus.
Trotzdem lassen sich immer weniger tuerkische Kurden einschuechtern. Die in
den vergangenen Jahren errungenen Freiheiten koennen nicht so ohne weiteres
zurueckgenommen werden. »Das tuerkische Militaer erreicht mit der neuen
Repressionswelle nur, dass sie die jungen Leute in die Arme der bewaffneten
Kaempfer treibt. Sie koennen uns nicht verbieten, Kurdisch zu sprechen. Wir
lassen uns nicht mehr so leicht einschuechtern«, sagt ein junger Mann in
einem Café in Bitlis.

Deutlich sichtbar ist die Nervositaet der tuerkischen Behoerden auch an der
Grenze zum »Freien Kurdistan«, wie viele tuerkische Kurden das
Autonomiegebiet im Nordirak nennen. Waehrend Reisende auf der irakischen
Seite der Grenze freundlich mit einem Glas Tee empfangen werden und die
Grenzformalitaeten kaum laenger dauern, als bis es ausgetrunken ist, werden
auf der tuerkischen Seite alle Gepaeckstuecke aufmerksam durchsucht. Die an
der Grenze postierten Militaers lassen keine kurdischen Zeitschriften,
Buecher oder Fahnen ins Land. Wer zu selbstbewusst auftritt, kann damit
rechnen, ernsthafte Probleme zu bekommen. Ein deutscher Staatsbuerger
irakisch-kurdischer Herkunft erzaehlt spaeter in Diyarbakir, dass er von
Mitgliedern der Jandarma an der Grenze geschlagen worden sei. Sein
tuerkisches Visum war seit zwei Tagen abgelaufen, und er hatte es gewagt, an
der Grenze ein neues zu beantragen.

In der heimlichen Hauptstadt der tuerkischen Kurden, in Diyarbakir, hat sich
nach den Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und Sicherheitskraeften
im April die Lage wieder etwas entspannt. Das Militaer ist in die grossen
Kasernen neben der Altstadt zurueckgekehrt. In deren verwinkelten Gassen
sind die Kurden, Armenier und syrischen Christen wieder unter sich. Auch in
den Armenvierteln vor der Stadt, die in den achtziger Jahren angewachsen
sind, laesst sich das tuerkische Militaer nicht mehr blicken.

Die Bewohner klagen allerdings darueber, dass sich immer noch Menschen, die
an den Protesten beteiligt waren, in Haft befaenden. Ueber 500 Personen,
darunter zahlreiche Kinder und Jugendliche, wurden in den Tagen nach den
Auseinandersetzungen verhaftet. Sechs Jugendliche kamen durch Schuesse der
Sicherheitskraefte ums Leben. Fast der gesamte Parteivorstand der DTP, der
nach dem Verbot der Hadep einzigen prokurdischen Partei der Tuerkei, die in
Diyarbakir den Buergermeister stellt, befindet sich immer noch in Haft.
Heresh, ein junges Parteimitglied, erlaeutert die Sicht seiner Partei auf
die Ereignisse: »Auch wir wurden von dem Aufstand ueberrascht. Wir haben
zwar immer gewusst, dass so etwas einmal kommen wird, wenn die Regierung
nicht endlich ernsthafte Reformen einleitet, die die konkrete Situation hier
verbessern, aber die Heftigkeit der Proteste der Jugendlichen hat auch viele
von uns ueberrascht.« Dem steht die Behauptung der tuerkischen Regierung
entgegen, die Kinder und Jugendlichen seien von der PKK vorgeschickt worden
und es habe sich nicht um einen spontanen Aufstand, sondern um eine
konzertierte Aktion der PKK gehandelt.

Seit den achtziger Jahren hat sich die Sozialstruktur der kurdischen
Bevoelkerung grundsaetzlich veraendert. Wegen der massenhaften Zerstoerung
der Doerfer im Krieg gegen die PKK sind hunderttausende Kurden in die
grossen Staedte abgewandert, in deren Gecekondos, den »ueber Nacht
gebauten« tuerkischen Armenvierteln, mittlerweile Jugendliche voller Zorn
ueber fehlende Zukunftsperspektiven herangewachsen sind. Sie unterscheiden
sich auch in ihren politischen Aktionsformen deutlich von den
Intellektuellen oder der laendlichen Bevoelkerung frueherer Generationen.

Schwieriger wird das Gespraech in Diyarbakir, wenn man nach den »Kurdischen
Freiheitsfalken« fragt, jener ominoesen Gruppierung, die sich in den
vergangenen Monaten zu mehreren Anschlaegen auf zivile Ziele in der
Westtuerkei bekannt hat. Waehrend die einen glauben, die Gruppe sei vom
tuerkischen Militaergeheimdienst ins Leben gerufen worden, sprechen andere
von einer Abspaltung der PKK und wieder andere von einem Versuch von
Angehoerigen der PKK, den Krieg in die Zentren der politischen und
oekonomischen Macht der Tuerkei zu tragen. Offene Unterstuetzung fuer die
Anschlaege auf Zivilisten in Istanbul bekundet in Diyarbakir jedoch fast
niemand.

Allgegenwaertig ist in den Gespraechen ueber den Terror der PKK jedoch der
Hinweis auf den Terror des Staates. So besteht etwa der Verdacht, dass
Angehoerige des Militaers in einen Bombenanschlag auf eine Buchhandlung in
Semdinli im aeussersten Suedosten des Landes verwickelt gewesen seien.
(Anm.: s.a. akin 30/05). Im Fluchtwagen der drei mutmasslichen Attentaeter,
die von Passanten gestellt wurden, befand sich neben Waffen und
Anschlagsplaenen eine Liste mit Namen von 105 Personen, die angeblich die
verbotene PKK unterstuetzten. Die Verdaechtigen stehen seit vorigem
Donnerstag in Van vor Gericht. Ausserdem ermittelte die tuerkische
Staatsanwaltschaft in diesem Zusammenhang gegen hochrangige Angehoerige des
Militaers, darunter der Kommandant der tuerkischen Landstreitkraefte, Yasar
Bueyuekanit. In den kurdischen Gebieten sorgte jedoch vor allem eine
Erklaerung des tuerkischen Generalstabs fuer Aufregung, in der eine
Bestrafung des ermittelnden Staatsanwaltes Ferhat Sarikaya gefordert wurde.
Mitte April ist dieser aus dem Dienst entlassen worden.

Auch Mehdi Zana, der sich bereits in den siebziger Jahren in der Tuerkischen
Arbeiterpartei (Tip) engagierte, im Jahr 1977 zum Buergermeister von
Diyarbakir gewaehlt wurde und insgesamt ueber 15 Jahre in tuerkischer Haft
verbrachte, sagt, er wisse nicht, wer hinter den »Freiheitsfalken« stehe.
Fuer politisch viel relevanter haelt er die Aufstaende der Jugendlichen. Bei
einem Glas Wein in einem der vielen Lokale in Diyarbakirs Neubauviertel sagt
er: »Wenn die tuerkische Regierung keine Loesungen fuer die Menschen hier
findet und die Realitaet der kurdischen Bevoelkerung weiter leugnet, wird
sie ihre Position hier nicht halten koennen. Lange kann das nicht mehr
dauern. Die kurdische Bevoelkerung wird das nicht akzeptieren, wenn sie sich
weiter so benimmt wie jetzt.«
(Thomas Schmidinger, jungle world)

Quelle: http://jungle-world.com/seiten/2006/19/7724.php



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