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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 25. April 2006; 17:45
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Balkan/Minderheiten:

> Ignoriert, isoliert und vergessen

Bei den Kosovoverhandlungen spricht niemand ueber die Minderheiten.


Waehrend die Verhandlungen in Wien ueber den endgueltigen Status des Kosovo
noch in vollem Gange sind, gehen die Minderheiten in der
serbisch-albanischen Diskussion voellig vergessen.

Die Oeffentlichkeit interessiert sich wenig fuer das Schicksal der Roma, der
Aschkali, der BosniakInnen, der TuerkInnen, der GoranInnen oder der
KroatInnen des Kosovo, die zwischen den Bloecken der beiden grossen
Nationalitaeten stehen. Zusammengenommen repraesentierten die «kleinen
Voelker» immerhin zehn Prozent der Kosovo-Bevoelkerung vor dem Krieg.

Seit 1999 sind die Roma im Kosovo einer staendigen Bedrohung ausgesetzt. Sie
werden von vielen Kosovo-AlbanerInnen beschuldigt, mit den ehemaligen
serbischen Machthabern «kollaboriert» zu haben. Sie sind systematisch aus
den Staedten vertrieben und ihre Haeuser gepluendert und niedergebrannt
worden. Viele Roma fluechteten daraufhin nach Serbien, nach Montenegro oder
nach Mazedonien, wo sie heute unter prekaeren Umstaenden leben. Andere haben
sich in den serbischen Enklaven niedergelassen.

In Vucitrn, einer Gemeinde zwischen Pristina und Mitrovica gelegen, wurde im
Juni 1999 ein ganzes Wohnviertel der Roma zerstoert. Fuer ein
Vorzeigeprogramm fuer die Rueckkehr von Fluechtlingen konnten Anfang 2004
etwa hundert Roma zurueckkehren und erhielten die Erlaubnis, einige der
Haeuser wieder aufzubauen. Doch waehrend der Pogrome im Kosovo am 17. und
18. Maerz 2004 wurde das Viertel von extremistischen AlbanerInnen erneut
zerstoert und niedergebrannt. Die Roma konnten in einem Lager der
franzoesischen Armee Zuflucht nehmen. Diese hatte die Roma Ende 2005 aber
wieder ausquartiert mit der Erklaerung, dass die einzige Loesung deren
Rueckkehr in ihre Heimatstadt sei.

Gleichermassen betreiben die UN seit gut einem Jahr die schrittweise
Raeumung eines ausgedehnten Lagers in Plemenica, das in einer serbischen
Enklave in der Naehe von Pristina liegt. Doch statt sich dem Abenteuer einer
Rueckkehr in ihre urspruengliche Heimat in den albanischen Zonen
auszusetzen, ziehen es die Roma vor, sich mit ihren eigenen Mitteln in
anderen serbischen Enklaven niederzulassen. Als Folge davon erhalten sie
keinerlei humanitaere Hilfe mehr und muessen mit Bettelei, Diebstahl und
Prostitution ueberleben.

In der serbischen Enklave Preoce, einige Kilometer von Pristina entfernt,
sagt Atlan Gidzic, Verantwortlicher einer Vereinigung der Roma, dass sein
Volk ohne zu zoegern aus dem Kosovo fluechten wuerde, wenn es zu einer
Unabhaengigkeit kommen sollte. «Wir haben nichts gegen die Albaner, aber in
ihren Augen sind wir der Feind, nur weil wir in den serbischen Enklaven
leben.» Nach den Ausschreitungen im Maerz 2004 haben sie jede Hoffnung auf
eine Normalisierung der Beziehungen zwischen den Ethnien aufgegeben.
Ausserdem haetten viele Kosovo-SerbInnen seit 1999 ihr Land an AlbanerInnen
verkauft und wuerden beim ersten Anzeichen einer Unabhaengigkeitserklaerung
das Land verlassen.

Die «AegypterInnen» bilden ihrerseits eine eigene «Minderheit innerhalb der
Minderheit» und nehmen im Vergleich mit der Gemeinschaft der Roma eine
spezielle Position ein. Anlaesslich der jugoslawischen Volkszaehlung von
1991 tauchte diese Gruppe das erste Mal in einer Statistik auf. Die zirka 10
000 «AegypterInnen» fuehren ihren Namen auf den abschaetzigen Begriff der
«Zigeuner» zurueck (in den Lokalsprachen «Egipcani, Edjupci, Kipti oder
Faraoni» genannt, englisch «gypsies»), ein Begriff, der normalerweise den
Roma zugeordnet wird, von dem sie sich jedoch kategorisch abgrenzen. Die
«AegypterInnen» des Kosovo fuehlen sich der albanischen Kultur nahe und
sprechen eine eigene Sprache.

Viele kleine Gemeinschaften gefallen sich in ihrer unbequemen Position und
haben die Gewohnheit, bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu sagen: «Wir
sind in einer Sandwichposition zwischen zwei Voelkern, und wie man weiss,
wird ein Sandwich aufgegessen.» Eine neue, eigene ethnische Gruppe zu
schaffen, wie jene der «AegypterInnen», war eine Moeglichkeit, sich
abzugrenzen. Doch obwohl sich die «AegypterInnen» als sozial besser
integriert verstanden als die Roma, wurden auch sie nach 1999 systematisch
aus dem Kosovo vertrieben. In den Fluechtlingslagern von Montenegro und
Serbien bestehen sie jedoch weiterhin auf ihrer eigenstaendigen Identitaet.
In einer Zeit der Entstehung eines mono-ethnischen Kosovo gibt es aber
keinen Platz mehr fuer «Skurrilitaeten» wie ein balkanisch-aegyptisches
Volk.

Die Situation anderer «vergessener» Minoritaeten im Kosovo ist nicht weniger
dramatisch. Nach einer Volkszaehlung im Jahr 1981 wurden in der Gemeinde von
Vitina 3722 KroatInnen gezaehlt. Diese Gemeinschaft ist heute auf 55
Menschen zusammengeschrumpft. Die kroatische Bevoelkerung lebt in kleinen
Doerfern im Vorgebirge der Skopska Crna Gora an der Grenze zu Mazedonien.
Die Haeuser im Dorf Letnica wurden gepluendert und niedergebrannt, und nur
noch wenige Menschen leben in diesem Geisterdorf. Es gibt keine Strasse nach
Sasare, und um dorthin zu gelangen, muss man den Wegspuren im Schnee folgen.
Vor fuenfzehn Jahren lebten 350 kroatische Familien in den Steinhaeusern.
Heute sind es noch sechs Paare. Der alte Mato Matic erzaehlt von ihrem
Unglueck und dem stetigen Exodus der Gemeinde: «Serbische Milizen haben uns
1991 angegriffen, und viele der Einwohner sind daraufhin gefluechtet.» 1999
intervenierte das Militaerbuendnis Nato. Viele haetten gehofft, dass damit
alles besser wuerde. «Doch die USA haben uns vergessen. Niemand ist
gekommen, um uns zu schuetzen, und seit sieben Jahren sind wir nun das
Freiwild von Pluenderern.» Im Herbst 1999 organisierten die
Kosovo-Streitkraefte (Kfor) einen Transport von ueber 300 KroatInnen der
Region um Letnica nach Kroatien, wo sie in verlassenen ehemaligen serbischen
Doerfern der Krajina untergebracht wurden. Auch eine Art, eine «ethnische
Homogenitaet» des Kosovo und von Kroatien herzustellen.

Die Situation der GoranInnen, slawische MuslimInnen aus dem suedlichen
Berggebiet von Sar Planina, ist kaum besser. Das Volk der GoranInnen ist
spezialisiert auf die Herstellung von Backwaren und von «Boza», einem
Erfrischungsgetraenk aus fermentierter Gerste, das auf dem Balkan waehrend
der heissen Sommermonate sehr beliebt ist. Viele GoranInnen besitzen heute
noch Baeckereien in Belgrad oder in Skopje, viele sind aber auch nach
Westeuropa, vor allem nach Deutschland ausgewandert. Im Fruehling 1999
wurden auch viele GoranInnen und BosniakInnen zu Opfern von Ausschreitungen.
Das Schicksal der GoranInnen variierte von Stadt zu Stadt. In der einen
verfolgt und vertrieben, konnten sie in anderen ihre Aktivitaeten ungestoert
fortsetzen. In allen Faellen aber mussten die Menschen verschiedene
Strategien fuer ihr Ueberleben entwickeln und sich auf taktische Buendnisse
mit den Machthabern einlassen, die sich der jeweils aktuellen politischen
Lage anpassten. Der Preis der «kleinen Voelker» fuer ihr Ueberleben.

Auch die Ausbildungssituation der Minderheiten ist schlecht. Viele
GoranInnen und BosniakInnen werden nach dem albanischen Schulsystem
unterrichtet, in einer Sprache, die sie oft nur schlecht verstehen. Oder
entsprechend dem serbischen System in den Enklaven. In diesem Fall werden
die Minderheiten noch staerker von der dominanten albanischen Gesellschaft
isoliert. Der Bevoelkerungsanteil der AlbanerInnen im Kosovo liegt heute bei
88 Prozent, derjenige der SerbInnen bei 7 Prozent.

Im November 2005 haben die GoranInnen und BosniakInnen des Kosovo eine
offizielle Vertretung ihrer Voelker bei den Verhandlungen um die Zukunft des
Gebietes verlangt. Bis heute haben sie noch keine Antwort auf ihren Antrag
erhalten.

Noch im Februar 1999, waehrend der Gespraeche in Rambouillet, umfasste die
Delegation aus Belgrad auch RepraesentantInnen der Roma, der BosniakInnen,
der TuerkInnen, der GoranInnen und anderer kleiner Voelker. Im Zuge dieser
Gespraeche wurde Belgrad beschuldigt, diese Voelker zu manipulieren. Sieben
Jahre spaeter wurden sie schlicht und einfach bei den serbisch-albanischen
Verhandlungen vergessen.
(Jean-Arnault Dérens in WOZ, 20.04.06)

Quelle: http://www.woz.ch/artikel/newsletter/13255.html


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