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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 6. Dezember 2005; 19:20
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Demokratie/Recht/ORF/Glosse:
> Ein gutes Beispiel und ein schlechtes Beispiel
Prinzipielle Anmerkungen zu den ORF-Wahlen
Wenn der Staat irgendetwas waehlen laesst, gilt es genau auf die Spielregeln
zu achten, wonach gewaehlt wird. Wer sich die Geschichte des Wahlrechts in
Oesterreich wie weltweit ansieht, weiss, dass das eine Geschichte des
Kampfes ist und dass das Wahlrecht immer auch eine Momentaufnahme der
Machtverhaeltnisse zu jenem Zeitpunkt ist, wo es niedergeschrieben wird.
Diese Effekte kennen wir aus der Zeit des aufstrebenden Buergertums mit der
Einfuehrung des Zensuswahlrechtes genauso wie aus der Zeit der
Frauenrechtsbewegung mit der Einfuehrung des gleichen Wahlrechts fuer Frauen
und Maenner. Und die tatsaechlich inhaltlichen Partizipationsmoeglichkeiten
in der Schweiz waeren ohne deren jahrhundertealte Demokratiegeschichte auch
nicht denkbar. Daneben machen sich auch noch Effekte bemerkbar, die wohl den
jeweils herrschenden Machtverhaeltnissen innerhalb der Vertretungskoerper
geschuldet sind: Die SPOe versuchte in Wien nicht deswegen den
Nicht-EU-Auslaendern das Bezirkswahlrecht zu geben, weil sie so demokratisch
gesinnt war, sondern weil sie sich ausrechnen konnte, dass die Anzahl der
Schwarz-, Blau- und auch Gruenwaehler der neuen Waehlerschicht eher minimal
ausfallen wuerde.
Der Staat laesst immer genausoviel "Demokratie" zu, wie es zu seiner
Stabilisierung notwendig ist -- da geht es nicht um eine demokratische
Grundhaltung, die Partizipation fuer etwas Wichtiges haelt, sondern um den
puren Machterhalt. Wie sieht es aber aus, wenn heute, in einem voellig
erstarrten und unbedrohten Staat, neue Wahlkoerper entstehen oder
grundlegend reformiert werden? Welches Wahlrecht haben wir hier zu
gewaertigen? Ein ganz eigenartiges! Ein Wahlrecht, bei dem das
Establishement ordentlich bedient wird und niemand etwas dagegen haben kann,
der tatsaechlich etwas dagegen haben kann, zumindest nichts Wirksames. Ein
solches Beispiel bietet uns das ORF-Gesetz idF. von 2001. Am 5.Dezember lief
die Wahlfrist fuer die bereits zweite Wahl von 6 Mitgliedern des
35-koepfigen Publikumsbeirates aus. Eine gute Gelegenheit, sich mit neuen
Formen des Wahlrechts zu beschaeftigen.
Ganz allgemein ist die Bestellung dieses Gremiums ein Musterbeispiel an
demokratischer Ignoranz gepaart mit legistischer Schleissigkeit. So lautet
§28 (3) ORF-Gesetz ueber 12 der 35 Vertreter folgendermassen: "Der
Publikumsrat ist wie folgt zu bestellen: 1. die Wirtschaftskammer
Oesterreich, die Praesidentenkonferenz der Landwirtschaftskammern
Oesterreichs, die Bundesarbeitskammer und der Oesterreichische
Gewerkschaftsbund bestellen je ein Mitglied; 2. die Kammern der freien
Berufe bestellen gemeinsam ein Mitglied; 3. die roemisch-katholische Kirche
bestellt ein Mitglied; 4. die evangelische Kirche bestellt ein Mitglied; 5.
die Rechtstraeger der staatsbuergerlichen Bildungsarbeit im Bereich der
politischen Parteien (BGBl. Nr. 369/1984) bestellen je ein Mitglied; 6. die
Akademie der Wissenschaften bestellt ein Mitglied." Die klassisch
sozialpartnerschaftliche Mischung also, die staatstragenden Lobbyisten --
wie gehabt -- ausreichend vertreten. Nicht nur demokratiepolitisch
bedenklich, auch verfassungsrechtlich nicht ganz koscher ist da allerdings
die Vertretung der Kirchen. Einmal abgesehen davon, dass wir Atheisten,
Agnostiger oder sonstwie Konfessionslosen wie ueblich ignoriert werden,
obwohl wir schon seit laengerem diesbezueglich die zweitstaerkste Gruppe
sind, ist die namentliche Zuordnung zweier Mandate zu
Religionsgemeinschaften nicht gerade gleichheitskonform. Richtig waere es zu
formulieren, dass die beiden staerksten Religionsgemeinschaften Mitglieder
stellen -- dann koennten aber vielleicht in ein paar Jahren die
Evangelischen ihr Mandat an die Moslems verlieren. Das waere
gleichheitskonform, aber es entspraeche nicht den Machtanspruechen der
Christen -- und die sind immer noch staerker als die
Gleichheitsbestimmungen. Solange aber alle Machtgruppen, die die
Moeglichkeit haetten, ueber den einen oder anderen Weg zum
Verfassungsgerichtshof zu pilgern, mit Pfruenden ruhiggestellt sind, sind
Verfassungsbestimmungen egal.
Der Absatz 4 des besagten Gesetzes ist aehnlich gestrickt: "Der
Bundeskanzler hat fuer die weiteren Mitglieder Vorschlaege von Einrichtungen
bzw. Organisationen, die fuer die nachstehenden Bereiche bzw. Gruppen
repraesentativ sind, einzuholen: die Hochschulen, die Bildung, die Kunst,
der Sport, die Jugend, die Schueler, die aelteren Menschen, die behinderten
Menschen, die Eltern bzw. Familien, die Volksgruppen, die Touristik, die
Kraftfahrer, die Konsumenten und der Umweltschutz." Was ist denn bitte das
fuer eine Auswahl? Was macht die Touristik da drin? Ist das irgendwie eine
benachteiligte Minderheit oder eine kulturtragende Instiution? Und wieso die
Kraftfahrer? Wieso nicht die Radfahrer oder die Benuetzer oeffentlicher
Verkehrsmittel? Wieso sind die Kraftfahrer so bevorzugt? Weil sie die
staerkere Lobby haben und weil das Establishment nunmal nicht Rad faehrt --
deswegen!
Bleiben die 6 direkt Waehlbaren! Und da wird es ganz wild! Allgemeines
Wahlrecht? Schnecken! Der Anmelder bestimmt und das ist wohl meist
derjenige, der im Haushalt das Sagen hat. Gleiches Wahlrecht? Kaum! Denn
hier gilt: Wer im Buero ein Fax hat, fuer den ist das in 5 Minuten erledigt.
Beispielsweise viele Blue Collars, Bauern oder Arbeitslose muessen dafuer
extra ins Postamt und dort auch noch extra fuer ihr Wahlrecht bezahlen --
ein deutlicher Mehraufwand, der sich in der Wahlbeteiligung der
verschiedenen Gruppen auswirkt, wobei wir da noch nicht einmal von den
Gehbehinderten reden. Geheimes Wahlrecht? Schon gar nicht -- das Formular
wird mit Name und Teilnehmernummer versehen und muss unterschrieben werden.
Garniert wird das Ganze mit einem Mehrheitswahlrecht nach amerikanischem
Muster, also ohne Stichwahl, damit Kandidaten, die nicht von den beiden
Grossparteien nominiert wurden oder keine Promis sind, noch weniger Chancen
haben, als dem ohnehin schon der Fall gewesen waere.
So sieht also ein Vertretungskoerper aus, dessen Spielregeln zu seiner
Zusammensetzung im 21.Jahrhundert definiert werden -- das Ganze nennt sich
dann demokratisch.
Zugegeben, der Publikumsrat und speziell die Minderheitsfraktion der direkt
Gewaehlten ist nicht das wichtigste politische Gremium des Landes. Aber es
ist ein Beispiel, ein gutes Beispiel, wie heutzutage Partizipation
verstanden wird. Es ist ein gutes Beispiel fuer die Praepotenz des
Establishments, das sich sicher fuehlt in seinen Positionen.
Und es gilt obacht zu geben. Denn wenn dieses Beispiel Schule macht und in
Hinkunft generell Partizipation so verstanden wird, drohen wir dieses
Quentchen an Demokratie, das wir haben -- viel ist es ja eh nicht -- auch
noch zu verlieren. Das gute Beispiel fuer das obrigkeitliche Schalten und
Walten koennte ein schlechtes Beispiel werden fuer die Zukunft...
*Bernhard Redl*
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