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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 1. Maerz 2005; 20:17
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Vietnam/USA/Prozesse:
> Das lange Leiden
Die Folgen des US-Einsatzes von Agent Orange und anderen Giften im 
Vietnamkrieg werden ueber Generationen hinweg zu spueren sein. Betroffene 
hoffen jetzt auf Entschaedigung.
Der dieser Tage erwartete Richterspruch des US-Bundesgerichts von Brooklyn 
koennte fuer den 35-jaehrigen Bauingenieur Ngoc aus Hanoi von Bedeutung 
sein. Er und seine Familie sorgen fuer seine juengere Schwester Lan, die 
geistig behindert und kleinwuechsig ist. Ngoc weiss nicht genau, ob die 
Behinderung eine Folge des Giftgases Agent Orange ist, mit dem der Vater an 
der Front besprueht wurde. Vor dem Februar 2004, als hundert vietnamesische 
Agent-Orange-Opfer eine Sammelklage gegen 37 Herstellerfirmen des Giftes in 
den USA einreichten, war das fuer ihn nicht von Belang. Deshalb wurde Lan, 
die ohnehin Angst hat vor Fremden, auch nie zu einem Arzt gebracht. 
Krankheit und Behinderung gelten in Vietnam nicht als Unglueck, sondern als 
Schicksal, das eine Familie annehmen muss. Kranke leben in der Familie, 
werden von ihr versorgt und machen sich nuetzlich, so gut sie es eben 
koennen. Eine staatliche Krankenfuersorge gibt es kaum.
Vielen vietnamesischen Familien geht es ahnlich. 73 Millionen Liter toxische 
Chemikalien, darunter Agent Orange, wurden neuesten Forschungen zufolge 
waehrend des Krieges ueber riesigen Teilen Zentralvietnams und ueber dem so 
genannten Ho-Chi-Minh-Pfad an den Grenzen zu Laos und Kambodscha abgeworfen. 
Die Entlaubung des Regenwaldes galt als militaerische Operation: Die USA 
wollten das Laubdach beseitigen, das der Nationalen Befreiungsfront 
(Vietcong) Tarnung und Schutz bot. Menschen, die mit den Chemikalien in 
Beruehrung kamen, erkrankten an Krebs. Ebenso werden noch heute jene 
geschaedigt, die Reis und Gemuese von verseuchten Boeden essen. Ausserdem 
kann der Kontakt mit den Giften zu Veraenderungen im Erbgut fuehren. Die 
Folge sind schwere Missbildungen bei den Nachkommen. Weil der Hanoier 
Regierung das Geld fuer grossflaechige Bodenversiegelungen fehlt, sind die 
Gifte noch immer im Nahrungskreislauf.
Keine Wiedergutmachung
Ngocs und Lans Vater war Bauoffizier der Befreiungsarmee in Mittelvietnam 
und wurde mit dem Gift besprueht. Er starb 1988. An Kehlkopfkrebs, so nimmt 
Ngoc an. Genau weiss er das nicht. Denn damals, noch vor dem Wirtschaftsboom 
in Vietnam, fehlte der Familie das Geld, um einen Arzt beizuziehen. Viele 
Familien haben ihre Kranken nicht untersuchen lassen, vermuten die Gifte nur 
als Ursache der Krankheit. Deshalb sind die offiziellen vietnamesischen 
Angaben ueber Betroffene vage:
Sie schwanken zwischen zwei und vier Millionen. Eine Entschaedigung vom 
vietnamesischen Staat erhielten nur diejenigen, die keine Familien haben. 
Der Kriegsgegner USA hat bisher ueberhaupt keine Wiedergutmachung geleistet. 
Allerdings gibt es viel private Hilfe aus Amerika: Ehemalige US-Soldaten 
engagieren sich in karitativen Organisationen, die Pflegeheime und 
medizinische Einrichtungen fuer Agent-Orange-Opfer unterhalten. Sie sind 
heute in Vietnam gern gesehen.
Anders als die Vietnamesinnen erhielten ehemalige GIs, die das Giftgas 
transportierten, Entschaedigungen fuer erlittene gesundheitliche Schaeden. 
1984 erstritten 230 000 Veteranen in einem aussergerichtlichen Vergleich mit 
den Herstellerfirmen der Gifte 180 Millionen Dollar Entschaedigung. 
Vietnamesischen Opfern stand erst zehn Jahre spaeter der Weg zu 
amerikanischen Zivilgerichten offen: 1994 fiel das US-Handelsembargo gegen 
den einstigen Kriegsgegner. Danach dauerte es noch einmal zehn Jahre, bis 
die Hanoier Regierung eine Klage ihrer Buergerinnen diplomatisch fuer 
geboten hielt. Zuvor hatte die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu den 
USA und die Verbesserung des Klimas zwischen den einstigen Kriegsgegnern 
Prioritaet. Weil humanitaere Gesten seitens der US-Regierung ausgeblieben 
sind, unterstuetzt Hanoi inzwischen die Sammelklage ihrer Buergerinnen.
Ans Haus gefesselt
Die 1,30 Meter kleine und fettleibige Lan hat das Haus seit ihrer Kindheit 
nicht mehr verlassen. Hier kennt die 27-Jaehrige jeden Winkel, hier fuehlt 
sie sich geborgen, und hier wird sie nicht ausgelacht wegen ihrer 
Behinderung. Hier hat sie die Mutter, die sie stets zu den Mahlzeiten ruft 
und ihr die besten Stuecke in ihre Essschuessel schiebt. «Das Essen ist das 
Einzige, was Lan vom Leben hat», rechtfertigt sich die Mutter dann. Lan hat 
noch eine zweite Freude: Wenn im Radio Kinder singen, strahlt sie ueber das 
ganze Gesicht und klatscht vor Freude in die Haende.
Lans Mutter hatte fuenf Kinder geboren. Die beiden aeltesten kamen bei einem 
Bombenabwurf um. Eine Tochter ist verheiratet und lebt bei den 
Schwiegereltern. Ngoc und Lan sind zuhause geblieben. Ngoc will nicht 
klagen, dass er fuer die Schwester sorgen muss. Das waere ohnehin ein 
Tabubruch. Die Sorge fuer Eltern und Verwandte ist fuer den altesten 
ueberlebenden Sohn der Familie, der das Haus der Eltern uebernimmt, eine 
Selbstverstaendlichkeit. Und immerhin:
Es gibt Chemieopfer in Vietnam mit schwereren Missbildungen, als Lan sie 
hat. Die Schwester kann sich nuetzlich machen. Die 27-Jaehrige hat gelernt, 
fuer Ngocs Mutter, seine Frau, seine beiden Kinder und fuer sich selbst die 
Waesche mit der Hand zu waschen. Damit ist die kleinwuechsige Frau 
ausgelastet. Und Ngocs Frau ist froh, dass sie nicht fuer die Waesche sorgen 
muss.
Der Hauptvorwurf der Klageschrift, auf der Ngocs Hoffnungen ruhen, lautet 
auf Beteiligung an Kriegsverbrechen. Juristisch ist es nicht moeglich, die 
US-Regierung selbst zu verklagen. Die eigentliche Schwierigkeit der Klage 
ist, den Nachweis zu erbringen, dass zwischen den genetischen Deformationen 
und den Giften ein Zusammenhang besteht.
Die Klage fiel in Vietnam in eine Phase wirtschaftlichen Aufschwungs. In 
Hanoi, einer der Boomregionen, geht es nach Jahrzehnten schwerer Armut 
vielen Familien spuerbar besser. Die Kriegsinvaliden sind erst seit der 
Sammelklage wieder zu einem oeffentlichen Thema geworden. Die Zeitungen sind 
heute voll von Berichten ueber Betroffene - das Interesse ist nicht 
staatlich verordnet.
Bedrohte Tradition
Wirtschaftsboom und Globalisierung fuehrten allerdings auch zu einem 
Auseinanderbrechen der traditionellen Grossfamilie, die die Kranken 
versorgt. Ngoc hat das am eigenen Leibe erfahren, als seine Firma ihn 
waehrend der Asienkrise nicht in Hanoi beschaeftigen konnte und ihn fuer 
drei Jahre zur Arbeit in die Zweigniederlassung nach Ho-Chi-Minh-Stadt 
schickte. Er musste, so wie es die Tradition verlangt, seine Frau und die 
Soehne zuruecklassen. Anders haette die Familie nicht fuer die behinderte 
Schwester und die Mutter sorgen koennen.
Ngoc moechte den Gedanken nicht zu Ende denken, wer einmal bei Lan bleibt, 
wenn seine 65-jaehrige Mutter nicht mehr lebt. Nach der Tradition ist die 
Antwort einfach: seine Frau und spaeter die Frau seines aeltesten Sohnes. 
Aber seine Frau hat einen teuren Englischkurs besucht und jetzt einen gut 
bezahlten Job als Sekretaerin in einer australischen Firma. Und ist fuer den 
Sohn die behinderte Tante nicht ein Makel, wenn er eine Frau sucht? Die 
Maedchen, die heute heranwachsen, orientieren sich an Europa und Amerika. 
Sie wollen moderne Berufe ergreifen, Geschaeftsfrauen werden und nicht 
Tanten pflegen. In der Zeitung hat Ngoc sogar von einer Frau gelesen, die 
sich weigerte, einen Mann zu heiraten, weil es in dessen Familie 
Agent-Orange-Opfer gibt. Die Krankheit soll ja erblich sein. Und weil 
vietnamesische Familien nur zwei Kinder bekommen duerfen, muessen die gesund 
sein, um einmal fuer die Eltern sorgen zu koennen. Das vor ueber dreissig 
Jahren abgeworfene Gift koennte also auch fuer Ngocs Soehne und Enkelkinder 
noch eine schwere Belastung bedeuten.
(Marina Mai, WoZ 8/2005)
*
Kasten:
> Eine Legende auf dem Richterstuhl
Zu einer Generalabrechnung mit den Taetern, die den Vietnamkrieg zu 
verantworten haben, wird es bei dem Prozess nicht kommen, der gestern, 
Montag, 28.2., im Bundesgericht des Distrikts Brooklyn begann. Denn der 
Hauptvorwurf - die Beteiligung an Kriegsverbrechen und Verheimlichung der 
Gefahren des Giftgases Agent Orange - wird juristisch und nicht politisch 
abgehandelt. Klaeger sind die drei vietnamesischen Opfer Nguyen Van Qyy, 
Nguyen Thi Phi Phi und Duong Thi Quynh, zusammen mit der Opfervereinigung 
«Vietnam Association for Victims of Agent Orange/Dioxin». Angeklagt sind 37 
US-Chemiefirmen, darunter Dow Chemical, Monsanto, Uniroyal, Diamond Shamrock 
und Hooker.
Wahrscheinlich wird die Sammelklage in einer aussergerichtlichen Einigung 
enden, mit einem Vergleich in der Hoehe eines dreistelligen 
Millionenbetrages. Oder aber der Fall wird einer hoeheren Instanz 
uebergeben. Ist das Angebot der US-Chemieriesen «vernuenftig», stehe einer 
Einigung nichts im Weg, sagt einer der sieben Opferanwaelte, Constantine 
Kokkoris, der WOZ. Der legendaere Brooklyner Bundesrichter Jack B. Weinstein 
jedenfalls, der das Hauptverfahren nach seiner Zulassung leiten wird, 
duerfte auf eine finanzielle Loesung hinarbeiten. Dafuer spricht seine 
bisherige Arbeit. Der 83-Jaehrige, der seit 1967 im Amt ist, verhandelte 
bereits vor einem Vierteljahrhundert eine Sammelklage von 
US-Vietnamveteranen gegen Agent-Orange-Hersteller und sorgte dafuer, dass 
230 000 amerikanischen Opfern 180 Millionen Dollar Schadenersatz 
zugesprochen wurde. Das Kapitel «Agent Orange» schien damit fuer Firmen wie 
Dow Chemical und Monsanto abgeschlossen, da die Uebereinkunft spaetere 
Klagen ausschloss. Doch die Einigung bezog sich nur auf US-Buerger. Dutzende 
amerikanischer Opfer, die erst nach dem Vergleich krank wurden und deshalb 
keinen Cent zu Gesicht bekamen, verfolgen deshalb jeden Schritt Weinsteins 
und unterstuetzen die vietnamesischen Sammelklaegerinnen.
«Judge Weinstein from Brooklyn» ist in der US-amerikanischen Richter- und 
AnwaeltInnenzunft ein stehender Begriff. Weinstein liebt es, juristische 
Richtlinien zu hinterfragen, urteilt gerne unabhaengig von 
Praezedenzfaellen, probiert Neues aus, vermittelt und zieht die 
aussergerichtliche Einigung dem Weiterreichen des Falles an eine hoehere 
Instanz vor. Er war der erste US-Richter, der in den achtziger Jahren 
tausende von Einzelklagen in einen «mega case» verwandelte. Die Summen, die 
Agent-Orange-Opfer damals aus dem Verfaehren erhielten, waren fuer weitere 
Sammelklagen richtungweisend.
Sein soziales Gewissen eignete sich der im multiethnisch gepraegten Brooklyn 
der dreissiger Jahre aufgewachsene Richter gemaess den eigenen Worten «auf 
der Strasse» an. Als junger Erwachsener arbeitete er, «von der 
Depressionszeit gepraegt», tagsueber am Hafen von Brooklyn und studierte 
abends am College. Im Zweiten Weltkrieg war Weinstein U-Boot-Leutnant, nach 
dem Jurastudium an der Columbia-Universitaet arbeitete er sich nach oben. 
1967 ernannte ihn der damalige demokratische US-Praesident Lyndon Johnson 
zum Bundesrichter. Jack Weinsteins Rechtsprechung war gepraegt von den 
Begriffen der «kollektiven Haftbarkeit» und der «Fahrlaessigkeit». In seinem 
Urteilsspruch gegen Agent-Orange-Hersteller von 1984 heisst es 
beispielsweise: «Naive Fahrlaessigkeit ist ebenso illegal wie boshafte 
Absicht. Beides ist verfassungswidrig.» Die Fehler einer einzigen Firma 
koennten heute «Unheil fuer hunderttausende oder Millionen von Menschen 
bedeuten».
(Max Boehnel, WoZ 8/2005)
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