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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 10. Jaenner 2006; 18:32
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Welt/Wirtschaft:
> Wenn China solo tanzt
Welche Folgen hat der Wirtschaftsboom im Fernen Osten? Explodieren die 
Rohstoffpreise? Verarmt Europa? Waere das schlimm?
Daniel Ryser interviewte fuer die WoZ den Volkswirtschafter und Politologen 
Wolfgang Hirn anlaesslich seiner Buchneuerscheinung "Herausforderung China"
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WOZ: Herr Hirn, glauben Sie an eine Zukunft?
Wolfgang Hirn: An eine Zukunft im Westen?
WOZ: An die Zukunft der Welt. Stimmt die These in Ihrem Buch - und stimmen 
die gaengigen Analysen -, dann wird China in den naechsten zwanzig bis 
fuenfzig Jahren zur wirtschaftlichen und militaerischen Grossmacht, waehrend 
Europa deindustrialisiert wird. Es kommt zum Konflikt zwischen China und den 
USA im Kampf um Ressourcen. Selbst Schrott wird zur Luxusware. Und die 
Umwelt kollabiert.
Ich glaube schon an eine Zukunft. Aber sie wird anders aussehen als die 
Realitaet heute. Es wird eine Verschiebung geben in der Weltwirtschaft und 
der Weltpolitik - der Westen wird einen grossen Teil seiner Dominanz an den 
Osten abtreten muessen. Denn China und Indien nehmen jetzt aktiv an der 
Globalisierung teil.
WOZ: Dann brechen fuer die Profiteure der ersten 150 Jahre Freihandel harte 
Zeiten an.
Der jetzige Prozess ist vor allem schmerzlich fuer die Arbeitnehmer im 
Westen. Sie werden die grossen Verlierer sein. Immer mehr Arbeitsplaetze 
werden verlagert.
WOZ: Warum ausgerechnet nach China?
Die Verschiebung begann im grossen Stil, als China der 
Welthandelsorganisation WTO beitrat. Investitionen wurden leicht gemacht. 
China hat zudem einen riesigen Markt: 200 bis 300 Millionen Chinesen sind in 
Kaufstimmung, Tendenz steigend. Es ist chic zu reisen. Es ist chic, reich zu 
sein. Doch vergessen Sie nicht: 800 bis 900 Millionen Chinesen sind noch 
immer bettelarm.
WOZ: Nicht sehr bruederlich.
China ist kein kommunistisches Land mehr. Die Partei heisst zwar so, doch 
das ist bloss eine Reminiszenz.
WOZ: Kein Kommunismus?
Kein Kommunismus. Die Situation in China ist vergleichbar mit derjenigen bei 
uns in den fuenfziger Jahren: Der Kapitalismus blueht. Man ist hungrig und 
leistet sich erste, einfache Konsumgueter: einen Fernseher, spaeter 
vielleicht ein Auto. Dann eine groessere Wohnung. Die Chinesen klettern 
dieselbe Konsumleiter wie wir hinauf - nur fuenfzig Jahre verschoben.
WOZ: 900 Millionen Bettelarme! Welch Potenzial, muss der Unternehmer denken.
Das Potenzial ist riesig. Es gibt ja mittlerweile keines der einfachen 
Konsumgueter mehr, das nicht in China produziert wird. Auch die 
Autoindustrie wandert aus. Die deutschen Autohersteller sind schon alle vor 
Ort. Daimler, als letzter, baut gerade eine Fabrik. Was in China verkauft 
wird, wird dort produziert und nicht mehr importiert. Chinas Exporte 
florieren ebenfalls. Die USA zum Beispiel haben gegenueber China ein 
Handelsdefizit von ueber 200 Milliarden Dollar.
WOZ: Es muss billig sein, in China zu produzieren.
Arbeiter bekommen oft nur 100 bis 200 Dollar Monatslohn. Aus Sicht der 
Unternehmen, oekonomisch-rational gedacht, ist die Verlagerung 
nachvollziehbar. Die moralische Dimension ist eine andere: Warum lagern 
lokale Unternehmen ihre Produktion aus? Interessieren sich die hiesigen 
Unternehmen gar nicht fuer das eigene Umfeld? Durch den Chinaboom steigt im 
Westen die Arbeitslosigkeit. Am Ende stellt sich die Frage: Wer soll hier 
eigentlich noch konsumieren, wenn nicht mehr produziert wird? Diese Frage 
stellen sich viele Unternehmer nicht, weil sie zu kurzfristig denken. Sie 
sehen ihren Vorteil in der guenstigen Produktion an billigeren Standorten.
WOZ: Was passiert mittelfristig?
Man kann es auf die Spitze treiben und fragen: Wie viel Arbeitslosigkeit 
vertraegt eine Demokratie? Was passiert, wenn in Deutschland bald zehn 
Millionen Menschen arbeitslos sind? Und davon gehe ich aus. Auch in den USA 
wird die Arbeitslosigkeit weiter steigen. Es findet eine schleichende 
Deindustrialisierung statt. Die Firmen wandern gen Osten.
WOZ: Was bleibt?
Forschung? Entwicklung? Daran glaube ich auch nicht mehr. Auch diese 
Bereiche werden ausgelagert.
WOZ: Also auf nach China!
Wir muessen tatsaechlich reagieren. Selbst Kommunistenhasser Milton 
Friedman, Vordenker der Neoliberalen, ist heute ueberzeugt, dass China in 75 
Jahren die groesste Wirtschaft sein wird. Gewisse Experten sagen: Toll, wie 
Probleme in China durch die Entscheidungskraft des totalitaeren Regimes 
schnell geloest werden. Letztes Jahr zum Beispiel wurde die Ueberhitzung der 
chinesischen Wirtschaft diskutiert. Also befahl die politische Fuehrung den 
vier groessten Staatsbanken, die Kreditvergabe zu drosseln. Sie wurden 
angewiesen, bestimmten Branchen keine Kredite mehr zu gewaehren. Von heute 
auf morgen. Stellen Sie sich das in einer Demokratie vor! Es gibt aber auch 
Experten, vor allem Demokratietheoretiker, die ueberzeugt sind, dass die 
Mischung aus einer Diktatur und einem freien Markt nicht funktioniert. Wenn 
die Leute zu Geld kommen, werden sie bald mehr Freiheiten verlangen.
WOZ: Werden die Friedmans dieser Welt bald die Diktatur als einen 
oekonomischen Standortvorteil proklamieren? Wird der Westen mehr China?
Ich schliesse nicht aus, dass es eine Annaeherung der Systeme geben wird, 
dass die Demokratie autoritaerer werden koennte. Wenn die Arbeitslosigkeit 
im Westen weiter steigt, koennte dieses Szenario durchaus wieder eintreffen. 
Es gibt ja bereits antidemokratische Stimmen, die sagen: «Wenn wir 
konkurrenzfaehig bleiben wollen, koennen wir uns Diskussionen und 
Verzoegerungen nicht mehr leisten.» Was also tun, wenn die Konkurrenz 
schneller ist aufgrund einer autoritaeren Entscheidungsstruktur?
WOZ: Was tun?
Wir stecken in einer Krise.
WOZ: Profit ueber alles.
So scheint es.
WOZ: Zurueck zu den Stimmen, die sagen, China werde demokratisch.
In China hat es 2004 ueber 75 000 Unruhen gegeben. Die Landenteignungen von 
Bauern, um Platz zu schaffen fuer neue Industrieflaechen, fuehren zu immer 
groesseren Widerstaenden. Es gibt auch grossen Widerstand gegen die 
vermehrte Umweltverschmutzung. Bisher sind das kleine, lokale 
Veranstaltungen ohne Vernetzung. Doch wenn es eine Verknuepfung der 
Widerstaende gaebe und eine nationale Bewegung entstuende, dann waere das 
eine grosse Gefahr fuer die Partei. Doch ich zweifle ein wenig an einer 
Revolution. Die Chinesen sind zurzeit vor allem darauf bedacht, die neuen 
Moeglichkeiten zu nutzen und Geld zu verdienen.
WOZ: Wie viele Industrialisierungen vertraegt die Umwelt eigentlich noch?
Da muessen Sie einen Umweltfachmann fragen. Zumindest aber hat das 
staatliche China inzwischen ein Umweltbewusstsein entwickelt. Das bedeutet 
aber nicht, dass die Fehler, die der Westen im Rahmen seiner 
Industrialisierung gemacht hat, nicht wiederholt werden. Das Hauptproblem 
dabei ist, dass der chinesische Industrialisierungsprozess von einer ganz 
anderen Dimension ist. Wenn in China bald eine aehnliche Motorisierung 
stattfindet wie bei uns, dann kollabiert die Umwelt. Eine Milliarde neuer, 
benzinbetriebener Autos vertraegt die Umwelt nicht. Doch was sollen wir uns 
beschweren? In der Schweiz hat fast jeder ein Zweitauto. Da kann man jetzt 
schlecht nach China gehen und sagen: Wir haben schon zu viele Autos, ihr 
duerft deshalb nicht.
WOZ: Kollaps. Apokalypse. Aus.
Warum denn? Ich bin zwar kein Experte in Sachen Antriebstechniken. Doch 
selbst ich weiss, dass diese weit entwickelt sind. In diesen Bereichen muss 
viel passieren; ob im Wasserstoff- oder im Hybridmotorenbereich. Rohstoffe 
wie Oel werden mit dem Aufschwung Chinas sowieso sehr schnell knapp.
WOZ: Sogar in der Schweiz ist der Stahlpreis aufgrund der grossen Nachfrage 
Chinas seit Mai 2003 um fuenfzig Prozent gestiegen. Was frisst denn so viel 
Stahl?
Stahl ist neben Oel der wichtigste Grundstoff einer Wirtschaft. Allein der 
Bauboom: Da entstehen im Nu Millionenstaedte, wo vorher Sumpf war. Diese 
Entwicklung hat auch positive Aspekte: Stahl hat wieder an Wert gewonnen. In 
den letzten Jahren ist Stahl vor allem mit Massenentlassungen in 
Zusammenhang gebracht worden. Dieser Umschwung ist einer der fuer uns 
positiven Aspekte. Uebrigens wird sich auch die hiesige Tourismusbranche ob 
der Entwicklung freuen: Die Chinesen haben die Japaner im Reisen bereits 
ueberholt.
WOZ: China kauft in der Welt fleissig Schrott, um daraus Stahl zu 
produzieren. Fast die Haelfte des vorhandenen Stahls wird durch 
Wiederverwertung von Stahlschrott produziert. Bei Oel geht das nicht.
Chinas eigene Oelfoerderung reicht schon lange nicht mehr aus. Bislang 
kauften die Chinesen in Laendern, welche die USA nicht sonderlich 
interessierten: Angola, Sudan, Venezuela. Die Chinesen werden im Nahen Osten 
staerker als Kaeufer auftreten. Schon jetzt sind sie in Saudi-Arabien sehr 
aktiv. Dies passt den USA ueberhaupt nicht. Sie betrachten das Koenigreich 
als ihr Heimterritorium. Die Chinesen kaufen sich zudem im Iran ein, was die 
Amerikaner noch mehr stoert. China ist jedoch genug maechtig, um die 
Vorbehalte der USA ignorieren zu koennen. Zentralasien wird im Rahmen der 
Oelfoerderung ebenfalls in den Fokus geraten. Auch hier ist noch nicht klar 
erkennbar, wer sich durchsetzen wird. Die USA haben den ersten Schritt 
gemacht. Sie haben den Irak besetzt und haben somit den Fuss in der Tuer. 
Dasselbe in Afghanistan. Es wird zwangslaeufig zu Konflikten um Ressourcen 
zwischen China und den USA kommen. Doch wie weit die eskalieren werden, ist 
jetzt nicht absehbar.
WOZ: Im Buch «Herausforderung China» schreiben Sie: «Was, wenn ein Land 
nahezu alles herstellen kann, und zwar zu unschlagbaren Preisen. Das ist in 
der schoenen heilen Welt der Freihandelstheorie nicht vorgesehen.»
Die Freihandelstheorie besagt, dass, wenn zwei Nationen miteinander Handel 
treiben, viele Nationen davon profitieren. Das ist die Basis der 
Globalisierung. Was jetzt passiert, hat eine neue Qualitaet: Aufgrund seiner 
Groesse kann zum ersten Mal ein Land alles selber und guenstiger herstellen. 
Chinesische Unternehmen muessen ihre Produktion nicht ins Ausland verlagern. 
Die Verlagerung passiert im riesigen Inland. Dies geschieht jetzt schon: Aus 
Schanghai wandern viele Firmen in den Westen Chinas, weil Schanghai zu teuer 
geworden ist.
Wenn 800 bis 900 Millionen Menschen sofort bereit sind, fuer ein bis zwei 
Dollar am Tag zu arbeiten, ist es kein Problem, Arbeitskraefte zu finden. In 
vielen Fabriken herrschen Bedingungen wie im Manchester-Kapitalismus. Der 
Profit geht ueber alles, die sozialen Belange der Arbeiter und Arbeiterinnen 
zaehlen kaum oder gar nicht. Natuerlich ist die Sache nicht so einfach. Denn 
der Blick ist vor Ort ein anderer. Der Blick eines Bettelarmen sagt: Ich 
wohne in der Fabrik, spare von den 120 Dollar Monatslohn die Haelfte und 
schicke diese in mein Heimatdorf, wo ich meinen Kindern damit vielleicht 
eine Ausbildung ermoegliche.
WOZ: Der Freihandel frisst sich auf?
Die Zukunft wird die Frage beantworten: Was bleibt uns im Westen, wenn ein 
solch grosses Land alles selber herstellen kann? Es gibt Leute, die sagen: 
«Wir muessen so viel besser sein, wie wir teurer sind.» Das ist eine banale 
Erkenntnis, aber sie trifft den Kern der Sache. Die Freihandelstheorie hat 
ja nie weltumspannend funktioniert. Die Dritte Welt hat bisher fast 
ausschliesslich verloren. Meine Bedenken sind solche aus der Sicht eines 
Deutschen, eines Westlers. Die Dritte Welt hat am Freihandel bisher gar 
nicht richtig teilgenommen. Jetzt ploetzlich sind China und auch Indien auf 
den Plan getreten. Es ist nicht gottgegeben, dass es uns im Westen ewig auf 
Kosten anderer gut gehen kann. Unser Lebensstandard wird zurueckgehen. 
Global gesehen fuehrt die jetzige Entwicklung wohl zu einem ausgeglicheneren 
Verhaeltnis.
(WOZ vom 05.01.2006)
Quelle:http://www.woz.ch/artikel/newsletter/12766.html
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