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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 8. Maerz 2005; 19:22
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Syrien/Libanon/Kommentar der Anderen:
> Die naechsten Kreuzzuege
Vor vielen Jahren las ich das Buch "Der stille Amerikaner" von Graham Green. 
Seine Hauptfigur ist ein hochgesinnter, naiver, junger amerikanischer 
Geheimdienstler in Vietnam. Er hat von der Komplexitaet dieses Landes keine 
Ahnung, will aber dessen Missstaende beseitigen und Ordnung schaffen. Die 
Folgen sind verheerend.
Ich habe das Gefuehl, dass genau dies jetzt im Libanon geschieht. Die 
Amerikaner sind nicht so hochgesinnt und nicht so naiv. Weit davon entfernt. 
Aber sie sind sehr bereit, in ein fremdes Land einzudringen, ohne seine 
Komplexitaet zu beruecksichtigen, und in ihm mit Gewalt Ordnung, Demokratie 
und Freiheit herzustellen.
Buergerkrieg: Libanon. Der Libanon ist ein Land mit einer besonderen 
Topographie: es ist ein kleines Land mit hohen Bergketten und isolierten 
Taelern. Deshalb zog es Jahrhunderte lang Gemeinschaften verfolgter 
Minderheiten an, die hier ein Refugium fanden. Heute leben dort neben- und 
gegeneinander vier ethno-religioese Gemeinschaften: Christen, Sunniten, 
Schiiten und Drusen. Innerhalb der christlichen Gemeinschaft gibt es noch 
verschiedene Denominationen, wie die Maroniten, Griechisch-Orthodoxen u.a., 
die einander oft feindlich gesinnt sind. Die Geschichte des Libanon ist voll 
von gegenseitigen Massakern.
Solch eine Situation laedt Nachbarn und auslaendische Maechte geradezu ein, 
sich einzumischen. Jeder wuenscht, zum eigenen Vorteil in diesem Topf 
herumzuruehren. Syrien, Israel, die USA und Frankreich, der fruehere 
Kolonialherr - alle sind daran beteiligt.
Genau vor 50 Jahren gab es zwischen den Fuehrern Israels eine geheime, 
hitzige Debatte. David Ben Gurion (damals Verteidigungsminister) und Moshe 
Dayan (Generalstabschef) hatten eine brillante Idee: den Libanon zu 
ueberfallen, einen "christlichen Major" als Diktator einzusetzen und den 
Libanon in ein israelisches Protektorat zu verwandeln. Moshe Sharett, der 
damalige Ministerpraesident, lehnte diese Idee leidenschaftlich ab. In einem 
langen, scharf argumentierenden Brief, der fuer die Geschichte bewahrt 
wurde, zieht er angesichts der unglaublich zerbrechlichen Komplexitaet der 
libanesischen sozialen Struktur die totale Unkenntnis der Befuerworter 
dieser Idee ins Laecherliche. Jedes Abenteuer wuerde in einer Katastrophe 
enden, warnte er.
Zu jener Zeit siegte Sharett. Aber 27 Jahre spaeter taten Menachim Begin und 
Ariel Sharon genau das, was Ben Gurion und Dayan vorgeschlagen hatten. Das 
Ergebnis war genau so, wie Sharett es vorausgesehen hatte.
Jeder, der jetzt den amerikanischen und israelischen Medien folgt - es gibt 
keinen Unterschied - gewinnt den Eindruck, dass die gegenwaertige Situation 
im Libanon einfach sei: es gibt zwei Lager, "die Unterstuetzer Syriens" auf 
der einen Seite und die "Opposition" auf der anderen. Da gibt es einen 
"Beiruter Fruehling". Die Opposition ist eine Zwillingsschwester der 
gestrigen ukrainischen Opposition, und loyal imitiert sie ihre Methoden: 
Demonstrationen gegenueber vom Regierungsgebaeude, ein Meer von 
geschwungenen Fahnen, farbige Schals und am wichtigsten: huebsche Maedchen 
in der ersten Reihe.
Aber zwischen der Ukraine und dem Libanon gibt es nicht die geringste 
Aehnlichkeit. Die Ukraine ist ein "einfach" strukturiertes Land: der Osten 
tendiert zu Russland, der Westen zu Europa. Mit amerikanischer Hilfe gewann 
der Westen.
Im Libanon sind alle verschiedenen Gemeinschaften in Aktion. Jede fuer ihre 
eigenen Interessen, jede verschwoert sich gegen die andere, trickst sie aus 
oder greift sie bei einer guenstigen Gelegenheit an. Einige der Fuehrer sind 
mit den Syrern verbunden, einige mit Israel, alle versuchen, die Amerikaner 
fuer ihre Zwecke auszunuetzen. Die huebschen Bilder der in den Medien 
auffallenden jungen Demonstranten haben keine Bedeutung, wenn man nicht 
weiss, welche Gruppierung hinter ihnen steht.
Es sind erst 30 Jahre her, dass all diese Gruppierungen einen schrecklichen 
Buergerkrieg begonnen hatten, und sie sich gegenseitig umbrachten. Die 
christlichen Maroniten wollten das Land mit Hilfe Israels uebernehmen, 
wurden aber von einer Koalition der Sunniten und Drusen besiegt. ( Die 
Schiiten spielten damals keine Rolle). Die von der PLO gefuehrten 
palaestinensischen Fluechtlinge, die eine fuenfte Gemeinschaft bildeten, 
schlossen sich dem Kampf an. Als die Christen in Gefahr waren, ueberrannt zu 
werden, riefen sie die Syrer zu Hilfe. Sechs Jahre spaeter fielen die 
Israelis mit dem Ziel ein, die Syrer und die Palaestinenser gemeinsam zu 
vertreiben und einen christlichen starken Mann (Basheer Jumal) einzusetzen.
Wir (die Israeli, Anm. akin) brauchten 18 Jahre, um aus dem Morast wieder 
herauszukommen. Unsere einzige Errungenschaft war, die Schiiten in eine 
dominante Macht zu verwandeln. Als wir in den Libanon einmarschierten, 
empfingen uns die Schiiten mit Reis und Suessigkeiten, da sie hofften, wir 
wuerden die sie beherrschenden Palaestinenser hinaustreiben. Ein paar Monate 
spaeter, als ihnen klar wurde, dass wir nicht die Absicht hatten, sie zu 
verlassen, begannen sie, auf uns zu schiessen. Sharon ist der Geburtshelfer 
der schiitischen Hisbollah.
Es ist schwer vorauszusehen, was geschehen wird, wenn die Syrer in das 
amerikanische Ultimatum einwilligen und den Libanon verlassen. Es gibt keine 
Anzeichen, dass die Amerikaner sich mit der Schaffung neuer Lebensstrukturen 
fuer die libanesischen Gemeinschaften befassen. Sie geben sich damit 
zufrieden, ueber "Freiheit" und "Demokratie" zu faseln, als ob ein 
Mehrheitsvotum ein fuer alle akzeptables Regime schaffen koennte. Sie 
verstehen nicht, dass der "Libanon" ein abstrakter Begriff ist, da fuer die 
meisten Libanesen die Zugehoerigkeit zu ihrer Gemeinschaft bei weitem 
wichtiger ist als Loyalitaet zum Staat. In solch einer Situation bedeutet 
auch eine internationale Militaertruppe keine Hilfe.
Das Wiederaufflammen eines blutigen Buergerkrieges ist leicht moeglich.
Buergerkrieg: Irak. Wenn im Libanon ein Buergerkrieg ausbricht, wird er 
nicht der einzige der Region sein. Im Irak ist solch ein Krieg - wenn auch 
fast im Geheimen - bereits in vollem Gange.
Die einzige effektive Militaertruppe im Irak - abgesehen von der 
Besatzungsarmee - sind die kurdischen "Peshmargas" (jene, die dem Tode 
entgegensehen). Die Amerikaner benutzen sie immer dann, wenn sie gegen die 
Sunniten kaempfen. Sie spielten in der Schlacht von Falludja eine bedeutende 
Rolle. Die grosse Stadt wurde total zerstoert, die Bewohner getoetet oder 
vertrieben.
Das kurdische Militaer fuehrt jetzt einen Krieg gegen die Sunniten und 
Turkmenen im Norden des Landes, um die oelreichen Gebiete und die Stadt 
Kirkuk zu besetzen, und um die Sunniten, die von Saddam Hussein dort 
angesiedelt worden waren, zu vertreiben.
Wie kann solch ein Krieg von den Medien praktisch ignoriert werden? Ganz 
einfach: alles wird unter den Teppich "des Krieges gegen den Terrorismus" 
gekehrt.
Aber dieser kleine Krieg ist nichts, verglichen mit dem, der im Irak 
geschehen kann, wenn die Zeit kommt, um die Zukunft des Landes zu 
entscheiden. Die Kurden fordern voellige Autonomie, praktisch 
"Unabhaengigkeit" mit einem anderen Namen. Die Sunniten denken nicht im 
Traume daran, die Herrschaft der von ihnen verachtenden schiitischen 
Mehrheit zu akzeptieren - auch dann nicht, wenn es im Namen der "Demokratie" 
geschieht. Der Ausbruch eines Buergerkrieges mag nur eine Frage der Zeit 
sein.
Buergerkrieg: Syrien. Wenn es den Amerikanern (mit unserer diskreten Hilfe) 
gelingt, die regierende syrische Diktatur zu stuerzen, gibt es ueberhaupt 
keine Sicherheit, dass sie durch "Freiheit" und "Demokratie" ersetzt wird.
Syrien ist fast so zersplittert wie der Libanon. Es gibt eine starke 
drusische Gemeinschaft im Sueden, eine rebellische kurdische Gemeinschaft im 
Norden, eine alawitische ( zu der die Assadfamilie gehoert) im Westen. Die 
sunnitische Mehrheit ist traditionell zwischen Damaskus im Sueden und Aleppo 
im Norden geteilt. Das Volk hat sich aus Furcht vor dem, was nach einem 
Regimekollaps geschehen koennte, mit der Assad-Diktatur abgefunden.
Es ist unwahrscheinlich, dass ein wirklicher Buergerkrieg hier ausbrechen 
wird. Aber eine laengere Phase von totalem Chaos ist ziemlich 
wahrscheinlich. Sharon wuerde darueber gluecklich sein, obgleich ich mir 
nicht sicher bin, ob dies fuer Israel gut sein wird.
Religioeser Eifer: Iran. Das Hauptziel der Amerikaner ist natuerlich, die 
Ayatollahs im Iran zu stuerzen. (Es ist schon etwas paradox, dass zur selben 
Zeit die Amerikaner im benachbarten Irak den Schiiten zur Macht verhelfen, 
wobei diese darauf bestehen, das islamische Recht einzufuehren).
Der Iran ist eine viel schwerer zu knackende Nuss. Im Gegensatz zum Irak, 
Syrien und dem Libanon ist hier eine homogene Gesellschaft.
Israel droht jetzt offen mit dem Bombardieren der iranischen 
Atomeinrichtungen. Alle paar Tage sieht man auf unsern Fernsehschirmen die 
digital vertuschten Gesichter der Piloten, die sich mit ihrer Bereitschaft 
ruehmen, dies jederzeit zu tun.
Der religioese Eifer der Ayatollahs hat in letzter Zeit nachgelassen, wie 
dies bei jeder siegreichen Revolution nach einiger Zeit geschieht. Aber ein 
militaerischer Angriff durch den "Grossen Satan" ( die US) oder den "kleinen 
Satan" (wir) kann den Eifer im schiitischen Halbmond, im Iran, Suedirak und 
im Suedlibanon neu anfachen.
Ja, auch hier. Sogar Israel wurde kuerzlich Zeuge eines winzigen 
Buergerkrieges.
Im galilaeischen Dorf Marrar, wo eine drusische und eine 
arabisch-christliche Gemeinschaft seit Generationen neben einander lebt, 
brach ploetzlich eine blutige Auseinandersetzung aus. Es war ein richtiges 
Pogrom: die Drusen fielen ueber die Christen her, griffen sie an, setzten 
einiges in Brand und zerstoerten. Wie durch ein Wunder wurde niemand 
getoetet. Die Christen sagten, dass die israelische Polizei - viele von 
ihnen sind Drusen - daneben stand. Der Grund fuer den Ausbruch: einige 
fabrizierte Nacktfotos im Internet.
Es ist leicht, einen Buergerkrieg entweder aus Fanatismus oder 
unertraeglicher Naivitaet zu entfachen.George Bush, der (nicht-so-) stille 
Amerikaner, rennt in der Welt herum, um mit seinem patentierten Medikament 
"Freiheit" und "Demokratie" hausieren zu gehen und das mit einer totalen 
Ignoranz ueber Hunderte von Jahren von Geschichte. Es ist kaum zu glauben, 
aber er zieht seine Inspiration aus einem Buch unseres Nathan Sharansky, 
einem - gelinde gesagt - sehr kleinen Geist.
Jedes menschliche Wesen und jedes Volk hat ein Recht auf Freiheit. Viele von 
uns haben fuer dieses Ziel ihr Blut vergossen. Demokratie ist ein Ideal, das 
jedes Volk fuer sich selbst realisieren muss. Aber wenn die Banner der 
"Freiheit" und "Demokratie" ueber dem Kreuzzug einer habgierigen und 
unverantwortlichen Supermacht flattern, koennen die Folgen katastrophal 
sein.
*Uri Avnery*
(5.3.05, Ue: Ellen Rohlfs, / erhalten ueber "Salaam/Shalom")
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