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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 31. Jaenner 2006; 17:39
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Welt/Wirtschaft:

> Die wahre Bedeutung von Hongkong

Brasilien und Indien schliessen sich in der WTO den Grossen an

Was in Hongkong auf dem Spiel stand, war das Ueberleben der
Welthandelsorganisation WTO als Institution. Nach dem Scheitern zweier
Ministertreffen in Seattle und Cancun haette das Zerbroeseln eines dritten
die Nuetzlichkeit der WTO als Hauptmotor der globalen Handelsliberalisierung
ernsthaft in Frage gestellt. Ein Kompromiss wurde benoetigt und ein
Kompromiss wurde gefunden.

Wie, warum und wer diesen Kompromiss beigesteuert hat, das ist die wahre
Geschichte von Hongkong.

Der Hongkong-Kompromiss wurde in manchen Berichten als ein "Minimal Paket"
bezeichnet, das hauptsaechlich als Lebenserhaltungssystem fuer die WTO
diene. Das trifft aber kaum zu. Der Kompromiss presste den
Entwicklungslaendern substantielle Zugestaendnisse ab, aber er gewaehrte
ihnen kaum etwas als Gegenleistung.

Die Entwicklungslaender wurden genoetigt, eine Senkung der Zollsaetze fuer
nichtagrarische Gueter hinzunehmen (die Entwicklungslaender erheben
allgemein hoehere Saetze auf Industriegueter), wodurch sie empfindliche
finanzielle Einbussen erleiden werden. Sie mussten weiters Zugestaendnisse
bei der Verhandlung des Abkommens ueber den Handel mit Dienstleistungen
machen.

Dafuer gibt es als Gegenleistung ein Datum fuer den endgueltigen Abbau
landwirtschaftlicher Subventionen. Dennoch soll die Subventionsstruktur in
der Europaeischen Union und in den Vereinigten Staaten groesstenteils intakt
bleiben. Selbst mit dem Abbau der formellen Exportsubventionen werden andere
Formen der Exportstuetzung gestattet, dass z.B. die Europaeische Union auch
nach 2013 damit fort faehrt, Exporte im Umfang von 55 Milliarden Euro zu
stuetzen.

Insgesamt war dies ein Abkommen mit Biss, jedoch werden die Bissspuren
hauptsaechlich in den Entwicklungslaendern zu finden sein.

Die Umrisse des Kompromisses wurden schon vor Hongkong offenkundig und viele
Entwicklungslaender kamen zum Ministertreffen mit dem Vorsatz, diesen
abzulehnen. Das gab zur Hoffnung Anlass, dass unter den Regierungen der
Entwicklungslaender eine Einigkeit entstehen koennte, was den drohenden
Kompromiss haette kippen koennen. Zum Schluss jedoch knickten die
Regierungen der Entwicklungslaender ein.Viele von ihnen waren einzig von der
Furcht motiviert, des Zusammenbruchs der Organisation beschuldigt zu werden.
Sogar Kuba und Venezuela beschraenkten sich darauf, waehrend der
Abschlusssitzung der Ministerkonferenz am 18. Dezember "Bedenken" ueber den
Dienstleistungstext anzumelden

Die Unterhaendler

Der Grund fuer das Einknicken der Entwicklungslaender war weniger der Mangel
an Fuehrung sondern eine Fuehrung in entgegengesetzter Richtung. Die Ursache
fuer das Hongkong-Debakel war die Rolle von Brasilien und Indien.

Bereits vor Hongkong waren Brasilien und Indien zu einem Kompromiss bereit.

Fuer Brasilien ging es unterm Strich um die Bekanntgabe eines Datums fuer
den Abbau der Exportsubventionen fuer landwirtschaftliche Produkte durch die
Europaeische Union. Die brasilianischen Unterhaendler und auch viele andere
erwarteten, dass die EU beim Ministertreffen ein solches ankuendigen wuerde,
auch wenn man annahm, dass die Europaeer aus verhandlungstaktischen Gruenden
bis zur letzten Minute damit warten wuerden. Brasilien war auch gewillt, den
Kompromiss bei den Dienstleistungen zu akzeptieren.

Es war bekannt, dass Indien diesen Kompromiss ebenfalls akzeptieren wuerde,
ebenso die Senkung der Zoelle auf Industriegueter.. Fuer viele war die
einzige Frage, ob Indien die entwickelten Laender zu Zugestaendnissen beim
freien Zugang von Fachkraeften aus Entwicklungslaendern zwingen wuerde. Wie
sich herausstellte, entschied sich Indien, Washington in diesem Punkt nicht
zu bedraengen.

Der Preis

Es bleibt zu diskutieren, ob das abschliessende Abkommen fuer Brasilien und
Indien einen Nettogewinn ergibt; aber auch, wenn die Bilanz einen
Nettoverlust ausweist, wird dieser fuer Brasilien und Indien geringer sein
als fuer die weniger entwickelten Laender. Wie auch immer, der wichtigste
Gewinn fuer Brasilien und Indien liegt nicht in der Auswirkung des Abkommens
auf ihre Volkswirtschaften, sondern in der Bestaetigung ihrer neuen Rolle
als machtvolle Unterhaendler innerhalb der WTO.

Waehrend der Ministerkonferenz von 2003 in Cancun wurde den USA und der EU
deutlich gemacht, dass die alte Machtstruktur und die alte Methode,
Entscheidungen in der WTO zu faellen, obsolet waren. Neue Mitspieler mussten
von der Elite angenommen werden. Der Zirkel der Macht musste erweitert
werden, um die Organisation wieder auf die Beine zu stellen und wieder in
Gang zu bringen.

Waehrend der Vorbereitungen auf die Ministerkonferenz in Hongkong wurde
Brasiliens und Indiens neue Rolle als maechtige Unterhaendler zwischen der
entwickelten und der sich entwickelnden Welt durch die Schaffung einer neuen
inoffiziellen Gruppierung, genannt die "Neue Quadriga", bestaetigt. Diese
Formation, die die EU, USA, Brasilien und Indien umfasste, spielte eine
entscheidende Rolle bei der Festsetzung der Tagesordnung und der Zielsetzung
der Verhandlungen. Ihr Hauptziel in Hongkong war, die WTO zu retten. Bei
dieser Rettungsaktion uebernahmen Brasilien und Indien die Aufgabe, die
Zustimmung der Entwicklungslaender zu einem unausgeglichenen Abkommen zu
erlangen, trotz des Widerstrebens der EU und der USA, deutliche
Zugestaendnisse bei der Landwirtschaft zu machen. Das Zustandekommen dieser
Einigung sollte den Nachweis liefern, dass Brasilien und Indien
"verantwortungsbewusste" globale Akteure seien. Es war der Preis, den sie
fuer eine Vollmitgliedschaft in einer neuen, erweiterten Machtstruktur zu
zahlen hatten.

Es erforderte eine Menge an Lobby-Arbeit vor und waehrend der Konferenz von
Hongkong, wobei beide Regierungen ihren Ruf als Fuehrer der sich
entwickelnden Welt aufs Spiel setzten, aber sie schafften es, allen die
Zustimmung zu einem ueblen Kompromiss abzuringen, wenn auch nicht ohne
Murren. Das war keine schlechte Leistung, da es die folgenden Punkte
beinhaltet:

Die am wenigsten entwickelten Laender stimmen einem "Entwicklungspaket" zu,
das hauptsaechlich aus einem zoll- und quotenfreien Zugang ihrer Produkte
auf die Maerkte der entwickelten Laender besteht, allerdings mit zahlreichen
Schlupfloechern, und aus einem verfuehrerisch "Aid for Trade" genannten
Programm, das zum Teil aus Krediten bestehen soll, die es diesen Laendern
ermoeglichen sollte, ihr Wirtschaftsregime WTO-vertraeglich zu machen.
Dieser Prozess wird die Verschuldung dieser Laender weiter verschlimmern.

Die westafrikanischen Baumwolleproduzenten wurden dazu verlockt, einem
Kompromiss zuzustimmen, dessen Hauptinhalt darin bestand, den USA noch ein
volles Jahr zu gewaehren, bis die Exportsubventionen abgeschafft werden,
die, laut einer WTO-Entscheidung bereits vor anderthalb Jahren haetten
abgeschafft werden sollen. Ihre Forderung nach Entschaedigung fuer den
enormen Schaden, den diese Subventionen ihren Volkswirtschaften zugefuegt
hatten, wurde ignoriert.

Die hartnaeckigsten Unterhaendler bei den Dienstleistungsverhandlungen -
Indonesien, die Philippinen, Suedafrika, Venezuela und Kuba - wurden
verleitet, ihre ablehnende Haltung aufzugeben.

Obwohl die USA und die EU seit dem Scheitern der Ministerkonferenz in Cancun
uneinig ueber die Landwirtschaft waren, war ihre gemeinsame Prioritaet das
Ueberleben der WTO, und sie managten erfolgreich eine Strategie der
Kooptation. Damit verwandelten sie in Hongkong eine drohende Niederlage in
einen Sieg.

Praesidenten Luiz Inácio da Silva in Brasilien und die von der
Kongresspartei gefuehrte Regierung in Indien waren beide mit antiliberalen
Wahlplattformen an die Macht gelangt. Einmal an der Macht, wurden sie zu den
effektivsten Stabilisatoren neoliberaler Programme, beide genossen die
Unterstuetzung durch den Internationalen Waehrungsfonds, durch die Lobby
internationaler Konzerne und durch Washington. Es ist nicht unvernuenftig
anzunehmen, dass ein Zusammenhang besteht zwischen dem, was diese
Regierungen zu Hause schafften, und ihrer Leistung auf der globalen Buehne
in Hongkong. (Walden Bello in SiG 48, stark bearbeitet)

Volltext-Quelle: http://www.attac.at/2424.html und
Original-Quelle: http://www.focusweb.org/content/view/799/36/

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WWWebtip: Der Text stammt aus der Attac-Zeitschrift "Sand im Getriebe" Nr.
48. Abrufbar ist SiG 48 komplett auf der deutschen Attac-Seite unter
http://www.attac.de/aktuell/rundbriefe/sig/ samt Grafiken als PDF-Datei und
auf der oesterreichischen Attac-Seite http://www.attac.at/sig als
Einzeltexte. Auch der Bolkestein-Text in dieser akin stammt von dort.


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