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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 7. Juni 2005; 16:49
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EU/Verfassung/Demokratie/Glosse:
> Zwentendorfer Allueren
Die EU will jetzt demokratischer werden, um undemokratisch bleiben zu 
koennen.
Ein Kommentar im Mittagsjournal am Montag brachte es auf den Punkt: Die 
EU-Verfassung ist tot, aber niemand traut sich das zu sagen, um nicht als 
Moerder dazustehen.
Aber als das, was diese Verfassung geplant war, war sie sowieso eine 
Totgeburt. Denn die ersten Forderungen nach einer Verfassung waren die 
Forderungen nach demokratischen Notwendigkeiten, die dieser im Entstehen 
begriffene de facto-Superstaat EU einfach ignorieren wollte.
Heraus kamen aber nur ein paar Verbesserungen fuer das Parlament nebst einem 
verwaschenen Grundrechtskatalog ohne echte Rechtsverbindlichkeit und als 
Gegengeschaeft eine staerkere Integration, eine Festschreibung des 
Kapitalismus und eine Militarisierung der EU.
Was allerdings die Demokratisierung im nichtparlamentarischen Bereich 
angeht, so ist diese in Artikel I-47 definiert. Dieser sei wegen seiner 
Laecherlichkeit hier im Volltext zitiert:
"(1) Die Organe geben den Buergerinnen und Buergern und den repraesentativen 
Verbaenden in geeigneter Weise die Moeglichkeit, ihre Ansichten in allen 
Bereichen des Handelns der Union oeffentlich bekannt zu geben und 
auszutauschen.
(2) Die Organe pflegen einen offenen, transparenten und regelmaessigen 
Dialog mit den repraesentativen Verbaenden und der Zivilgesellschaft.
(3) Um die Kohaerenz und die Transparenz des Handelns der Union zu 
gewaehrleisten, fuehrt die Kommission umfangreiche Anhoerungen der 
Betroffenen durch.
(4) Unionsbuergerinnen und Unionsbuerger, deren Anzahl mindestens eine 
Million betragen und bei denen es sich um Staatsangehoerige einer 
erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten handeln muss, koennen die Initiative 
ergreifen und die Kommission auffordern, im Rahmen ihrer Befugnisse 
geeignete Vorschlaege zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht 
jener Buergerinnen und Buerger eines Rechtsakts der Union bedarf, um die 
Verfassung umzusetzen. Die Bestimmungen ueber die Verfahren und Bedingungen, 
die fuer eine solche Buergerinitiative gelten, einschliesslich der 
Mindestzahl von Mitgliedstaaten, aus denen diese Buergerinnen und Buerger 
kommen muessen, werden durch Europaeisches Gesetz festgelegt."
Was soll das? Man verspricht hoch und heilig, mit den Sozialpartner auch zu 
reden und genehmigt dem Volk unter strengen, aber schwammig formulierten 
Bedingungen ("erhebliche Anzahl von Mitgliedstaaten"), das Recht, die 
Kommission bitten zu duerfen, dass sie darueber nachdenken soll, wie die 
Verfassung umgesetzt werden koennte. Und waehrend die Regelungen bezueglich 
qualifizierte Mehrheiten im Rat ganz genau mit Prozentzahlen in der 
Verfassung fixiert sind, werden die Bestimmungen ueber diese laeppischen 
Volksbegehren auch noch extern per einfachem Gesetz geregelt -- sind also 
nicht einmal verfassungswuerdig und koennen jederzeit abgeaendert werden.
Das nennen sie dann "partizipative Demokratie". Das ist alles -- mehr gibts 
nicht.
Doch da bleibt immer noch das Problem, dass in einigen Nationalstaaten 
entweder weitreichende Bestimmungen ueber die Notwendigkeit von 
Volksabstimmungen herrschen oder zumindest das politische Klima solche 
verlangt.
In Oesterreich oder Deutschland ist dem nicht so. In Oesterreich wurden wir 
einmal mit Propaganda niedergewalzt und seither gilt der damalige Entscheid 
als Persilschein fuer alles, was die EU so verzapft. In Deutschland gab es 
ueberhaupt nie ein Plebiszit: Die BRD ist als Mitgruenderstaat der EGKS 1951 
einfach in die EU hineingerutscht, ohne dass je das Volk auch nur ueber 
einen einzigen Vertiefungsschritt befragt worden waere.
Doch andere Laender, gluecklicherweise andere Sitten. Anderswo kam man eben 
nicht um eine Abstimmung ueber den Verfassungsvertrag herum. Und siehe da, 
das franzoesische und niederlaendische Nein erzeugt ein Umdenken: Auf 
einmal -- nur weil den hohen EU-Herren ein nationaler Volksentscheid nicht 
passt -- soll ploetzlich ein EU-weites Referendum moeglich sein. Natuerlich 
nur zu diesem speziellen Anlass und nur um mit Hilfe der noch nicht 
EU-frustrierten Oststaaten die kritischen Bevoelkerungen zu ueberstimmen. 
Schuessel schlaegt eine doppelte Mehrheit (Mehrzahl der Stimmen und Mehrzahl 
der Laender) vor. Welche Ideen die auf einmal haben, wenn sie ihre Felle 
davonschwimmen sehen!
Irgendwie erinnert mich das alles an Zwentendorf: Da hat man auch zuerst 
gebaut und dann -- als Kreisky das Eisen zu heiss wurde -- erklaert, jetzt 
duerfe man abstimmen. Ein suendteures Kraftwerk, das wir jetzt doch einfach 
einschalten muessten! Und wenn man das nicht macht, gehen die Lichter aus.
Aehnliches passierte jetzt: Die Verfassung ist fertig und accordiert, alle 
Regierungshaeuptlinge haben mit ihrer Unterschrift bestaetigt, fuer die 
Ratifizierung daheim sorgen zu wollen und ueberhaupt muessten alle JA sagen, 
denn es gaebe keinen Plan B -- und jetzt der grosse Katzenjammer. Jetzt das 
Gerede ueber ein zweites Referendum -- weil was die Kommission fuer Weisheit 
und Gerechtigkeit beschlossen habe, darf das Volk nicht ablehnen.
Auch hier wieder der Vergleich mit Zwentendorf: Jahrelang gab es immer 
wieder die halblaut ausgesprochene Ueberlegung, ob man nicht nach einem 
zweiten Referendum Zwentendorf doch aufsperren koennte -- erst Tschernobyl 
beendete diese Debatte.
Auch der Vertrag von Nizza kam erst mit der Methode des Volk-Ignorierens zu 
Stande. Da die Iren diesbezueglich die strikteste Verfassung haben 
(Verfassungsaenderungen beduerfen dort prinzipiell eines Referendums), 
musste der Vertrag abgestimmt werden und fiel prompt durch. Nach ein paar 
Retuschen kam der fast identische Vertrag nochmal zur Abstimmung -- nur war 
diesmal die Propaganda besser -- und so wurde der Vertrag doch noch 
rechtsgueltig. Und jetzt kommt die Pointe: Weswegen wir jetzt doch EU-weit 
diese sogenannte Verfassung absegnen sollen, wird genau mit diesem Vertrag 
von Nizza begruendet: Wir sollen jetzt alle herzhaft Jaaaaa sagen, damit wir 
dieses von derselben Kommission fuer Weisheit und Gerechtigkeit beschlossene 
Machwerk wieder loswerden koennen.
Selbst wenn diese Verfassung wirklich mal ausnahmsweise was Vernuenftiges 
gewesen waere (was beileibe nicht der Fall ist), gehoert soviel Praepotenz 
einfach bestraft -- dazu kann man einfach nicht Ja sagen!
Es stimmt schon: Frankreich hat nicht allein ueber die EU-Verfassung 
abgstimmt. Doch die Behauptung, es waere nur um Innenpolitik gegangen, ist 
spaetestens seit dem hollaendischen Votum ad absurdum gefuehrt. Es war 
vielmehr ein Votum gegen die EU, gegen den totalen Markt und gegen 
Richtlinien á la Bolkestein. Ein Votum aber sicher auch gegen die 
Allvertretungsphantasien ihrer Regierungschefs.
Diese Regierungschefs haben einen schweren Fehler gemacht: Sie haben das 
Volk nicht voellig entmachtet. Immer noch gibt es Volksabstimmungen, immer 
noch gibt es Wahlen -- viel zu selten, mit viel zu wenig Auswahl, aber 
immerhin.
Und jetzt haben sie wieder einmal in zwei Staaten das Volk um seine Meinung 
befragt. Das sollte man entweder immer tun oder nie. Wenn man es aber nur 
ganz selten tut, bekommt man immer die ganze Rechnung praesentiert, die man 
beim Wirt (ohne den man die Rechnung bekanntermassen nie machen sollte) hat 
anschreiben lassen.
Vielleicht lernen die Hohen Herren daraus. Allerdings bleibt zu hoffen, dass 
sie das nicht tun. Denn ihre Konsequenzen daraus sind nur, dass sie ihre 
Voelker noch weniger fragen und dafuer mit noch mehr Propaganda 
ueberschuetten werden.
*Bernhard Redl*
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