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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 16. Mai 2006; 15:53
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EU:

> Die andere Verfassung

Auf dem Europaeischen Sozialforum in Athen diskutierte die
globalisierungskritische Bewegung ueber ein sozialeres Europa

Knapp ein Jahr ist vergangen, seit in Frankreich und den Niederlanden der
Europaeische Verfassungsvertrag per Referendum abgewiesen wurde. Seitdem
liegt er auf Eis, und die EU-Offiziellen zoegern noch, ihn wieder
aufzutauen. Vor den Wahlen in Frankreich und den Niederlanden Mitte 2007 ist
wenig zu erwarten. So hat etwa auch Bundeskanzlerin Angela Merkel am
Dienstag klargestellt, dass waehrend der deutschen EU-Ratspraesidentschaft
in der ersten Haelfte des kommenden Jahres keine Initiative in dieser
Richtung ergriffen wird.

Die sozialen Bewegungen der EU feiern dies als Sieg. Neoliberale
Wirtschaftspolitik und Aufruestung sollten Verfassungsrang erhalten, und das
konnte gestoppt werden. Ueber 800 lokale Basiskollektive hatten seinerzeit
in Frankreich Aufklaerungsarbeit zu Form und Inhalt des Textes geleistet.
Einen «beispiellosen Akt der Demokratie der Buergerinnen» nannte das der
kommunistische Europaabgeordnete Francois Wurtz auf dem Europaeischen
Sozialforum (ESF) Anfang Mai in Athen. Die Freude sei berechtigt, doch komme
sie vielleicht zu frueh, warnt Jean-Luc Melanchon. Er ist Vorstandsmitglied
der franzoesischen Sozialistinnen und hatte als einer der wenigen
hochrangigen Mitglieder seiner Partei fuer das Nein geworben. Tatsaechlich
denken nicht nur Europas Konservative laut darueber nach, die abgelehnte
Verfassung leicht modifiziert neu ins Rennen zu schicken, sondern auch
fuehrende Sozialdemokratinnen. Fuer Melanchon waere das ein Desaster. «Wenn
wir Europa nicht demokratisch neu gruenden», mahnte er in Athen, «dann
profitieren davon nur die Nationalisten.» Schliesslich waren auch die
Rechtsaussenparteien gegen die EU-Verfassung.

Doch was heisst, Europa neu zu gruenden? Welches Europa ist gemeint, geht es
um die EU, oder geht es um mehr? Wie lassen sich Alternativen verwirklichen?
Solche Fragen wurden in verschiedenen Veranstaltungen des von 35 000
Menschen besuchten Europaeischen Sozialforums aufgeworfen. Dabei zeigte
sich, wie produktiv das Konzept des Forums als «offener Raum» sein kann. In
Athen debattierten nicht nur Verfassungsgegnerinnen unterschiedlicher
Couleur, auch BefuerworterInnen des Entwurfs mischten mit. Marc Becker von
den christlichen Gewerkschaften Belgiens etwa hob die Vorzuege der
Grundrechtecharta hervor. Fuer sein Eingestaendnis, dem Verfassungsentwurf
etwas abgewinnen zu koennen, erntet er allerdings massive Unmutsbekundungen.
Giorgio Cremaschi von der italicnischen Metallergewerkschaft FIOM-CGII.
kritisiert.- seinen europaeischen Kollegen hart:. Die Gewerkschaften, sagte
er, haettenn die Krise Europas nicht erkennen koennen - sie seien «ein Teil
von ihr, da sie den Neoliberalismus umsetzen halfen». Um handlungsfaehig zu
werden, muessten Alternativen zum Europaeischen Gewerkschaftsbund entwickelt
werden, denn dieser sei nur ein Zusammenschluss, gebraucht werde aber eine
europaeische Gewerkschaft. Immerhin haben zahlreiche Einzelgewerkschaften
den Schulterschluss mit den sozialen Bewegungen nunmehr deutlich vollzogen:
Auf dem Sozialforum zeigten sie sich so praesent wie nie zuvor.

In Athen wurde zudem ein Papier diskutiert, das sich etwas umstaendlich
«Charta unserer gemeinsamen Prinzipien fuer ein anderes Europa» nennt. Doch
aehnelt ihre jetzige Fassung einem Teppich, der verschiedene Webstile
erkennen laesst. So wird einerseits formuliert, Europa muesse «alle
militaerischen Herrschaftsstrategien zurueckweisen, ebenso wie
Nationalismus, einschliess-lich des europaeischen Nationalismus. Ein paar
Seiten weiter findet sich andererseits die ziemlich zahme Forderung, die
Wochcnarheitszeit auf vierzig Stunden zu begrenzen. Wirtschaftsdemokratie
wird gross geschrieben: Die Charta verlangt ein Recht auf europaweite
Streiks, einen Mindestlohn und europaeische Steuern. Soziale Rechte will man
zu Konvergenzkriterien erheben, das heisst, auch Bedingungen etwa im Bereich
Altersvorsorge oder Arbeitslosenunterstuetzung muessen erfuellt sein, damit
man in die Euro-Zone aufgenommen wird.

Ihre Initiatorinnen verstehen die Charta als «work in progress». Sie sei
"nicht in Marmor gemeisselt," sagte Katja Kipping von der deutschen
Linkspartei . Auch Walter Baier von der KPOe plaedierte fuer eine breite
Diskussion in ganz Europa: Nicht nur die EU muesse die Methoden ihrer
Politik aendern, sondern auch die Linke.

Einig waren sich in Athen alle, dass es an einer europaeischen
Oeffentlichkeit fehlt. Viele politische Entscheidungen werden schon lange
transnational gefallt, debattiert wird aber meist innerhalb der
Staatsgrenzen, in nationalen Medien, Gewerkschaften und Organisationen.
Darueber koennen auch grenzueberschreitende Kampagnen wie juengst gegen die
EU-Dienstleistungs- und Hafenrichtlinien nicht hinwegtaeuschen. Was
europaeische Oeffentlichkeit heissen koennte, zeigten am Forum knapp zwanzig
Journalistinnen. Sie legten in Athen mit Unterstuetzung des Schriftstellers
Tariq Ali die vierte Ausgabe des « Eurotopia-Magazine» vor. Es erscheint
bislang in acht europaeischen Laendern in der jeweiligen Landessprache.
Vertrieben wird es ueber ein Netzwerk mittelgrosscr Zeitschriften. Dazu
zaehlen das italienische Wochenmagazin «Carta» mit einer Auflage von 15000
Exemplaren genauso wie die von Literaturnobelpreistraeger Harold Pinter
herausgegebene Monatsschrift «Red Pepper» oder die mehrfach ausgezeichnete
kroatische "Feral Tribune". Im Unterschied etwa zum «Le Monde diplomatique»
gibt es bei «Eurotopia» keine Zentralredaktion, sondern ein kontinentales
Netzwerk von Redaktorinnen.

Auf dem Sozialforum in Athen waren neben Migrantinnen auch grosse
Delegationen aus europaeischen Nicht-EU-Staaten vertreten. Allein aus der
Tuerkei kamen ueber tausend Menschen. Europa, darueber war man sich einig,
endet nicht an den stark befestigten Aussengrenzen der EU.(Steffen Vogel,
WoZ 19/06)



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