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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 31. Jaenner 2006; 17:36
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Brasilien:

> Politische Impressionen

Ein Reisebericht

Zehn Tage in vier brasilianischen Staedten -- Sao Paulo, Manaus, Belem, Rio
de Janeiro -- sind viel und wenig zugleich. Wer -- wie ich -- die Chance
hatte, beim 3.WSF in Porto Alegre vor drei Jahren teilzunehmen und die
Aufbruchsstimmung nach dem Wahlsieg Lulas mitbekam, wird den Unterschied zu
damals geradezu koerperlich spueren. Kaum etwas vom erfrischenden Wind, der
durch das Land ging, ist uebriggeblieben. Die einstigen Hoffnungen sind
weitestgehend auf der Strecke geblieben. Nahezu jedes Gespraech bestaetigt
dies. Aus einer Fuelle von Indikatoren moechte ich nur einen auswaehlen:
waehrend meines Aufenthaltes konnte ich nicht ein (!) Plakat oder Flugblatt
der regierenden ArbeiterInnenpartei PT registrieren ...

Fuer Freude und Hoffnung gibt es auch keinen Anlass. Die Regierung
betreibt -- da und dort "sozial abgefedert" -- neoliberale Politik und
etliche ihrer Repraesentanten sind voll in schlimme politische
Korruptionsaffaeren verwickelt. Auch individuelle Malversionen haeufen sich.
Das Leben des ueberaus breiten und armen "Sockels der Gesellschaft" hat sich
hingegen nicht wesentlich geaendert. Die Frau in dem 3 Sterne-Hotel, in dem
ich in Rio untergebracht bin, die die Zimmer reinigt, verdient im Monat bei
sechs Arbeitstagen (von 6-13:30 Uhr) heisse 420 Reales (etwa 170 Euro) und
bekommt vom "Patron" nicht mal das Essen...

Der gesetzliche Mindestlohn steht aktuell bei rund 300 Reales und die
Gewerkschaftszentrale CUT, die wesentlich zum Wahlerfolg Lulas beitrug,
fordert die ueberfaellige Anhebung auf 350 Reales. Sie bekam vom einstigen
Gewerkschaftsfuehrer Lula eine glatte Abfuhr: "Erhoehung keinesfalls vor
Mai".

Bei der Agrarreform geht nichts weiter. Die Bewegung der Landlosen MST --
mit der CUT der zweite grosse Mobilisator fuer Lula -- verschaerft zunehmend
den Ton gegenueber der Regierung -- ohne allerdings voellig mit ihr zu
brechen.

Der zentrale Begriff, der ueberall die Runde macht, und der am deutlichsten
das gegenwaertige politische Klima charakterisiert, heisst "DESENCANTO"
(Enttaeuschung). In Spanien blieben nach dem Ende der Franco-Diktatur in den
70er-Jahren die Hoffnungen auf einen tiefgreifenden gesellschaftlichen
Wandel ebenfalls unerfuellt. Stattdessen gab es nur eine mickrige
"transicion" zur formalen buergerlichen Demokratie. In Brasilien heute
liegen die Dinge aehnlich (selbstredend nicht ident!). Der grosse Wurf blieb
aus: Ernuechterung, Skepsis und Rueckzug aus der Politik sind die Folge.

Den allgemeinen desencanto bekommt auch die Linke zu spueren. Bei den noch
in diesem Jahr anstehenden Praesidentschafts- und Parlamentswahlen wird mit
einem betraechtlichen Rueckgang der Wahlbeteiligung gerechnet. Auch viele
Stammwaehler der Linksparteien werden zu Hause bleiben. Serioese
Prognosen -- veroeffentlicht etwa im "Jornal do Brasil" -- sagen wachsende
Chancen fuer "charismatische Gestalten ", sprich (Rechts)populisten, voraus.

Derzeit schaut das Wahlbarometer folgendermassen aus: 45 Prozent fuer das
buergerliche Stadtoberhaupt Sao Paulos Jose Serra (PSDP) und 42 Prozent fuer
Lula. In der angesehenen Zeitung "Folha do Sao Paulo" wurden eine Reihe von
Artikel publiziert, aus denen hervorgeht, dass zentrale Sektoren des
Grosskapitals eher an einer Neuauflage einer Regierung Lula als an einem
"Experiment Serra" interessiert sind: Lula garantiert "Stabilitaet,Ruhe und
Berechenbarkeit" -- ist das nicht eine Diktion, die auch fuer
oesterreichische/europaeische Ohren recht vertraut klingt?

In Sao Paulo hab ich die Gelegenheit an einem Seminar der Psol (Partei fuer
Sozialismus und Freiheit) teilzunehmen. Als ReferentInnen fungiern u.a. das
linkschristliche "Urgestein" Plinio Sampaio und Chico Alencar,
Bundesparlamentsabgeordneter fuer Rio. Die Stimmung ist ziemlich
realistisch. Joao Machado von der IV.Internationale schaetzt, dass bei einer
ev. Kandidatur der Psol-Senatorin Heloisa Helena in der ersten Runde der
PraesidentInnenwahl 5-7 Prozent drinnen sein koennten. Der Taxifahrer, der
mich durch Rio kutschiert, bestaetigt: "Heloise Helena verkoerpert die PT,
wie sie frueher war."

In der Nacht vor meiner Abreise nach Brasilien hoerte ich im
oesterreichischen Radio ein Interview mit Paul Singer: Vor den Nazis
geflohen und heute Minister fuer Solidarische Oekonomie in der Regierung
Lula. Singer berichtet dabei von kritischen Diskussionen in der PT, die aber
auf die Realpolitik der Regierung Lulas keinen Einfluss haben und dass er
sich um keine Aussprache mit Lula bemuehe. Nach meinem Aufenthalt in
Brasilien verstehe ich ihn nur zu gut.
*Hermann Dworczak*


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