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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 3. Mai 2005; 17:08
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Brasilien/Menschenrechte:
> Fremde im eigenen Land
Indigene Gemeinschaften in Brasilien
Die brasilianische Verfassung setzte 1988 fest, dass saemtliche Gebiete, die 
frueher nachweislich von Indigenen bewohnt wurden, bis spaetestens 1993 an 
diese zurueckgegeben werden muessen.
Das verfassungsmaessige Ziel der Rueckgabe saemtlicher Indianergebiete ist 
jedoch auch 2005 noch weit entfernt, obwohl die 2002 an die Macht gekommene 
Regierung von Praesident Lula da Silva in einem "Indianer-Manifest" 
versprochen hatte, die Probleme der indigenen Bevoelkerung im Rahmen einer 
"demokratischen, objektiven und kohaerenten Politik" zu loesen.
Der neue Bericht von amnesty international "Fremde im eigenen Land" zeigt 
auf, welch dramatische Konsequenzen die jahrelangen Versaeumnisse der 
Regierungspolitik auf landlose indigene Gemeinschaften haben: Ihr Leben ist 
von Angst, Elend und Hoffnungslosigkeit gekennzeichnet, sie leiden unter 
elenden Behausungen, tiefster Armut, Nahrungsmittelknappheit, hoher 
Kindersterblichkeit und zunehmenden Selbstmordraten.
Die durch Versprechungen der neuen Regierung geweckten Erwartungen machten 
einer tiefen Enttaeuschung Platz als die Zusagen nicht eingeloest wurden. 
Ein erstes Treffen zwischen dem Praesidenten und indigenen 
Fuehrungspersoenlichkeiten fand ueberhaupt erst im April 2004, 16 Monate 
nach dem Amtsantritt der Regierung statt - und das keineswegs freiwillig: 
Die Indianer hatten zuvor den Kongress in der Hauptstadt Brasília besetzt, 
um endlich eine Audienz beim Praesidenten zu erhalten.
Die nicht geloeste Landfrage stellt fuer viele indigene Gemeinschaften eine 
existenzielle Bedrohung dar und laesst ihnen haeufig keine Wahl als die der 
friedlichen Besetzung ihres angestammten Landes, um die Zerstoerung ihrer 
traditionellen Lebensform zu verhindern.
Damit kommen sie in Konflikt mit zahlreichen Interessengruppen, die 
ebenfalls Anspruch auf das strittige Land erheben - Bauern, 
Grossgrundbesitzer, Forst- und Industriebetriebe sowie das Militaer 
verteidigen ihre Ansprueche auf Indianerland mit allen Mitteln und schrecken 
auch vor der Anwendung von Gewalt oft nicht zurueck. Verbrechen, die an 
Mitgliedern von indigenen Gemeinschaften veruebt werden, wird von 
staatlicher Seite nur in den seltensten Faellen nachgegangen - die Taeter 
koennen mit grosser Wahrscheinlichkeit mit Straflosigkeit rechnen, was neuen 
Gewalttaten Vorschub leistet.
Der Mord an Marcos Verón
In den letzten Jahren eskalierte die Gewalt gegenueber indigenen 
Gemeinschaften und ihren Fuehrern zunehmend. Allein 2003 wurden 23 Indianer 
ermordet - die meisten im Zuge von Landstreitigkeiten. Marcos Verón, der 
72-jaehrige Fuehrer ("Cacique") der Guarani-Kaiowá, wurde vor den Augen 
seiner Familie von Landarbeitern zu Tode gepruegelt, als er versuchte, einen 
kleinen Teil des Landes Takuara friedlich zu besetzen, aus dem seine 
Gemeinschaft 1953 vertrieben worden war. In der Folge wurden die 
mutmasslichen Moerder verhaftet; sie wurden jedoch bis heute nicht vor 
Gericht gestellt. Der Prozess gegen sie soll noch im Lauf des Jahres 2005 
stattfinden.
1983 wurde Marçal de Souza "Tupã´Y" vor seinem Haus in Campestre 
erschossen - er hatte die brasilianischen Indianer in einer Audienz beim 
Papst bei dessen Brasilienbesuch vertreten und sich in flammenden Reden vor 
der UNO fuer Minderheiten in aller Welt eingesetzt. Seine mutmasslichen 
Moerder - ein lokaler Landbesitzer und sein Manager - wurden zwar vor 
Gericht gestellt, aber bisher nicht verurteilt.
Gewalt gegen Angehoerige indigener Gemeinschaften wird von weiten Teilen der 
Gesellschaft wenn nicht ausgeuebt, so doch toleriert - wobei 
Behoerdenvertreter leider oftmals mit schlechtem Beispiel vorausgingen: So 
verwehrten diese bei der 500-Jahr-Feier Brasiliens im April 2000 zahlreichen 
Indigenen-Vertretern die Teilnahme an den Feierlichkeiten und die 
oeffentliche Thematisierung ihrer Probleme. Als indigene Aktivisten 
daraufhin in einem friedlichen Protestmarsch am "500. Geburtstag Brasiliens" 
zum Ort der offiziellen Feierlichkeiten stroemten, wurden sie von der 
Militaerpolizei mit Traenengas und Schlagstoecken gestoppt.
Selbstmorde
Die Guarani-Kaiowá Sie zaehlen zu den bevoelkerungsreichsten indigenen 
Gemeinschaften Brasiliens - dennoch verfuegen sie pro Kopf ueber einen der 
geringsten Landanteile unter allen indigenen Gruppen.
Die Laender, ueber die sie verfuegen, gehoeren zu den kleinsten, aermsten 
und am dichtesten besiedelten indigenen Gebieten Brasiliens; sie sind von 
Unterernaehrung, Krankheit, Schmutz, Gewalt und Alkoholismus gepraegt. In 
den letzten Jahren stieg die Kindersterblichkeit aufgrund des zunehmenden 
Hungers stark an - 2004 starben 64 von 1.000 Kaiowá-Kindern.
Seit den spaeten 1980er Jahren wurden die Guarani-Kaiowá international zum 
Symbol fuer die Verzweiflung indigener Voelker, denen jede 
Zukunftsperspektive genommen wurde: Immer oefter begingen junge Nhandeva und 
Kaiowá Selbstmord.
Zwischen 1986 und 1999 starben 305 Guarani; seitdem steigen die 
Selbstmordzahlen von Jahr zu Jahr. So wurden im Zeitraum Jaenner 2001 bis 
Juli 2003 von der staatlichen Gesundheitsbehoerde 132 Guarani Selbstmorde 
gezaehlt. Die Gruende fuer die Verzweiflung der Jugendlichen sind sicherlich 
vielfaeltig; die Guarani-Kaiwoá selbst haben sie immer wieder in 
Zusammenhang mit der Verweigerung von Landanspruechen gestellt.
Das Recht aufs eigene Land
"Indigene Gruppen haben - allein aufgrund der Tatsache ihrer Existenz - das 
Recht, frei in ihrem eigenen Territorium zu leben. Die enge Verbindung der 
indigenen Voelker mit ihrem Land muss als fundamentale Basis ihrer Kultur, 
ihres spirituellen Lebens, ihrer Integritaet und ihres wirtschaftlichen 
Ueberlebens anerkannt und verstanden werden." ( Inter-Amerikanischer 
Gerichtshof fuer Menschenrechte, 31. August 2001)
Internationale Menschenrechtsstandards wie die "ILO Konvention 169 ueber 
eingeborene und in Staemmen lebende Voelker in unabhaengigen Laendern" 
bekraeftigen, dass indigene Voelker ein Anrecht darauf haben, auf ihren 
angestammten Land frei zu leben.
Die brasilianische Verfassung setzte bereits 1988 fest, dass saemtliche 
Gebiete in Brasilien, die nachweislich von Indigenen bewohnt worden waren, 
bis spaetestens 1993 an diese zurueckgegeben werden muessen. Die betroffenen 
Farmer sollten fuer die ihnen dadurch entstandenen Verluste entschaedigt 
werden. Zwischen 1992 und 2001 wurden zwar 478.721 km2 fuer indigene 
Gemeinschaften "demarkiert", das verfassungsmaessige Ziel der Rueckgabe 
saemtlicher Indianergebiete ist aber auch 2005 noch weit entfernt. 
Mittlerweile wurden 580 indigene Territorien offiziell als solche 
anerkannt - aber erst 340 von ihnen wurden auch ratifiziert.
Hoffnungsstreifen am Horizont
Trotz der zahlreichen Schwierigkeiten, mit denen die indigenen 
Gemeinschaften Brasiliens konfrontiert sind, gibt es auch immer wieder 
Anlass zu Freude und Hoffnung.
So stellte der derzeitige Justizminister in Aussicht, dass bis Ende 2006 
endlich alle noch ausstaendigen Demarkationen und Ratifikationen von 
Indianer-Gebieten durchgefuehrt werden sollen - ai wird die Einhaltung 
dieses Versprechens regelmaessig einmahnen.
Die Behoerden scheinen auch zunehmend auf internationalen Druck zu 
reagieren - am 29. Maerz 2005, einen Tag vor der Veroeffentlichung des neuen 
ai-Berichtes "Fremde im eigenen Land", ratifizierte Staatspraesident Lula da 
Silva endlich das Indigenen-Land Cerro Marangatú und gab damit 400 
Guarani-Kaiowás ihre Heimat zurueck. amnesty international hatte zuvor eine 
Aufsehen erregende "urgent action" um die Welt geschickt und auf den 
drohenden Massenselbstmord der bedrohten Kaiowá-Gemeinschaft aufmerksam 
gemacht, die nicht bereit war, das von ihnen friedlich besetzte Land 
lebendig zu verlassen.
Das groesste Hoffnungszeichen ist aber sicherlich der starke 
Ueberlebenswillen der indigenen Gemeinschaften selbst, die immer 
professioneller um ihre Rechte kaempfen. Waehrend die Anzahl der indigenen 
Bevoelkerung Brasiliens Mitte des letzten Jahrhunderts mit geschaetzten 
100.000 Angehoerigen einen historischen Tiefstand erreichte, geht man 2005 
von landesweit 370.000 Indigenen aus.
(ai/gek.)
Quelle und Online-Protest-Moeglichkeit: 
http://www.amnesty.co.at/aktionen/brasilien/
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