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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 10. Jaenner 2006; 18:35
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Tuerkei:
> Staedteversenken mit Siemens
Im Osten der Tuerkei droht das kurdische Staedtchen Hasankeyf von einem 
Stausee verschlungen zu werden. Die Bewohner wollen dem Ilisu-Damm trotzen.
Von Midyat, der alten christlich-syrischen Stadt des Tur-Abdin-Gebirges 
zwischen Mardin und Cizre, fuehrt eine Strasse nach Norden durch eine 
atemraubende Huegel- und Felslandschaft mit einsamen, von yezidischen Kurden 
und syrischen Christen bewohnten Siedlungen. Zwischendurch sind Ruinen 
kurdischer Doerfer zu sehen, die von der tuerkischen Armee im Krieg gegen 
die PKK zerstoert und bis heute nicht wieder aufgebaut wurden. Der Autobus, 
der mich nach Hasankeyf bringen soll, wird schliesslich von einer 
Strassensperre aufgehalten. Die Militaerpraesenz in Tuerkisch-Kurdistan ist 
im vergangenen Jahr wieder deutlicher sichtbar geworden als in den Jahren 
davor. Die Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes durch Angehoerige der PKK 
wird nicht nur von Anschlaegen des tuerkischen Militaergeheimdienstes 
begleitet wie am 9. November in Semdinli, sondern auch von einer 
demonstrativen Praesenz der Armee.
Der Bus kann schliesslich ohne groessere Probleme die enge kurvenreiche 
Strasse weiter nach Norden fahren. Hasankeyf taucht erst hinter dem letzten 
Huegel auf, kurz bevor man die Stadt erreicht. Vor mir liegt das Ensemble 
einer mittelalterlichen islamischen Stadt am Ufer des Dincle, des Tigris, 
der hier noch als kleinerer Fluss von Diyarbakir nach Cizre zur 
irakisch-syrischen Grenze fliesst. Hoch ueber der Stadt thronen die Ruinen 
der alten Festung, darunter erstreckt sich ein lebendiges Staedtchen mit 
Moscheen aus der Ayubidenzeit, den Resten einer Tigris-Bruecke aus dem 12. 
Jahrhundert, einigen Kaffeehaeusern und einem mittlerweile eher auf die 
Beduerfnisse tuerkischer Inlandstouristen ausgerichteten Basar. Dass die 
heutige Siedlung nur noch der Rest einer einst viel bedeutenderen Stadt ist, 
zeigt der Blick ueber den Fluss. Auf der anderen Seite des Tigris sind noch 
ein mittelalterliches Hamam und die Derwisch-Tekke mit dem Grabmal Imam 
Abdullahs zu erkennen. Am Fluss sind die Reste antiker Hoehlenwohnungen zu 
sehen.
Die Roemer errichteten die Stadt um 120 n. Chr. Mit der Christianisierung 
wurde die Handelsstadt zum Bischofssitz, ehe sie im Jahr 640 von den Arabern 
erobert wurde. Die Bevoelkerung wohnte teilweise auf dem Festungshuegel, 
teils in den darunter liegenden Hoehlenwohnungen, von denen einige wenige 
bis heute von den aermsten Bevoelkerungsschichten der Stadt bewohnt werden.
Dass die Stadt zwar ein beliebtes Ausflugsziel fuer tuerkische 
Tagestouristen, jedoch noch kein Reiseziel des internationalen Tourismus 
geworden ist, zeigt sich nicht zuletzt an den Uebernachtungsmoeglichkeiten. 
Ausser einem Oegretmenevi, einem Lehrerhaus, in dem schlecht bezahlte 
tuerkische Junglehrer, die in den Osten des Landes versetzt wurden, ihren 
Kurzurlaub verbringen koennen, gibt es nur ein kleines Hotel am Tigris, in 
dem fuer wenig Geld einfache Zimmer mit Gemeinschaftsdusche auf dem Gang zu 
beziehen sind.
Nachdem ich mich dort eingemietet habe, spaziere ich noch hinunter zum 
Fluss. Dort kann man auf Podesten am Flussufer gegrillten Fisch essen, 
Kaffee oder Bier trinken. Zwei Junglehrerinnen aus Izmir, die das 
Unterrichtsministerium nach Van und Mardin geschickt hat, laden mich dort 
auf einen Kaffee ein und klagen mir ihr Leid, »am Ende der Welt« 
unterrichten zu muessen, wie sie meinen. »In Van gibt es nicht einmal eine 
Disco«, klagt Nilguen, eine schoene junge Frau, die lieber heute als morgen 
zurueck ans Mittelmeer gehen wuerde. Auf meine Bemerkung, der Van-See sei 
doch auch schoen, beginnt sie ueber ihre Einsamkeit unter den Kurden zu 
klagen: »Dort kann ich als Frau nicht einmal allein ein Bier trinken 
gehen.« Ihre Freundin klagt: »Meinen Schuelern muss ich zuerst einmal 
richtiges Tuerkisch beibringen.« Auf meine Frage, ob sie denn selbst schon 
Kurdisch gelernt haetten, wenn sie schon ein ganzes Jahr in Kurdistan 
lebten, ernte ich nur verstaendnisloses Kopfschuetteln, dafuer aber umso 
mehr Begeisterung, als ich auf die Frage nach meiner Herkunft »Viyana« 
sage. »Wien wuerde ich gerne einmal sehen«, meint Nilguen.
Mit den alteingesessenen Bewohnern Hasankeyfs komme ich erst am naechsten 
Tag ins Gespraech. Auf dem Weg zur Festung begegne ich einem Wassertraeger 
mit einem Esel. Jeden Tag bringt er das Trinkwasser vom Ort hinauf in das 
Haus seiner Familie. Hier oben wohnen zurzeit noch jene, die sich kein 
moderneres Haus im Zentrum der Stadt leisten koennen. Sollten die Plaene der 
tuerkischen Regierung verwirklicht werden, koennten sie jedoch die einzigen 
sein, deren Wohnstaette in Zukunft nicht vom Wasser eines gewaltigen 
Stausees ueberflutet wird. Mit dem 135 Meter hohen Ilisu-Staudamm, mit 
dessen Bau die tuerkische Regierung ein Konsortium aus deutscher Siemens AG 
und oesterreichischer VA-Tech (Anm. akin: gehoert mittlerweile zu Siemens 
Oesterreich) beauftragen will, wuerde ein grosser Teil des Dincle-Tals, 
darunter die Stadt Hasankeyf, unter einem gewaltigen Stausee verschwinden.
Das Unternehmen VA-Tech und die tuerkische Regierung versuchen, 
internationale Kritik an dem Projekt, das mit Hasankeyf immerhin eine Stadt 
unter dem Schutz der Unesco zu versenken droht, mit dem Hinweis abzuwehren, 
dass die Festung ueber der Stadt noch aus dem Wasser hervorragen wuerde und 
ausgewaehlte historische Bauwerke versetzt werden sollen. Die Bewohnerinnen 
und Bewohner der Stadt haben fuer solche Plaene allerdings kein 
Verstaendnis. »Hasankeyf ist ein Gesamtkunstwerk! Man kann nicht einzelne 
Gebaeude einfach an andere Orte umpflanzen«, erklaert mir ein Lehrer aus der 
Region, der ebenfalls im Oegretmenevi naechtigt.
Der Ilisu-Damm ist das Kernstueck des Suedostanatolien-Projektes (GAP). Bis 
2010 sollen ueber ein Dutzend Staudaemme an Euphrat und Tigris errichtet 
werden. Durch den 300 Quadratkilometer grossen Ilisu-Stausee wuerden 
dem »Kurdish Human Rights Project« zufolge 12 000 Anwohner vertrieben 
werden, weitere 60 000 Bauern wuerden ihr Land und damit ihre 
Lebensgrundlagen verlieren.
Die Maenner im Kaffeehaus sind entsetzt ueber den Plan, ihre Stadt zu 
versenken. Ein alter Mann erklaert mir, waehrend er an seinem Tee 
schluerft: »Ich wurde hier geboren. Ich werde hier ganz bestimmt nicht 
weggehen. Eher lasse ich mich von diesem Stausee ertraenken!« Seine Freunde 
stimmen ihm zu: »Wir werden sicher nicht in eine neue Stadt ziehen. Wir 
werden uns mit allen Mitteln zur Wehr setzen.«
Tatsaechlich zeigt sich die Stadtbevoelkerung noch immer von ihrer 
trotzigen Seite. Schon allein dadurch, dass sie versucht, das Alltagsleben 
weitergehen zu lassen wie bisher. Einige Entschlossene bauen sogar neue 
Haeuser oder richten ihre alten neu her. Was anderswo alltaeglich ist, wird 
hier zum renitenten politischen Akt.
Als ich an der Schneiderwerkstatt und der Baeckerei vorbeispaziere, spricht 
mich ein alter Mann in gebrochenem Deutsch an. Er hat in den siebziger und 
achtziger Jahren als Gastarbeiter im Ruhrgebiet gearbeitet. Nach der 
Verrentung kam er nach Hasankeyf zurueck. Wir kommen ins Gespraech, und 
schliesslich frage ich ihn, was er tun werde, wenn der Ilisu-Damm gebaut 
wird. Er deutet mit seiner rechten Hand eine Pistole an: »Dann gibt es 
Krieg!«
Doch zwischen Verbitterung und Hoffnung bleibt den Menschen in Hasankeyf 
auch gar keine andere Wahl, als ihren Alltag weiter zu leben. Bevor ich in 
den Bus nach Batman steige, besuche ich noch eine Moschee am Rande des 
Ortes. In das verfallene Gemaeuer einer alten ayubidischen Moschee wurde vor 
wenigen Jahren eine kleine neue Moschee hineingebaut. Ein junger Mann saugt 
die Teppiche am Boden. Ein ganz alltaegliches Bild, und doch denke ich, als 
der Bus losfaehrt, ich muesse es mir ganz besonders einpraegen. Es koennte 
meine letzte Erinnerung an Hasankeyf werden.
*Thomas Schmidinger* in: Jungle World, Nummer 1 vom 04. Januar 2006 
http://www.jungle-world.com
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