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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 15. Maerz 2005; 21:10
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Indien/Kapitalismus:
> Auf Kosten der Anderen
Das Wundermittel Mikrokredit
Die Idee toent gut: Wer ein kleines Unternehmen gruenden oder ausbauen will 
und von den Banken kein Geld erhaelt, beantragt einen sogenannten 
Mikrokredit. Spezielle Organisationen bieten Geld zu guenstigen Konditionen. 
Seit 1983 haben in der Dritten Welt schon Millionen von Menschen von solchen 
Krediten profitiert. Auch in Europa unterstuetzen Mikrofinanzorganisationen 
zunehmend kleine Projekte, von denen sich klassische Banken keinen Gewinn 
mehr versprechen.
Mikrokredite sind aber nicht unumstritten: sie sind ein Teil der 
profitorientierten Marktwirtschaft und koennen in Regionen, die bislang mit 
anderen Strukturen funktionierten, betraechtlichen Schaden anrichten. Alte 
solidarische Netze zerreissen unter dem Druck und den Verheissungen der 
Kreditlogik.
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Pimpalvadi im Distrikt Ahmednagar ist ein kleines Dorf. 86 Familien leben 
hier, die meisten bebauen um die zwei Hektar Land, die Arbeit der 
Kleinbauern ist muehsam in diesem trockenen Teil des indischen Bundesstaates 
Maharashtra. Auch der 38 Jahre alte Nayaran Chavan hatte zwei Hektar, bis 
ihm vor sieben Jahren der Gramin Vikas Trust, eine nichtstaatliche 
Organisation (NGO), einen Kleinkredit in Hoehe von 12 000 Rupien (ungefaehr 
180 Euro)1 anbot. Nayaran nahm das Geld, vertiefte seinen Brunnen von 62 auf 
80 fuss, kaufte einen Dieselmotor, eine Pumpe sowie Schlaeuche fuer die 
Bewaesserung und verdoppelte innerhalb von vier Jahren sein Einkommen, da er 
nun zwei Mal im Jahr ernten und auch Gemuese anbauen konnte. Den Kredit 
hatte er nach zwei Jahren schon zurueckgezahlt. Im fuenften Jahr hob er den 
Brunnen weiter aus und kaufte sich einen leistungsfaehigeren Motor. Die NGO 
war stolz aufseinen Erfolg, fuehrte immer wieder Besucherinnen zu ihm und 
organisierte vor zwei Jahren ein grosses Fest zu seinen Ehren. Doch niemand 
aus dem Dorf tauchte auf. Heraus kam dann die dunkle Seite der Geschichte: 
Nachdem Nayaran zum ersten Mal seinen Brunnen vertieft hatte, trockneten 
sechs Brunnen in der Nachbarschaft aus, als er weiter grub, fielen nochmals 
acht Brunnen trocken. Mittlerweile haben mehrere Nachbarn ihre Felder an ihn 
verkaufen muessen. Drei davon arbeiten weiter auf ihnen -als Nayarans 
Tageloehner.
In Indien gibt es viele solcher Beispiele. Sie alle haben die Uno nicht 
davon abhalten koennen, das Jahr 2005 zum «Jahr des Mikrokredits» 
auszurufen. Die Internationale Arbeitsorganisation ILO hat die Kleinkredite 
sogar als «nachhaltigen Weg aus der Armut» bezeichnet. Wer Zweifel aeussert, 
wird auf das Beispiel der Grameen Bank in Bangladesch verwiesen.
Diese «Bank der Armen» hat tausenden geholfen; vor allem Frauen profitierten 
von der finanziellen Unterstuetzung, die sie selber organisiert hatten. Eine 
ganze Reihe von Faktoren trugen zum Erfolg der Grameen Bank bei: Nicht 
Hilfswerke, NGO und Firmenvertreter hatten die Initiative ins Leben gerufen, 
sondern Menschen vor Ort, die sicherstellten, dass die Noete, die 
Hoffnungen, die Staerken und die Beteiligung der armen Landbevoelkerung im 
Vordergrund standen. Ihr kleines Experiment entstand aus den Beduerfnissen 
der Armen, wurde ihnen nicht von aussen uebergestuelpt und verlangte von den 
Teilnehmerinnen, dass sie erst einmal sparen, bevor ihnen Kredit gewaehrt 
wurde. Auf diese Weise hielten die Initiatorinnen, insbesondere der 
Grameen-Bankgruender Muhammad Yunus, die Reichen und die Mittelschicht 
fern - zu Beginn jedenfalls. Die Bank verlangte Rechenschaft und foerderte 
Transparenz, die Geschaefte wurden von den Nutzniesserinnen verwaltet (und 
nicht von abgehobenen Bankangestellten), die Kreditvergabe beruecksichtigte 
auch die jeweiligen soziokulturellen und politischen Umstaende, nicht nur 
die oekonomischen Verhaeltnisse.
Doch mit der Zeit verhedderte sich die Initiative in der kapitalistischen 
Finanzwirtschaft. Der Enthusiasmus und die Begeisterung der Dorfbevoelkerung 
liess in dem Masse nach, wie die Bank anderswo nach Geldgeberinnen suchte. 
Das Vorhaben der Bankdirektoren, den US-Konzern Monsanto als Sponsor zu 
gewinnen, scheiterte zwar am breiten Protest (Monsanto hatte Ende der 
neunziger Jahre einen Batzen Geld zugesagt, wenn Grameen fuer Chemieduenger, 
Pestizide und die neuesten biotechnologischen Erzeugnisse des Konzerns 
werbe). Aber es hinteriiess einen Nachgeschmack - ebenso wie die Plaene, in 
den Filialen Handys zu verkaufen und normale, kommerzielle Bankdienste 
anzubieten. Mittlerweile scheint auch der Bedarf an Kleinkrediten 
gesaettigt.
Sicher, die Grameen Bank hat viele Menschen, vor allem Frauen, 
wirtschaftlich unterstuetzt, aber ein Modell zur Loesung der Probleme von 
heute ist sie nicht. Die meisten Kleinkredite halfen den Kreditnehmerinnen 
auf dem Weg in eine bescheidene Selbstaendigkeit - doch gerade dieser Sektor 
duerfte im Zuge der Globalisierung der Maerkte und der Kapitalisierung der 
lokalen Oekonomien schwaecher werden. Und was geschieht dann mit denen, die 
ihre traditionelle Beschaeftigung in der Landwirtschaft aufgegeben haben, um 
etwas anderes auszuprobieren?
In vielen Teilen Indiens sparen die Menschen immer noch fuer Notzeiten. 
Viele Hausfrauen legen von der Tagesration eine Hand voll Reis beiseite, 
mancherorts lagern ganze Doerfer einen Teil ihrer Ernte in gemeinsamen 
Silos. Sparsamkeit ist keine neue Erfindung - auch wenn dies so manche NGO 
glauben machen will -, sondern hat eine lange Tradition; gleich nach der 
Unabhaengigkeit hatten viele soziale Organisationen die Bevoelkerung 
ermuntert, Notgroschen anzulegen. Das erklaert, weshalb spontan so viele 
Sparvereine entstanden, so genannte «selfhelp groups» (SHG), als indische 
NGO dem Beispiel der Grameen Bank folgten. Das People's Rural Education 
Movement (Prem) zum Beispiel konnte im Bundesstaat Orissa innerhalb weniger 
Jahre 2400 SHG aufbauen, denen 41000 Frauen angehoerten. Doch dann, 1996, 
begann Prem, immer mehr Mikrokredite zu vergeben. Dabei stuetzte sich die 
indische NGO auf eine US-arnerikanische Hilfsorganisation, die das Geschaeft 
in grossem Massstab vorantrieb - und mittlerweile kleine und kleinste 
Projekte nicht mehr foerdert.
In den letzten zehn Jahren haben die internationalen Hilfswerke Millionen 
US-Dollar in den NGO-Sektor gepumpt. Die NGO fanden schnell Geschmack am 
grossen Geld. Viele wurden dadurch nicht nur korrumpiert, sondern liessen 
einen Teil des Kapitals in die SHG und andere Gemeinschaftsorganisationen 
fliessen. Der Effekt war verheerend: Innerhalb kurzer Zeit waren die 
bisherigen Traditionen des Sparens und der gegenseitigen Hilfe verschwunden, 
an ihre Stelle trat das Interesse an Darlehen, Zinsen und Profit. Eine 
Untersuchung von 112 SHG in Suedrajasthan kam im Oktober 2004 zum Ergebnis, 
dass 54 Prozent der insgesamt 3050 Mitglieder den Sparvereinen wegen der von 
einer NGO versprochenen Zuschuesse beigetreten waren, 38 Prozent hatten sich 
angeschlossen, weil sie glaubten, durch die NGO-Gelder Arbeit zu finden, und 
nur 8 Prozent versprachen sich durch ihren Beitritt einen 
soziooekonomisch-politischen Wandel fuer das gesamte Dorf. Wie koennen 
Organisationen, deren Mitglieder vor allem auf Zuschuesse von aussen setzen, 
nachhaltig sein? Geld allein kann Menschen nicht einen und Gruppen nicht 
erhalten. In den naechsten Jahren werden viele SHG, NGO und soziale 
Organisationen feststellen, welchen Schaden das schnelle Geld mit dem Namen 
Mikrokredit angerichtet hat. Die internationalen Geberorganisationen, die 
Uno und die ILO loben dann aber wohl schon andere Projekte.
Die Verfechterinnen der Mikrokredite betrachten gesellschaftliche 
Entwicklungen allein aus der Warte der Oekonomie - als wuerden 
Gemeinschaften nicht auch durch soziale, politische und manchmal kulturelle 
Faktoren blockiert. Wer nur auf das Geld setzt, spaltet die Gemeinschaften 
und schafft soziale Konflikte. Ein paar smarte Leute, viele davon aus der 
Mittelschicht, nutzen das hereinfliessende Kapital fuer ihre individuellen 
Interessen - auf Kosten anderer. Vor einigen Jahren habe ich in Sri Lanka 
eine NGO besucht, die nach drei Jahren Arbeit mit Mikrokrediten der 
Geberorganisation in Kanada eine frohe Botschaft schickte: 95 Prozent des 
ausgeliehenen Kapitals seien zurueckgeflossen (allein daran bemass die NGO 
den Erfolg). Das kanadische Hilfswerk war entzueckt:
Wunderbar, wir werden das Beispiel nutzen, um mehr Geld aufzutreiben, sucht 
einen neuen Bezirk fuer ein aehnliches Projekt ... Das tat der Direktor 
auch, nur dass er fuer die Rueckzahlungen nicht mehr das Konto der NGO 
angab, sondern sein eigenes. Das Geld von aussen pervertiert Menschen und 
Organisationen.
Genau besehen, schafft das System der Mikrokredite in vielen Regionen ein 
Einfallstor fuer das kapitalistische System - nicht nur vom Denken her. In 
den sich entwickelnden Laendern, wo drei Viertel der Bevoelkerung von der 
Landwirtschaft leben, ermuntert die Verfuegbarkeit von Mikrokrediten viele, 
ein eigenes Geschaeft aufzubauen oder in den Handel einzusteigen. Und wenn 
sie im Agrarsektor bleiben, dienen die Kredite meist der Anschaffung von 
angeblich hochproduktivem Saatgut, Kunstduenger und Pestiziden, die von 
Agrarkonzemen angeboten werden. Wenn sich die Bauern einmal darauf 
eingelassen haben, koennen sie sich ein Wirtschaften ohne diese kuenstlichen 
Mittel nicht mehr vorstellen. In den beiden Bundesstaaten Kamataka und Andra 
Pradesch haben allein im letzten Jahr ueber 4000 Bauern Selbstmord begangen, 
weil sie Kredite nicht mehr bedienen konnten; viele schluckten Chemikalien, 
die sie mit den Darlehen erworben hatten.
Indien ist kein armes Land, die Banken haben mehr Geld als je zuvor. Was Not 
tut ist ein Umdenken und eine Politik, die die vorhandenen Mittel fuer eine 
soziale Transformation einsetzt - beispielsweise fuer eine Verbesserung der 
sozialen Infrastruktur etwa beim Gesundheitswesen, beim Bildungssystem, bei 
der Armenfuersorge. Das wuerde allen nuetzen und nicht nur dem individuellen 
Aufstieg einiger weniger dienen.
(Joseph Keve, WoZ 10/2005)
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