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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 14. Maerz 2006; 17:03
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Wirtschaft:
> Kennst du deinen Zeitungsaustraeger?
Die Marktliberalisierung des Zeitungsverteilerwesens und die Erfindung des 
"Neuen Selbststaendigen" haben einen neuen Typus von Austraeger geschaffen: 
den unterbezahlten Asylwerber ohne Kranken-, Pensions- und 
Unfallversicherung. Er ist ganz im Sinne des wirtschaftsliberalen 
Zeitgeistes "flexibel", aber weder frei noch selbststaendig.
Wenn 2006 in der Oeffentlichkeit ueber Zeitungsaustraeger geredet wurde, 
dann hatte das bislang spektakulaere Gruende: ein Leichenfund in Wels, ein 
Wohnungsbrand in Asten/Steyr, eine Messerattacke in Graz. Die Austraeger 
wurden als erste auf Tote aufmerksam, sie retteten Betrunkene vor den 
Flammen oder entkamen knapp einem Mordversuch. Kurz: die Geschehnisse rund 
um die Austraeger eigneten sich fuer grosse Schlagzeilen. Nur eine Headline 
blieb aus: das monatliche Bruttoeinkommen eines Zeitungsaustraegers ist 
ueber alle Branchen hinweg in Oesterreich das niedrigste! Es liegt nach 
Aussagen der Gewerkschaften bei 670 Euro. Eigene Recherchen zeigen, dass es 
auch auf 450 Euro im Monat sinken kann. Die schlechte Bezahlung ist im 
Wesentlichen auf einen globalen Strukturwandel im Verteilerwesen 
zurueckzufuehren. Das belegt eine am Grazer Institut fuer Soziologie von 
sechs Studenten durchgefuehrte Fallstudie, die kuerzlich im Studienverlag 
als Monographie unter dem Titel "Wo bleibt heute die Zeitung?" erschienen 
ist. Ein Ko-Autor moechte in diesem Beitrag mit den Stilmitteln derer, die 
er kritisiert, aufzeigen, was dem geschulten Journalistenauge bislang 
entgangen ist: In "Wo bleibt heute die Zeitung" finden sich Puzzlestuecke, 
die, einmal zusammen gelegt, einen genialen Zeitungsaufmacher ergeben 
koennten!
Puzzlestueck I: Zeitungsaustragen damals
Vor 15 Jahren hatten die grossen oesterreichischen Medienhaeuser ihre 
eigenen Austraeger, mit fixem Dienstvertrag und allen dazu gehoerigen 
Sozialleistungen, die das Ungemach des naechtlichen Arbeitens bei Wind und 
Wetter wenigstens ein wenig kompensieren konnten. Nachts zu arbeiten ist 
nicht jedermanns Sache, aber angesichts familiaerer Verpflichtungen und/oder 
geringer Qualifikation haben sich schon immer leicht Austraeger gefunden. 
Muetter stellten das Gros in dieser Berufsbranche. Das Austragen konnte 
schnell erlernt werden und die Nachtarbeit liess Zeit fuer die 
Kinderbetreuung. Ausserdem schaetzte man die relative Autonomie.
("Keiner schaut dir auf die Finger. Sagt dir, wie du was tun sollst.") Fuer 
diese Personengruppe wurde der Job meist "klebrig", d. h. man blieb aufgrund 
nicht vorhandener Alternativen beim taeglichen Austragen. ("Ich habe mir 
gesagt, ich mache das bis die Kinder Schule gehen. [...] Aber man bleibt 
einfach haengen". )
In den Ferien sprangen gern Studenten fuer die hauptberuflichen Kollegen 
ein. Aegyptische Kolporteure sahen die naechtliche Arbeit als Alternative zu 
den lauten Strassenkreuzungen. Man war mit der Arbeit einigermassen 
zufrieden, auch wenn man zu Silvester die Treppen hoch hetzte, waehrend 
andere die Korken knallen liessen. In der von den Autoren untersuchten Firma 
gab es fuer die Dienstnehmer sogar Privilegien: Gutscheine einer grossen 
Handelskette, Weihnachtspakete, Betriebstreffen als feste Institution. 
Aufgrund des Umstands, dass die Kolporteure monatlich das Zeitungsgeld zu 
kassieren hatten, kamen auch persoenliche Kundenkontakte zustande. Unter den 
Austraegern gab es, wie auch heute noch, ein berufsspezifisches Ethos: Sei 
schnell, automatisiere deine Handgriffe, werde nicht wehleidig. Mit dieser 
Einstellung konnte man bei einer grossen Anzahl an ausgetragenen Zeitungen 
(600-700 Stueck) zwischen zwei und sechs Uhr nachts seinen Lebensunterhalt 
verdienen. Die Arbeit hatte aber, damals wie heute, Konsequenzen fuer die 
Gesundheit. Eine Fragebogenerhebung und Interviews foerderten eine grosse 
Anzahl an koerperlichen Beschwerden zu Tage: chronische Uebermuedung, 
Herzrhythmusstoerungen, Gelenksabnuetzung, Rueckenschmerzen, u. a.. Das 
Arbeitsinspektorat "schlaeft" indes. Die Arbeitsmediziner werden nach 
Amtsvorschrift erst dann aktiv, wenn ein Beruf als "gefahrvoll" 
eingeschaetzt wird. Das Zeitungsaustragen ist aber derzeit ein einziger 
Graubereich - keiner scheint zu wissen, wer wie was unter welchen 
Bedingungen verrichtet.
Puzzlestueck II: "Outsourcing"
Das Zeitungsaustragen ist heute weitgehend "outgesourct", d. h. an 
spezialisierte Dienstleister weitergegeben worden. Aus 
betriebswirtschaftlicher Sicht ist es verstaendlich, dass Zeitungsverlage 
nicht effizient ausfuehrbare Aufgaben, die nicht zum Kerngeschaeft gehoeren, 
anderen ueberlassen. Doch die einfache Maxime: "Do what you can do best - 
outsource the rest" schafft eine neue, komplexe Realitaet - und das zu 
Ungunsten der Austraeger.
Puzzlestueck III: Zeitungsaustragen heute
Die neuen Verteilerunternehmen brachten ihr Know-how ein und stellten, um 
Kosten zur sparen, auf neue Arbeitsmodelle um. So arbeiten seit 2002 fuer 
die aus den Niederlanden kommende Redmail nur noch "Neue Selbststaendige". 
Dadurch senkt man die Lohnnebenkosten. Oder anders herum: So entgehen dem 
Staat all jene Abgaben, die den Dienstgebern auferlegt wurden, um unser 
Sozialsystem mitzufinanzieren. Soziologisch am Aufschlussreichsten ist wohl 
aber eine dritte Perspektive, naemlich die der Arbeiter. Was bringen ihnen 
die neuen Arbeitsvertraege, was haben sie vom dem sprachlichen Bombast 
("Ein-Mann-Unternehmen", "Flexibilitaet", "Ich-AG" u. a.)?
Die Hauptfolge ist ein deutlicher Lohnrueckgang durch ethnische 
Unterschichtung. Eine Gruppe, die ueblicherweise keine 
Beschaeftigungsbewilligung hat, bekommt Zugang zu diesem neuen Segment des 
Arbeitsmarktes: Asylwerber. Sie duerfen rein rechtlich als 
Werkvertragsnehmer arbeiten. Die Beschaeftigungspyramide ist somit nach 
unten hin offen. Die Anzahl potenzieller Arbeitskraefte schnellt nach oben, 
und da sich Gehaelter nach Angebot und Nachfrage richten, sind die Loehne 
heute im Keller.
Der Lohnrueckgang hat aber auch einen anderen Grund. Um flexibler zu sein, 
werden die Rayons der Austraeger verkleinert. Die meisten tragen im 
Vergleich zu "damals" um einige hundert Zeitungen weniger aus. Das bedeutet 
weniger Verdienst. Bezahlt wird naemlich nach Gewicht je 1000 Stueck, wobei 
auch die Art des Rayons beruecksichtigt wird (Haeuser mit oder ohne Lift, 
etc.) Ein typischer Lohnschluessel kann folgendermassen aussehen: 
Wochenzeitung X, Gewicht in Gramm: bis 150, Rayon A, je 1000 Stueck = 21, 80 
Euro. Dazu kommen dann vertragliche Details, die den Asylwerbern bei 
Vertragsunterzeichnung aufgrund ihrer geringen Deutschkenntnisse wohl stets 
verborgen bleiben duerften: Fuer andere auszutragende Produkte 
(Werbeprospekte, etc.) erhaelt man weniger, auch wenn diese erheblich mehr 
wiegen und deshalb mehr Arbeitsaufwand bedeuten. Auch die Kosten fuer die 
Beschaffung und/oder Reparatur der Arbeitsgeraete (Rad, Moped, Auto) sind 
selber zu bestreiten. Selbstaendig bedeutet schlussendlich auch, dass das 
eigene Handy als Diensthandy herhalten muss, wenn zum Beispiel die Arbeiter 
die Zentrale darueber informieren muessen, dass zu wenig Zeitungen an der 
Verteilerstelle abgelegt wurden. Beschwerden ueber schlechte 
Arbeitsbedingungen kann man sich aufgrund der starken Konkurrenz nicht 
leisten. Es ueberrascht daher wenig, dass es fuer die neuen 
Ein-Mann-Unternehmen auch keine Interessensvertretung gibt.
Puzzlestueck IV:
"Es kann nicht sein, was nicht sein darf" - auch Vertraege sind flexibel
Es spricht wenig dafuer, dass das Zeitungsaustragen tatsaechlich eine 
konkret definierte, im Vertrag vereinbarte Leistung ist, die die Arbeiter 
selbststaendig und eigenverantwortlich erbringen koennen. Aber genau das ist 
die rechtliche Voraussetzung dafuer, jemanden als "Neuen Selbststaendigen" 
anstellen zu koennen. Beobachtungen im Felde zeigen, dass Austraeger in den 
Betrieb eingeordnet werden. Als letztes Glied in der Verteilerkette sind sie 
interdependent und zwar buchstaeblich so, wie wir es nun einmal von anderen 
Kettengliedern her kennen: Bricht der Kontakt nach "oben" hin ab, verliert 
der Austraeger seine Funktion und die angeblich unabhaengige Ich-AG entpuppt 
sich als blosser Schein. Einige Beispiel sollen die Abhaengigkeit in ihren 
vielseitigen Erscheinungsformen verdeutlichen: Zeitungen, adressierte 
Zustellungen und Prospekte muessen spaetestens bis sechs Uhr Frueh bei der 
Kundschaft sein - diese Produkte sind jedoch erst ab etwa zwei Uhr morgens 
auf dem Ablageplatz zu finden. Bei abendlichen Fussballuebertragungen, 
Defekten im Druckwerk, etc., kommt es zu Verzoegerungen im Druck und somit 
auch in der Verteilung und die "unabhaengigen" Austraeger muessen in der 
Kaelte warten.
Die Arbeiter muessen sich an ein Tourenbuch halten, in dem Anweisungen 
darueber notiert sind, wie die Arbeit verrichtet werden soll. Sollte sich am 
routinemaessigen Verlauf etwas aendern, so muessen die Vorgesetzten darueber 
informiert werden. Ausserdem werden die Beschaeftigen regelmaessig 
kontrolliert. So moechte die Firma sicherstellen, dass auch alle Produkte 
vor der richtigen Tuere landen.
Selbststaendigkeit kann semantisch breit ausgelegt werden. Aber welche 
Gemeinsamkeiten kann man zwischen der taeglichen Taetigkeit des 
Zeitungsaustragen und z. B. dem einmaligen Auftritt einer Opernsaengerin 
finden (die oftmals auch auf Werkvertragsbasis arbeitet)?
Der Oberste Gerichtshof sieht in diesen "sachlichen Weisungen", wie er es 
nennt, keine Einschraenkung "der persoenlichen Gestaltungsfreiheit" der 
Austraeger. (8 ObA 45/03f-4). Fuer einen Werkvertrag wuerde vor allem das 
"vorhandene, echte Vertretungsrecht" (Delegation der Arbeit an einen 
Dritten) sprechen. Im Urteil raeumt der OGH aber dennoch ein, dass 
"gewichtige Argumente" fuer das Vorliegen eines "freien Dienstvertrags" 
sprechen wuerden. Dem OGH blieb verborgen, dass nur ein verschwindend 
kleiner Anteil das Vertretungsrecht auch tatsaechlich nutzt. Die Gruende 
hierfuer sind zahlreich: langwierige Einschulung, Angst vor 
Kundenbeschwerden bei falsch oder nicht abgelieferten Produkten, etc.
Wie auch immer, der Richterspruch ist nun einmal Tatsache. Die schlechten 
Arbeitsbedingungen scheinen den Austraegern weiterhin unabaenderbar. Die 
Unternehmen haben aber dazu gelernt: Werkvertraege werden staendig 
abgeaendert, mit juristischer Raffinesse neu formuliert, damit ja keine 
weiteren Zweifel an der Legitimitaet der Werkvertraege der Austraeger 
aufkommen koennen - Flexibilitaet, wohin man auch sieht.
Puzzlestueck V: Postliberalisierung
Die totale Postliberalisierung ist in Oesterreich beschlossene Sache. Die so 
genannten "Hausbrieffachanlagen" werden ausgewechselt. Sie werden nicht mehr 
mit (Post-)Schluessel zu oeffnen sein, sondern einen Schlitz aufweisen, der 
privaten Unternehmen die Zulieferung ermoeglichen wird.
Die derzeitige Debatte um die bevorstehende Liberalisierung verirrt sich in 
alle moeglichen Richtungen: Kann man unter diesen neuen Rahmenbedingungen 
eine Versorgung im laendlichen Bereich garantieren? Werden die 
Massenwerbungen durch Direct Mails ersetzt werden? Wer muss die Kosten fuer 
die neuen Briefkaesten tragen? Es fehlt an Weitblick, langfristige 
Ueberlegungen werden nicht angestellt. Selbst die 
Kosten-Nutzen-Ueberlegungen fallen eng aus. Einseitig ist davon die Rede, 
dass der Wettbewerb zusaetzliche Arbeitsplaetze schaffen wuerde. Keiner 
fragt danach, welche Arbeitsmodelle die neuen Anbieter einfuehren werden - 
selbst wenn es nahe liegt, dass diese Bewaehrtes fortsetzen und folglich dem 
Lohnnebenkosten sparenden Werkvertrag weiterhin den Vorzug geben werden. Das 
wird aus rechtlichen Gruenden nicht in allen Bereichen des Verteilerwesens 
moeglich sein. Der sozial abgesicherte Postbote koennte aber dennoch der 
Vergangenheit angehoeren. Die volkswirtschaftlichen Verluste durch die 
atypischen Beschaeftigungen muessten sich nach wenigen Jahren zeigen.
Das Puzzle zusammen zu setzen ist nicht schwer - warum tut es bloss keiner?
Wie wir gesehen haben, kann man sich leicht das wahrscheinlichste 
Zukunftsszenario fuer das oesterreichische Verteilerwesen ausmalen. Die 
Journalisten in den Chefetagen wissen ueber diese Entwicklungen Bescheid. 
Schliesslich sitzen sie ja teilweise auch in den Unternehmensleitungen der 
Zeitungsverlage und kennen den Weg der Zeitung von der Druckerei bis vor die 
Haustuere. Warum, so die nahe liegende Frage, erscheint nicht endlich der 
grosse Aufmacher ueber das Ende des herkoemmlichen Zeitungsaustraegers?
Man verfasst eben nicht gerne Artikel, die einem selbst schaden koennten! 
Die fuer Oesterreich typische Medienverflechtung ermoeglicht es auch, dass 
der eine dem anderen Medienmacher Rueckendeckung geben kann. Selten nur 
tanzt einer aus der Reihe. 2005 setzte der Kolumnist und Eigentuemer eines 
der groessten europaeischen Boulevardblaetter die stumpfe Feder an und 
bezichtigte das Konkurrenzblatt der Beschaeftigung von "Illegalen". Der 
Vorwurf verhallte schnell, schliesslich gab es angeblich Wichtigeres (aus 
dem Weltgeschehen) zu berichten.
Sociology goes public
Aufgabe des Soziologen ist es soziale Realitaet zu beschreiben und zu 
erklaeren. Beides ist nicht einfach. Hat der Soziologe aber das "soziale 
Dickicht" durchschaut, waere es widersinnig, wenn er nicht zur 
gesellschaftlichen Aufklaerung beitragen wollte. Da es unwahrscheinlich ist, 
dass Tageszeitungen das vorliegende Thema aufgreifen werden, hat das Grazer 
Autorenkollektiv andere Wege gesucht, um ihre Forschungsergebnisse bekannt 
zu machen. So nebenbei gefragt: Kennen Sie eigentlichen Ihren 
Zeitungsaustraeger?
*Philipp Korom*
Erstabdruck des Artikels: Newsletter der Oesterreichischen Gesellschaft fuer 
Soziologie/Februar-Ausgabe 2006.
Literaturhinweis: Matthias Aberer, Philipp Korom, Eva Postl, Daniela 
Reischl, Matthias Revers & Barbara Schantl (2006): Wo bleibt heute die 
Zeitung? Die Arbeits- und Lebensbedingungen von ZeitungsaustraegerInnen. 
Innsbruck: Studienverlag.
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