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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 28. Februar 2006; 22:23
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Bolivien:

> Zwischen Indígena-Utopie und Wirtschaftspragmatismus

Knapp drei Jahre nach seinem Scheitern bei den Wahlen 2002 gehen Evo
Morales, Fuehrer der Cocabauern und der bolivianischen
Indígena-Bauernbewegung, und seine Partei siegreich aus den Gesamtwahlen vom
18. Dezember 2005 hervor. Diese Wahlen waren nach der Krise von Mai/Juni
2005 zwischen dem bisherigen Praesidenten Rodriguez und den sozialen
Bewegungen vereinbart worden. Mit 51 % der Stimmen schafft die MAS-IPSP
(Bewegung zum Sozialismus - Politisches Instrument fuer die Souveraenitaet
der Voelker) schon im ersten Wahlgang den Durchbruch. Mit Morales, der fuer
viele die sozialen Auseinandersetzungen verkoerpert, die das Land seit 2000
und dem "Wasserkrieg" in Cochabamba erfasst haben, wird erstmals in
Lateinamerika ein Indígena Staatschef. Der Wahlsieg der MAS ist sicherlich
in gewisser Hinsicht eine Rueckkehr der Linken an die Macht (nachdem die
UDP-Regierung 1985 an der Wirtschaftkrise gescheitert war). Aber die heutige
Linke ist - auch wenn sie zum Teil das Erbe der damaligen Linken
verkoerpert - unendlich vielfaeltiger als diese.

Der relative Wahlerfolg der MAS bei den Gesamtwahlen 2002 und den
Kommunalwahlen 2004 - auch wenn ihr in groesseren Staedten der Durchbruch
noch versagt blieb - beruht nicht nur auf der unbestrittenen Popularitaet
Evo Morales', sondern auch und vor allem auf dem politischen Aufkommen einer
sich konsolidierenden Bauern- und Indígenabewegung. Die Anfang der
90er-Jahre entstandene Bewegung ist gewissermassen die Frucht eines
Prozesses der Herausbildung eines "politischen Instruments", das den
bolivianischen Bauern- und Indígenabewegungen eine direkte Vertretung
ermoeglichte. Die Gewerkschaften der Cocabauern, die seit Ende der 80-er
Jahre in Konflikt mit der von der US-amerikanischen
Drogenbekaempfungsbehoerde DEA unterstuetzten bolivianischen Armee standen,
gehoeren zu den Parteigruendern.

Das Ziel dieses "politischen Instruments" war unter anderem, durch
kollektiven Beitritt der beteiligten Organisationen eine so genannte
"organische" Vertretung ihrer GewerkschafterInnen zu foerdern. Die Gruendung
einer solchen Struktur kann mit Blick auf die Geschichte dieser Bewegung in
zweierlei Hinsicht als ueberlegte Massnahme gesehen werden:

Einmal gegenueber der urspruenglich kulturell ausgerichteten
Kataristen-Bewegung, die Anfang der 70er-Jahre entstanden war. Deren
Hauptziel bestand darin, der als unterdrueckt und geleugnet wahrgenommenen
Identitaet der Indígenas Anerkennung zu verschaffen. Den
Kataristen-Fuehrern, darunter Genaro Flores und Victor Hugo Cardenas, gelang
es, die Bauerngewerkschaft zu einer Bastion des Widerstands gegen die
Militaerdiktaturen zu machen, waehrend sie bis dahin zu deren treuesten
Stuetzen gezaehlt hatte.

Die Linke hatte und hat noch heute die die Bauernbewegung stets als
Trittbrett fuer ihre eigene Emanzipation angesehen. Diese fast systematische
Missachtung einer Bewegung, die als unfaehig betrachtet wurde, soziale
Kaempfe im Land zu fuehren, kommt in den nach wie vor geltenden Statuten des
Verbands bolivianischer Arbeiter (COB, Gewerkschaftsdachverband) zum
Ausdruck, der den Bergarbeitern als Gewerkschaftssektor eine zentrale Rolle
zuschreibt und sie als Avantgarde des bolivianischen Proletariats feiert.
Die Bergarbeiter wurden jedoch 1985 durch die neoliberalen Reformen
aufgerieben und sind in ihrer Bedeutung geschrumpft, waehrend die
Bauern/Baeuerinnen - zahlenmaessig jetzt durch die Coca-Anbauer (oft
ehemalige Bergarbeiter) staerker in der COB vertreten - im Verhaeltnis zu
ihrem realen Gewicht auf der politischen Buehne unterrepraesentiert sind.

Vor den Gesamtwahlen 2002 veranlasste das Fehlen politischer Kader und der
Wunsch, im "urbanen Mittelstand" Stimmen zu gewinnen, Evo Morales dazu,
zahlreiche Einladungen an linke Intellektuelle zu richten. Als Symbolfigur
waehlte er den Journalisten und ehemaligen Guevaristen der Kommunistischen
Partei, Antonio Peredo, den Bruder von Inti und Coco Peredo, die in Ches
Guerilla gekaempft hatten, zum Kandidaten fuer die Vizepraesidentschaft.

Die unbeabsichtigte Folge dieses Schachzugs bei den Wahlen 2002 - in denen
die MAS 20 Prozent der Stimmen erhielt und damit die zweitstaerkste
bolivianische Partei wurde - war, dass Persoenlichkeiten aus der klassischen
Linken staerker in den Vordergrund gerueckt wurden, die keinen Bezug zur
Indígena-Stroemung hatten. Die beiden Stroemungen der Linken und der
Indigenas und Bauern/Baeuerinnen waren bisher darauf bedacht, ihre
gegenseitige Unabhaengigkeit zu wahren, aber sie sind durch ein starkes
nationalistisches Gefuehl mit einander verbunden, das bei den
Bauern/Baeuerinnen (besonders bei den Coca-Bauern) auf einer Opposition
gegen die Einmischung der Vereinigten Staaten in das politische Leben
Boliviens beruht und bei den Linken auf einer antiimperialistischen
Tradition. Die MAS heftete sich damit in gewisser Weise wieder den
"revolutionaeren Nationalismus" auf die Fahnen, der Jahre lang von der
Nationalistischen revolutionaeren Bewegung (MNR) verteidigt wurde, bis sich
diese 1985 zum Neoliberalismus bekehrte, und verband diesen mit dem
kataristischen Denken und in geringerem Ausmass mit dem Marxismus.

Gespaltene soziale Bewegungen

Trotz der MAS-Uebermacht im linken politischen Lager bleiben die sozialen
Bewegungen in Bolivien stark gespalten, insbesondere aufgrund des
korporatistischen Denkens im Zusammenhang mit lokalen Interessen, und manche
geben sich zeitweise gegenueber der Partei von Evo Morales ausgesprochen
kritisch. Dennoch liegt dem Sturz der Regierung von Carlos Mesa im Maerz
2005 eine Einheit der sozialen Bewegungen durch einen revolutionaeren
Einheitspakt zwischen MAS, der Indígena-Bewegung Pachakuti (MIP), der COP,
den beiden CSUTCB und den Organisationen des Alto zugrunde. Allerdings brach
diese Einheit angesichts von Differenzen bezueglich der Verstaatlichung der
Erdgasindustrie und der fuer die bolivianischen sozialen Bewegungen so
typischen Konkurrenz zwischen den Fuehrungen sofort wieder auseinander.

Um diesem Problem zu begegnen, glaubte Evo Morales, in der Person von Alvaro
Garcia Linera den geeigneten Kandidaten gefunden zu haben, der auch die
letzten noch zoegernden Bewegungen anziehen sollte. Der Soziologe Garcia,
der sich dank seiner Fernsehauftritte als politischer Kommentator grosser
Beliebtheit erfreut, ist ein ehemaliger Kampfgenosse des MIP-Fuehrers Felipe
Quispe. Garcia beschraenkte sich im Wesentlichen auf seine akademische
Taetigkeit, blieb aber mit ausnahmslos allen bolivianischen sozialen
Bewegungen in Kontakt. Als er Mitte August einwilligte, fuer die MAS
anzutreten, tat er das mit dem Anspruch, auf derselben Liste, aber hinter
Morales alle Bewegungen zusammenzufuehren, um eine moeglichst breite linke
Einheit aus ArbeiterInnen, Indígenas und Intellektuellen zu ermoeglichen.


Heute scheint die Strategie von Alvaro Garcia und Evo Morales nur zum Teil
aufgegangen zu sein. Die von der MAS-Fuehrung eingegangenen Buendnisse
reichen tatsaechlich ueber die traditionellen Verbuendeten der Partei hinaus
und schliessen beispielsweise die Bewegung ohne Furcht (MSM) des
Buergermeisters von La Paz, Juan del Granado, zahlreiche Linksparteien wie
die Sozialistische Demokratische Partei (PSD) und die maoistische
Marxistisch-leninistische Partei Boliviens (PCMLB), mit ein. Doch obwohl
dieses Wahlbuendnis zweifelsohne sehr breit ist, halten sich die
bedeutendsten Sozialistenfuehrer abseits: Felipe Quispe kandidierte erneut
fuer die MIP und Jaime Solares, Exekutivsekretaer der COB, haette beinahe
als Vizepraesident der MIP kandidiert. Das Risiko, sein Mandat im
Gewerkschaftsbund zu verlieren, scheint ihn aber zum Rueckzug bewogen zu
haben. Zudem scheint er auf den Aufbau eines "politischen Instruments der
Arbeiter" zu setzen, da er gemaess einer sehr orthodoxen marxistischen
Vorstellung davon ausgeht, dass "die Arbeiterklasse als einzige Klasse in
der Lage ist, das bolivianische Volk zur Emanzipation zu fuehren, nicht aber
die Bauern."

Ein zwiespaeltiges Wahlprogramm

Auch wenn Alvaro Garcia bei seinem Versuch gescheitert ist, die Gunst der
wichtigsten Fuehrer sozialer Bewegungen ausserhalb der MAS zu gewinnen, so
war er doch erfolgreich, was das zweite Ziel seiner Kandidatur betrifft,
naemlich die Einbindung von Intellektuellen des "staedtischen Mittelstands"
in den MAS-Wahlkampf. Rund um Alvaro Garcia hat sich ein Team von Oekonomen
und Soziologen versammelt, deren Auftrag es war, das Wahlprogramm der MAS
auszuarbeiten. Obwohl die wichtigsten ParteifuehrerInnen in
Programmarbeitsgruppen mitwirkten, waren nicht sie es, die diese Aufgabe
hauptsaechlich erledigten. Damit scheint sich das Problem des Delegierens
von politischer Arbeit an parteiexterne Persoenlichkeiten, das schon 2002 zu
beobachten war, in diesem Wahlkampf noch mehr verstaerkt zu haben. Dagegen
gibt es nur wenige "organische Intellektuelle", die aus der Indígena- oder
Bauernbewegung hervorgegangen sind. Dafuer scheint der Zustrom von
Intellektuellen, die wie Alvaro Garcia zum Teil der Linken angehoeren, die
programmatische Ausrichtung der MAS zum Teil substanziell zu veraendern,
indem sie ihr oft einen "technokratischen Anstrich" verleihen. Dennoch kann
man nicht auf einen Taschenspielertrick der Intellektuellen schliessen, die
sich die Partei unter den Nagel gerissen haetten. Vielmehr duerfte es sich
um einen Prozess handeln, den man "gegenseitige Legitimierung" nennen
koennte: Evo Morales, der in seinen Ansprachen unentwegt das "Buendnis
zwischen Bauern und Intellektuellen" feierte, versuchte auf diesem Weg,
einer zukuenftigen MAS-Regierung Glaubwuerdigkeit zu verleihen. Fuer die
Intellektuellen geht es darum, auf politischem Terrain ein oft rein
"technisches" Wissen zu legitimieren, denn aufgrund ihres Erfahrungsmangels
als AktivistInnen ist ihr Wissen bis dahin von allen politischen
Schlussfolgerungen (insbesondere im wirtschaftlichen Bereich) losgeloest.

Das Programm dieser Partei greift viele Erwartungen der meisten sozialen
Bewegungen auf: die Einberufung einer Verfassung gebenden Versammlung, die
Verstaatlichung der Erdgasvorkommen und der natuerlichen Ressourcen, die
Verteidigung und Industrialisierung von Cocablaettern sowie die Definition
einer von den Wuenschen der Vereinigten Staaten unabhaengigen Inlands- und
Auslandspolitik - eine Forderung, die im Slogan "Nationalisierung der
Regierung" zum Ausdruck kommt. All diese Punkte widersprechen jeder fuer
sich den Interessen des nordamerikanischen Nachbarn wie auch der
auslaendischen Multis, die im Gas-, Holz- und Wassergeschaeft taetig sind
(insbesondere die franzoesischen Unternehmen Total und Suez-Lyonnaise des
Eaux [Wassergesellschaft]).

Trotz dieser scheinbaren Radikalitaet werden die Stellungnahmen der MAS
insbesondere durch Alvaro Garcia unentwegt nuanciert, etwa durch die
Beteuerung, niemand "ausser denen, die das Volk wirklich bestohlen haben",
habe Anlass, sich vor einer MAS-Regierung zu fuerchten. Das fuehrte
zeitweise zu Spannungen oder Missverstaendnissen im Wahlkampf: Waehrend
Morales an der Seite von Hugo Chávez in Mar del Plata gegen die ALCA
demonstrierte, erklaerte Alvaro Garcia, das beeintraechtige nicht moegliche
bilaterale Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten ueber ein
Freihandelsabkommen, das wuenschenswert waere, "solange es die
wirtschaftliche Souveraenitaet Boliviens nicht beeintraechtigt". Waehrend
Morales die bruederliche Beziehung betont, die ihn mit Chávez und Fidel
Castro verbindet, gesteht Alvaro seine "Bewunderung fuer die europaeische
Sozialdemokratie" und meint, Venezuela versuche, wie "jeder andere Staat, in
seinen zwischenstaatlichen Beziehungen in erster Linie seine eigenen
Interessen zu befriedigen".

Eine "Revolution" ist also nicht in Sicht, und auch keine sehr radikalen
Massnahmen wie eine erneute Agrarreform oder ein ehrgeiziges
Sozialhilfeprogramm, das in einem Land, in dem extreme Armut herrscht, als
"sozial notwendig" erscheinen koennte. Zumal Evo Morales betont hat, dass
die MAS-Regierung am Beginn trotz allem mit neoliberalen Gesetzen arbeiten
muesse. Die wichtigsten radikalen Anderungen, die im Programm gefordert
werden, betreffen vor allem den Produktionsbereich. Insbesondere soll der
Staat wieder mehr Handlungsfaehigkeit bekommen. Seine Rolle wird in der
Koordinierung der verschiedenen Bereiche gesehen, aus denen sich die
bolivianische Wirtschaft zusammensetzt (Grossunternehmen, Gemeinden und
handwerkliche Mikrounternehmen), was Alvaro Garcia den
"Anden-Amazonas-Kapitalismus" nennt. Damit soll ein "Produktivitaetsschub"
ermoeglicht werden, der Stellen und Reichtum schaffe.

Trotz der scheinbaren Maessigung im Programm und den staendigen
Zugestaendnissen des Praesidentschaftsduos an das nationale und
auslaendische Kapital waere es verfehlt, mit dem Sieg der MAS ein Szenario
nach dem Vorbild von Lula vorherzusehen. Manche Fragen wie die
Entkriminalisierung des Coca-Anbaus, die Morales vorschlaegt, wirken im
politischen Kraefteverhaeltnis tatsaechlich polarisierend und haben zwar
diskrete, aber effiziente Einmischungen des US-amerikanischen Botschafters
in die lokale Politik zur Folge, wie erst kuerzlich der "Raketenskandal"
gezeigt hat.

Zudem duerfte die auch auf regionaler Ebene stattfindende Polarisierung
ebenfalls Einfluss auf die MAS-Regierung haben. Vermutlich wird sie
gezwungen sein, sich rasch zwischen Washington und der Achse Caracas/Havanna
zu entscheiden.

Sicher scheint heute, dass eine MAS-Regierung im Gegensatz zu Gutiérrez und
Lula seitens der Opposition wie der Vereinigten Staaten mit keinerlei
Stillhalten rechnen koennen wird. Fuer die Vereinigten Staaten ist der Sieg
von Morales ein Alptraum, denn er koennte die Strukturen eines
Kolonialstaates in Frage stellen, von dem sie seit der Einfuehrung der
Republik im Jahr 1825 stets profitiert haben. Eine MAS-Regierung muesste
auch darauf achten, die Hoffnungen nicht zu enttaeuschen, die die
Volksbewegungen, die Armsten und die Ausgeschlossenen in sie setzen. Die
Wahlen schliessen immerhin an eine Periode von Massenmobilisierungen an.
(Hervé Do Alto, stark gekuerzt)

Aus dem Franzoesischen: Tigrib; Aus: inprekorr/die linke online.



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