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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 24. Jaenner 2006; 17:57
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Chile:
> Sieg fuer die Frauen
Michelle Bachelet ist die neue Praesidentin. Dass sie Konzessionen machen
muss. ist unvermeidlich. Jetzt fragt sich, welche ihrer Wahlversprechen sie
auch durchsetzen kann.
Klarer als erwartet setzte sich am vorvergangenen Sonntag mit der
Sozialistin Michelle Bachelet erstmalig eine Frau bei der
Praesidentschaftswahl in Chile durch. Zwar galt die 54-jaehrige Aerztin
aufgrund ihres klaren Vorsprungs beim ersten Wahlgang als Favoritin, doch
taktische Fehler, interne Auseinandersetzungen und eine von den
rechtslastigen buergerlichen Medien nach Kraeften unterstuetzte Kampagne
fuer den Gegenkandidaten Sebastian Pinera hatten bis zuletzt Zweifel an den
Erfoelgschancen der 54-jaehrigen Kinderaerztin genaehrt.
Mit einem Ergebnis von sieben Prozentpunkten vor dem millionenschweren
Unternehmer Pinera untermauerte Bachelet ihren Anspruch auf das hoechste Amt
im Staate. «Ich will die Praesidentin aller Chileninnen und Chilenen sein»,
verkuendete die Politikerin nach ihrem Sieg. Schon im Wahlkampf betonte sie
immer wieder die gemeinsame Zukunft und nicht die trennende Vergangenheit
ihres Landes.
Ausdruck einer Veraenderung
Beim ersten Wahlgang Mitte Dezember hatte die Kandidatin der linksliberalen
Regierungskoalition Concertación aus Christdemokraten, Sozialdemokraten und
Sozialisten knapp die erforderliche absolute Mehrheit verpasst. In der
Stichwahl musste sie sich jedoch nicht dem erzkonservativen Populisten
Joaquin Lavin von der UDI (vgl. Kasten) stellen, welcher mit grossem
finanziellem Einsatz eine starke mediale Praesenz erreichen konnte, sondern
seinem inneroppositionellen Widersacher Sebastian Pinera von der Renovacioen
Nacional. Dieser hatte im Vorfeld betont herausfordernd mit der katholischen
Kirche und den evangelikaien Gruppen angebaendelt. Ganz im Stile eines
generoesen Gentlemans gestand er jedoch kurz nach Verkuendigung des
Wahlergebnisses seine Niederlage ein - immerhin erspart es ihm die Muehen,
alle seine Unternehmen loszuwerden, deren Fuehrung er im Falle seiner Wahl
zumindest haette ruhen lassen muessen.
Gross war die Freude bei der erfolgreichen Kandidatin Michelle Bachelet.
«Dass ich hier stehe, ist Ausdruck der Veraenderung der chilenischen
Gesellschaft zu mehr Offenheit, Toleranz und Mitspracherecht», sagte sie am
Wahlabend vor Tausenden begeisterter AnhaengerInnen. Offenbar ist der
Machismo auch in einer seiner Hochburgen auf dem Rueckzug. Allerdings hatten
sich vornehmlich Journalistinnen haeufig mit der Frage beschaeftigt, wie
denn die neue Praesidentin ohne im Haus lebende Angestellte auskommt und
warum sie ihren Toechtern selber das Fruehstueck macht. Niemand hatte
Sebastian Pinera noch den maennlichen Vorgaengern im Praesidentenpalast
jemals derartige Fragen gestellt.
Doch die Grundstimmung im Lande scheint sich zu aendern, der traditionelle
Wertekodex ist in Anbetracht der gesellschaftlichen Wirklichkeit kaum mehr
aufrechtzuerhalten. Die Wahl einer bekennenden Nichtchristin, getrennt
lebenden und alleinerziehenden Mutter ist ein deutlicher Schritt in diese
Richtung. Erst im vergangenen Jahr fuehrte Chile gegen heftigen Widerstand
der Kirche und konservativer Kreise als letztes Land des Kontinents die
Ehescheidung ein. Die Scheu vor Themen wie Sexualitaet, Aids und Aufklaerung
ist zumindest in den groesseren Staedten spuerbar gesunken.
Das Regime verblasst
Ebenfalls gesunken ist die Zahl der bedingungslosen Anhaengerinnen des
greisen Diktators Augusto Pinochet. Der 90-Jaehrige belegt bei jedem
Auftritt aufs Neue, dass ihm die britischen Aerzte 1999 ein
Gefaelligkeitsgutachten ausstellten, um ihn vor dem Zugriff der spanischen
Richter zu schuetzen. Im Jahr 2004 wurde zudem bekannt, dass Pinochet
betraechtliche Summen auf nicht deklarierte Konten in den USA ueberwiesen
hat. Die Glaubwuerdigkeit bei seiner Anhaengerschaft wurde dadurch stark in
Mitleidenschaft gezogen. Der Oberste Gerichtshof hat Pinochets Immunitaet
aufgehoben und eine Anklage wegen Steuerhinterziehung und Veruntreuung
oeffentlicher Gelder gegen die ganze Familie Pinochet erhoben.
Diese Entwicklung und das damit verbundene Umdenken hat die
Gewichtsverteilung innerhalb der politischen Rechten veraendert. Jahrelang
sah es so aus, als ob Joaquin Lavin von der pinochetistischen UDI diesmal
das Rennen machen wuerde, nachdem er vor sechs Jahren nur knapp gegen
Ricardo Lagos unterlegen war. Als jedoch klar wurde, dass er keine Chancen
auf Stimmengewinne in der buergerlichen Mitte, vor allem bei konservativen
Christdemokratinnen, hatte, trat mit dem Erfolgs-untemehmer Pinera ein
rechtskonservativer Gegenkandidat auf den Plan, der auch fuer Teile der
Concertacion waehlbar erschien. Vor allem fuer jene, die mit einer Frau und
einer Sozialistin Probleme hatten. Nicht waehlbar war Pinera indes fuer eine
andere Gruppe von KritikerInnen der Concertacion. Der von den KommunistInnen
unterstuetzte und im ersten Durchgang unterlegene Linkskandidat Tomas
Hirsch, der mit knapp fuenf Prozent der Stimmen das gesamte systemkritische
Potenzial erfasst haben duerfte, forderte seine Anhaengerinnen auf, auch
nicht fuer die sozialistischeAnwaerterin zu stimmen. Er selbst koenne seine
Stimme weder Bachelet noch Pinera geben, welche beide fuer die Fortsetzung
und Vertiefung des neoliberalen Systems einstuenden. Anders die
KommunistInnen. Gewohnt pragmatisch hatten sie sich dazu durchgerungen, fuer
Michelle Bachelet zu stimmen.
Heftige Kritik an der siegreichen Koalition uebt auch Juan Pablo Cárdenas,
der letztjaehrige Traeger des chilenischen Journalistenpreises: «Die
Concertación kleistert seit Jahren alle Widersprueche zu und verhindert das
Entstehen neuer sozialer Bewegungen im Land», meint der ehemalige
Chefredaktor der Zeitschrift «Análisis», der fuer seine Taetigkeit unter der
Diktatur wiederholt ins Gefaengnis musste. Ohnehin vermag er keine grossen
Unterschiede zwischen Bachelet und Pinera zu erkennen. Nur wenn die Wahl
anders ausgegangen waere, «haetten sich ganz neue politische Wege zu einem
wirklichen Parteiensystem und fuer oppositionelle Stroemungen eroeffnet.»
Rasante Entwicklung
Auf Aussenstehende wirkt Chile mit seiner rasanten Entwicklung einer
modernen Infrastruktur heute nicht wie ein Entwicklungsland. Die
oeffentlichen Massnahmen wie der Ausbau eines modernen U-Bahn- und Busnetzes
in der Hauptstadt Santiago wurden und werden ergaenzt durch private
Investitionen auf der Basis eines Konzessions-systems im Bereich
Strassenbau, aber auch fuer den Bau etwa von Krankenhaeusern, Stauseen,
Flughaefen.
Kein anderes Land in Lateinamerika weist zudem vergleichbar stabile
Wachstumsraten auf, und die Arbeitslosigkeit sank zuletzt auf 6,9 Prozent.
Massgeb-lichen Anteil am Wirtschaftswachstum hat nach wie vor die
Kupferproduktion, deren Absatz und Preis dank der Nachfrage vor allem aus
China in die Hoehe geschnellt ist. Seit Jahren steigt zudem der Export von
Fischerei- und landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Ueberall im Land entstehen
neue Anbaugebiete und Produktionsstaetten, wobei manch ein Projekt geradezu
gigantomanisch wirkt, wie zum Beispiel das geplante Schweinemastzentrum fuer
zweieinhalb Millionen Tiere in der nordchilenischen Wueste.
Allerdings fliessen Wirtschaftsgewinne ueberwiegend in die Taschen einiger
weniger, waehrend sich ein grosser Teil der Bevoelkerung mit einem
bescheidenen Einkommen durch-schlagen muss. Rose Marie Graepp, eine
deutsch-staemmige Journalistin aus dem noblen Viertel Providencia in
Santiago, findet es beschaemend, dass «in Chile heute noch Kinder barfuss
und zerlumpt herumlaufen, weil ihre Eltern kein Geld fuer Schuhe und
Kleidung haben». Wie die neue Praesidentin verbrachte Graepp mehrere Jahre
im Exil in der ehemaligen DDR. «In unserem Teil der Stadt spuert man nichts
von der Armut, aber viele Menschen schlagen sich hier unter unwuerdigen
Bedingungen durch», entruestet sie sich.
In Chile werden solche Eindruecke von den meisten jedoch nur selten
wahrgenommen. Wie in kaum einem anderen Land der Welt war die Umsetzung der
radikalen Marktideo-logie mit einer regelrechten Gehirnwaesche verbunden. So
tauchte weder bei dem Erfolgsunternehmer Pinera noch bei der sozialistischen
Exgesundheitsministerin Bachelet jemals das Thema Arbeitgeberbeitrag an die
Krankenkasse auf. Chile ist weltweit eines der wenigen Laender mit einer
Renten- und Krankenversicherungspflicht, in dem die Beschaeftigten allein
die Beitraege aufbringen muessen. Selbst die Linken wehrten bis anhin dieses
Thema mit der typischen Oekonomenantwort ab, dass die Arbeitgeberinnen ihren
Anteil an den Sozialabgaben nur direkt auf die Preise aufschlagen wuerden.
Die Auswirkungen einer unzureichenden Arbeitsgesetzgebung, einer die
Privathaushalte belastenden Gesundheitsfuersorge und nicht zuletzt die
Preisentwicklung in einem unregulierten Gesundheitsmarkt werden in der
chilenischen Gesellschaft kaum reflektiert oder kritisiert.
Rentenreform
Neben der Bildungspolitik, welche sie als Voraussetzung fuer die weitere
Entwicklung des Landes ansieht, will die neue Praesidentin vor allem die
unzureichenden Sozialsysteme verbessern. «Die Rentenreform wird eine grosse,
vorrangige Aufgabe sein», erklaerte sie vor wenigen Tagen in einer Rede an
chilenische Unter-nehmerinnen. «Denn unser Rentensystem traegt weder den
Bedingungen des Arbeitsmarktes noch der besonderen Lage der Frauen
Rechnung.» In der Tat erweist sich das 1981 unter Pinochet eingefuehrte
private Rentenwesen fuer eine wachsende Zahl von Buergerinnen als
unzureichend. Bei jedem zweiten Menschen im Ruhestand muss der Staat die
Altersbezuege bis zum gesetzlichen Minimum aufstocken. Der Leiter der
Versicherungsaufsicht, Guillermo Larrain, fasst die Lage anschaulich
zusammen:
«Die Renten sind fuer ein Land mit dem Preisniveau Chiles gaenzlich
ungeeignet.» Durchschnittlich erhalten Rentnerinnen aus dem privaten
Versicherungssystem umgerechnet etwa 200 Euro. Manch einer muss jedoch mit
weniger als Euro auskommen, wobei aber die Lebenshaltungskosten kaum unter
dem mittel-europaeischen Niveau liegen.
Die Fragen der sozialen Gerechtigkeit und die Loesung des
Verteilungsproblems in einer an sich erfolgreichen Wirtschaft werden wohl
die groessten Herausforderungen der zukuenftigen Praesidentin sein. Ob sie
zu grundlegenden Aenderungen faehig ist, erscheint zumindest fraglich. Der
Glaube an das «Modell Chile» ist nahezu unerschuetterlich. Ausser einigen
versprengten Linken in der Kommunistischen und Humanistischen Partei stellt
niemand das politische und wirtschaftliche System Chiles selbst in Frage.
Der makrooekonomische Erfolg verhindert konstruktive Kritik, und nach wie
vor sind in der Regierungskoalition noch immer viele ProfiteurInnen des
Wirtschaftswachstums vertreten.
Vor allem einflussreiche Kreise der Christdemokratie werden wie bereits in
der Vergangenheit heftigen Widerstand gegen Reformen der Arbeitsgesetzgebung
oder Regulierungen der Privatkassen leisten. Eine gerechtere Verteilung der
Einkommen ist ohne Einbussen der Bessergestellten nicht zu erreichen. (Jens
Holst in WoZ 3/06)
*
Kasten:
> Schritt um Schritt
Vor nunmehr sechzehn Jahren ging in Chile die brutale Diktatur von General
Augusto Pinochet zu Ende. Nach dem Putsch 1973 gegen die demokratisch
gewaehlte Regierung des Sozialisten Salvador Allende unterzogen die
militaerischen Machthaber das Land, das sie am Abgrund des Kommunismus
waehnten, einer marktliberalen Rosskur. Am Ende der Diktatur gelang es so
unterschiedlichen Parteien wie Christ-und Sozialdemokraten, Sozialisten und
Radikalen, sich im Kampf gegen das Regime zusammenzuschliessen und eine
Mehrheit zu erringen. Seit 2000 stellt die linksliberale Koalition
Concertación die Regierung. Die innerparlamentarische Opposition bilden die
UDI-Partei der mehr oder weniger unverdrossenen Pinochet-AnhaengerInnen und
die rechtskonservative Renovación Nacional, die sich gegen Ende der Diktatur
vorsichtig vom Regime absetzte. Waren die ersten vier Jahre nach Pinochet
unter Praesident Patricio Aylwin noch durch eine uebergrosse Vorsicht und
Angst vor einem erneuten Durchgreifen des Militaers gekennzeichnet, hat sich
das politische Leben mittlerweile normalisiert. Auf Aylwin folgte 1994
Eduardo Frei, und seit 2000 regiert Ricardo Lagos das Land. Im Unterschied
zu ihren Vorgaengern im Amt kann sich Michelle Bachelet auf eine satte
Parlamentsmehrheit stuetzen. Damit erscheint der Weg frei fuer eine
Aenderung des binominalen Wahlrechts, nach dem Parlamentssitze sowohl an die
erst- als auch die zweitplatzierten Kandidaten jedes Wahlkreises gehen. Dies
hatte den konservativen Parteien bis anhin eine ueberproportionale
parlamentarische Vertretung garantiert. (WoZ)
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