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  akin-Pressedienst.
  Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 29. November 2005; 18:04
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  Welt/Handel:
  
  > Widersprueche, Turbulenzen, Opportunitaeten
  
  Unuebersichtliche Gemengelage vor WTO-Konferenz in Hongkong.
  
  
  Ein weiteres Gipfelspektakel steht ins Haus: Vom 13. bis zum 18. Dezember 
  wird in Hongkong die sechste Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation 
  (WTO) ueber die Buehne gehen. Knackpunkt der aktuellen Verhandlungen ist 
  einmal mehr der Agrarsektor. Die reichen Industrielaender lassen derzeit 
  nichts unversucht, ein abermaliges Scheitern der Ministerkonferenz wie 
  zuletzt 2003 in Cancun/Mexico zu verhindern. Demgegenueber pochen die 
  Regierungen des globalen Suedens auf substanzielle Zugestaendnisse in der 
  Agrarfrage, andernfalls sei von ihnen keine ernsthafte 
  Gespraechsbereitschaft in anderen Bereichen zu erwarten, etwa im Handel mit 
  
  Dienstleistungen (GATS) und nicht-agrarischen Produkten (NAMA).
  
  Allein: wichtige und grosse Laender des globalen Suedens wie Brasilien oder 
  
  Indien entwickeln sich immer staerker zu Wackelkandidaten. Es steht zu 
  befuerchten, dass die seitens des globalen Nordens erprobte 
  Teile-und-Herrsche-Strategie aufgehen koennte, mit katastrophalen 
  Konsequenzen fuer viele der weltweit ueber 1,3 Milliarden in der 
  Landwirtschaft beschaeftigten Menschen. In diesem Sinne gilt es, all den 
  Regierungen, NGOs und sozialen Bewegungen den Ruecken zu staerken, die das 
  Liberalisierungsungeheuer WTO in die Knie zwingen moechten - Stichwort: 
  "Hongkong platzen lassen!"
  
  Es lohnt, zum besseren Verstaendnis des aktuellen Verhandlungsstands, in der 
  
  noch jungen WTO-Geschichte zurueckzugehen, bis zur vierten Ministerkonferenz 
  
  2001 in Doha/Katar. Dort schickten sich die Laender des globalen Suedens 
  erstmalig an, im WTO-Rahmen als halbwegs organisierte und untereinander 
  abgestimmte Interessen-Gruppe(n) zu agieren - nachdem bereits ihr 
  entschiedenes Nein zu einer abermaligen Freihandels- bzw. 
  Liberalisierungsrunde 1999 in Seattle/USA zentral zum Scheitern der dritten 
  
  Ministerkonferenz mit beigetragen hatte.
  
  Die Formierung des globalen Suedens rund um Doha war zeitlich alles andere 
  als Zufall, mehrere Entwicklungen kamen seinerzeit zusammen: Zum ersten 
  kristallisierten sich fuer die Laender des globalen Suedens die vier 
  wichtigsten der desastroesen Konsequenzen der im Januar 1995 in Kraft 
  getretenen WTO-Abkommen heraus: (1) die Agrarmaerkte wurden noch staerker 
  als zuvor mit subventionierten Billigprodukten aus dem Norden ueberschwemmt, 
  
  (2) (Aids-)Medikamente und genbehandeltes Saatgut (Stichwort: Biopiraterie) 
  
  standen mittlerweile unter Patentschutz und waren nur noch zu horrenden 
  Preisen zu haben, (3) der Norden missbrauchte das Anti-Dumping-Abkommen 
  vorrangig dafuer, missliebige Konkurrenz aus dem Sueden loszuwerden und (4) 
  
  das mit viel Vorschusslorbeeren bedachte Textilabkommen hatte so gut wie 
  keinen wirtschaftlichen Nutzen fuer die Laender des globalen Suedens 
  gebracht..
  
  Zweitens hatte der globale Sueden mittlerweile hinreichend Bekanntschaft mit 
  
  den hochgradig intransparenten und undemokratischen Entscheidungsablaeufen 
  innerhalb des WTO-Apparates (einschliesslich der WTO-internen 
  Streitschlichtungsstelle) gemacht. Hierzu gehoerte auch die Erfahrung, dass 
  
  EU und USA im konkreten Verhandlungsalltag vor nichts, auch nicht vor 
  Kanonenbootdiplomatie zurueckschreckten, d.h. vor knallharten 
  Erpressungsmanoevern, gezielten Verunglimpfungen und anderen Winkelzuegen.
  
  Drittens hatte sich mittlerweile das weltweite Kraefteverhaeltnis leicht 
  verschoben, der Neoliberalismus begann, seine in den 1990er Jahren nahezu 
  unangefochtene Vormachtstellung einzubuessen. Hierzu hatten die diversen 
  Finanzcrashs, insbesondere die Asienkrise 1997/98, genauso beigetragen wie 
  der Umstand, dass mit China und Indien ausgerechnet zwei Laender in die 
  Gruppe der oekonomischen Grossmaechte nachgerueckt waren, die in ihrer 
  Wirtschaftspolitik (bis heute) auf neoliberale Instrumente relativ 
  weitgehend verzichten.
  
  Die Laender des globalen Nordens versuchten es sodann mit Zuckerstueckchen. 
  
  Der Sueden sollte umgarnt und zurueck ins (vorgeblich) gemeinsame WTO-Boot 
  geholt werden: Sie schlugen vor, in Doha eine so genannte Entwicklungsrunde 
  
  einzulaeuten. Aber: Den schoenen Worten sollten keine Taten folgen! Einmal 
  mehr wurden die Vorschlaege des Suedens brachial vom Tisch gewischt; hierzu 
  
  gehoerte insbesondere das von zahlreichen Laendern artikulierte Interesse, 
  nicht einfach mit der WTO-eigenen Liberalisierungsagenda fortzufahren, vor 
  allem nicht im Dienstleistungsbereich (GATS), wozu ja auch die aus der Sicht 
  
  transnationaler Konzerne aeusserst lukrativen Geschaeftsfelder Wasser- und 
  Energieversorgung, Telekommunikation, Transport und Finanzdienstleistungen 
  gehoeren. Vielmehr sollten die bisherigen WTO-Abkommen hinsichtlich ihrer 
  konkreten Auswirkungen (einschliesslich Umsetzungsschwierigkeiten) einer 
  sorgfaeltigen Evaluation unterzogen werden.
  
  Taschenspielertricks des Nordens in der Agrarfrage
  
  All dies behagte dem globalen Norden gar nicht. Sein Interesse bestand 
  lediglich darin, moeglichst schnell weitere Bereiche zu offiziellen 
  Verhandlungsgegenstaenden auszuschreiben, insbesondere die aeusserst 
  umstrittenen Themenfelder (Direkt-)Investitionen und Dienstleistungen. Die 
  Industrielaender legten es in Doha folglich darauf an, ausschliesslich ihre 
  
  eigenen Verhandlungsvorschlaege in der abschliessenden Ministererklaerung zu 
  
  platzieren - leider mit Erfolg. Als Zielvorgabe der bis heute unter dem 
  Label Doha-Entwicklungsrunde firmierenden Verhandlungen wurde der 1. Januar 
  
  2005 bestimmt. Bis dahin sollten die in Doha beschlossenen Themen fertig 
  verhandelt und in neue bzw. inhaltlich erweiterte WTO-Abkommen gegossen 
  sein. Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter verwunderlich, dass die 
  Verhandlungen beim fuenften Ministertreffen 2003 in Cancun/Mexico erst 
  einmal scheiterten. Die Laender des globalen Suedens wollten die miese 
  Macht- und Tagesordnungspokerei des Nordens nicht mehr hinnehmen, zumal 
  dieser weder im Agrarbereich noch in irgendeinem anderen der strittigen 
  Themen substanzielle Angebote machte.
  
  Die Industrielaender sollten hieraus ihre Konsequenzen ziehen. Sie schlugen 
  
  vor, dass Ministerkonferenzen zukuenftig vom Allgemeinen Rat, dem staendigen 
  
  Gremium aller WTO-Mitglieder in Genf, ungleich intensiver vorzubereiten 
  waeren als bislang. Diese Entscheidung entpuppte sich als kluger Schachzug: 
  
  Weitgehend unbemerkt von der breiten Oeffentlichkeit schaffte es der Norden 
  
  auf einer Sitzung des Allgemeinen Rats im Juli 2004, das Heft des Handelns 
  wieder an sich zu reissen. Im Rahmen des so genannten Juli-Pakets musste er 
  
  zwar auch einige Abstriche machen, im Hinblick auf die fuer das 
  Ministertreffen in Hongkong entscheidenden Punkte gelang es ihm jedoch, 
  erste fuer den globalen Sueden hochgradig nachteilige Vorentscheidungen 
  durchzuboxen.
  
  Worum geht es in der Agrarfrage konkret? Im WTO-Agrarabkommen verpflichten 
  sich die Unterzeichnerstaaten, erstens den Zugang zu ihren Maerkten zu 
  liberalisieren, zweitens die heimische Unterstuetzung der Landwirtschaft zu 
  
  reduzieren und drittens die Exportsubventionen zu begrenzen. Zweck dieser 
  Regelungen ist es, das massive Dumping einzudaemmen, mit dem EU und USA seit 
  
  den 1980er Jahren die Preise auf den Weltagrarmaerkten in den Keller 
  getrieben hatten - nicht zuletzt auf Kosten der Kleinbaeuerinnen und -bauern 
  
  im globalen Sueden.
  
  Soweit die Theorie, die Realitaet sieht anders aus: Durch wohlkalkulierte 
  Taschenspielertricks gelang es den Laendern des globalen Nordens, ihre 
  Exportsubventionen unter neuem Namen beizubehalten, mitunter sogar zu 
  erhoehen. Die Dumping-Praxis konnte auf diese Weise ungezuegelt fortgesetzt 
  
  werden. Konkret: Die EU exportierte 2001 Weizen zu Preisen 46% unterhalb der 
  
  Produktionskosten, bei Magermilch waren nur noch 50% der Kosten gedeckt, bei 
  
  Zucker gerade mal 25%. Umgekehrt konnte der Sueden keinen Vorteil aus den 
  Marktoeffnungen im Norden ziehen. Noch waehrend der Verhandlungen zum 
  WTO-Abkommen hatten naemlich EU, USA & Co. ihre Zoelle derart in die Hoehe 
  schnellen lassen, dass anschliessend die im Abkommen vorgeschriebene 
  Zollsenkung um 36% den Marktzugang fuer Laender des globalen Suedens nicht 
  im geringsten erleichtert hat. Konsequenz hiervon ist, dass jedes Jahr 
  weltweit viele Millionen KleinbaeuerInnnen in die Pleite getrieben werden, 
  schlicht deshalb, weil sie mit den subventionierten Produkten aus dem Norden 
  
  nicht Schritt halten koennen.
  
  De-Industrialisierung des globalen Suedens droht
  
  Seit seinem Beitritt zur WTO sind z.B. in Kamerun 110.000 Arbeitsplaetze in 
  
  der kleinbaeuerlichen Gefluegelproduktion und weitere zehntausend 
  Arbeitsplaetze im gleichfalls kleinbaeuerlichen Futtermittelsektor 
  kaputtgegangen. Im gleichen Zeitraum hat die EU ihre Billig-Exporte von 
  gefrorenem Gefluegelfleisch nach Kamerun von 978 auf 22.000 Tonnen pro Jahr 
  
  ausgedehnt - bei einem Gesamtbedarf von 30.000 Tonnen. Fuer die davon 
  Betroffenen (samt Familien) bedeutet dies unter anderem den Verlust ihrer 
  Ernaehrungssouveraenitaet und somit Hunger und Unterernaehrung.
  
  Ob ein Kompromiss im Agrarsektor gefunden wird, steht derzeit in den 
  Sternen. Klar ist nur: Sollte es vor oder in Hongkong zu einer Einigung 
  kommen, duerfte sich die ohnehin schon katastrophale Situation im globalen 
  Sueden weiter zuspitzen. Denn waehrend die Industrielaender eine Senkung der 
  
  (Export-)Subventionen lediglich in Aussicht gestellt haben - die Rede ist 
  von einem 15-jaehrigen (sic) Uebergangszeitraum -, wuerde es bereits in 
  naher Zukunft - so der aktuelle Verhandlungsstand - zu einer betraechtlichen 
  
  Senkung der Zoelle und somit zu verbesserten Marktzugaengen weltweit kommen. 
  
  Davon duerften indessen einzig die reichen Laender des Nordens sowie 
  klassische Agrar-Exportlaender wie Brasilien oder Argentinien profitieren.
  
  Viel haengt auch davon ab, ob sich der globale Sueden trotz betraechtlicher 
  
  Interessensdifferenzen auf eine gemeinsame Linie verstaendigen kann oder ob 
  
  soziale Bewegungen wie die internationale KleinbaeuerInnenorganisation Via 
  Campesina mit ihrer Kritik Recht behalten sollten, wonach die Regierungen 
  Brasiliens und Indiens mittlerweile ebenfalls zu "Brokern fuer die 
  Marktoeffnungsagenda des Agrobusiness in Nord und Sued" mutiert seien.
  
  Sollte das Nadeloehr Agrarsektor erfolgreich passiert werden, duerfte es mit 
  
  grosser Wahrscheinlichkeit auch in anderen Bereichen zu einer Einigung 
  kommen, insbesondere bei den nicht-agrarischen Produkten (Industriegueter, 
  Rohstoffe sowie Produkte aus Forstwirtschaft und Fischerei). Die 
  Konsequenzen duerften aehnlich katastrophal wie im Agrarbereich ausfallen, 
  auch hier, weil weitgehende Zollsenkungen und somit stark ausgeweitete 
  Marktzugaenge ins Auge gefasst sind. Was das konkret bedeuten wuerde, ist 
  bereits aus frueheren, durch IWF und Weltbank erzwungenen Zollreduzierungen 
  
  hinlaenglich bekannt; auf jeden Fall scheint die Rede von der aktuell im 
  grossen Massstab drohenden De-Industrialisierung des globalen Suedens (nebst 
  
  intensivierter Importabhaengigkeit) wohl nicht uebertrieben.
  
  WTO-Abkommen und aehnlich ausgerichtete (regionale oder bilaterale) 
  Vertragswerke haben in ihrer Eigenschaft als regulative Instrumente des 
  globalen Kapitalismus mehr oder weniger katastrophale Konsequenzen fuer 
  unzaehlige Menschen. Dementsprechend entschlossen ist vor allem im globalen 
  
  Sueden der Widerstand, auch juengst wieder anlaesslich der Gespraeche auf 
  dem Amerika-Gipfel ueber die Einrichtung einer amerikaweiten 
  Freihandelszone. Inwieweit sich diese global verstreuten Proteste im Zuge 
  des WTO-Ministertreffens in Hongkong buendeln lassen und so der Hong Kong 
  People's Alliance in ihren geplanten Protesten wirksam den Ruecken staerken 
  
  koennen, ist nur schwer einzuschaetzen. Deprimierend ist jedoch, dass hier 
  zu Lande der Protest gegen die WTO gerade mal bei attac und einschlaegig 
  interessierten NGOs eine nennenswerte Rolle spielt. Das muss sich aendern, 
  vielleicht ja im Rahmen des derzeit gerade an den Start gehenden Widerstands 
  
  gegen den G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm.
  (Gregor Samsa, [ak - analyse + kritik - Zeitung fuer linke Debatte und 
  Praxis / Nr. 500 / 18.11.2005])
Quelle: http://www.akweb.de/ak_s/ak500/24.htm
  
  
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