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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 1. Maerz 2005; 20:28
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Italien/Solidaritaet:

> Genua 2001 in der Nachspielzeit

oder: Der "kollektive" Gedaechtnisschwund einer Bewegung


Das folgende Interview aus dem "Libera-Info" mit Laura Tartarini
(Rechtsanwaeltin aus Genua) und einem Mitarbeiter vom "Rechtlichen
Sekretariat", einer Gruppe aus Genua, die die Prozesse beobachtet, wurde am
Rande einer Veranstaltungsreihe zum Tag des politischen Gefangenen am
08.01.2005 im Berliner Mehringhof von der Gruppe Goeteburg/Genua Soli-Libera
gefuehrt. Es ging dabei um den Stand der Prozesse im Rahmen der Ereignisse
in Genua 2001, wo den Angeklagten Haftstrafen von 6-15 Jahren drohen.


Laura, kannst Du kurz etwas ueber den Stand des Verfahrens gegen die 26
Menschen sagen, die seit Maerz wegen der Proteste in Genua 2001 vor Gericht
stehen? Was ist im Laufe des Jahres 2004 passiert?


Laura: Die Prozesse haben am 2. Maerz 2004 angefangen. Es gab bisher 33
Sitzungen, bei denen wir bisher 90 ZeugInnen der Staatsanwaltschaft gehoert
haben. Die ersten ZeugInnen der Anklage schilderten die allgemeine
Atmosphaere und Situation in Genua waehrend des Gipfels. Zumeist
bestaetigten sie dabei nicht die These der Staatsanwaelte, nach der es zu
noch nie da gewesenen Verwuestungen und Pluenderungen gekommen sei.
Einwohner von Genua und auch einige Polizisten sagten aus, dass sich die
Sachschaeden und Pluenderungen in Grenzen gehalten haetten. Ich denke, dass
wir erst ab Maerz oder April dieses Jahres mit der Anhoerung unserer Zeugen
beginnen werden.


Libera-Info: Gibt es eine gemeinsame Verteidigungsstrategie?


Laura: Ja, es gibt eine gemeinsame Strategie, doch es ist ein sehr
schwieriger Prozess. Die Anklaeger haben das Konstrukt der "neuen" Straftat
"Verwuestung und Pluenderung" fabriziert. Alle 26 werden sind wegen diesem
Strafbestand angeklagt, obwohl ihnen sehr unterschiedlichen Sachen
vorgeworfen werden. Bis jetzt lief unsere Strategie ziemlich gut. Wir haben
es zum Beispiel geschafft zu aufzuzeigen, dass der Polizeifunk eindeutige
Befehle, wie z.B.: "Geht auf die Strasse und massakriert sie", ausgab. Das
ist fuer unsere Beweisfuehrung sehr wichtig, weil es klar macht, dass die
Polizei sehr gewalttaetig war. Wir werden mit unseren ca. 150 ZeugInnen
versuchen aufzuzeigen, dass es voellig anders in Genua aussah, als die
Anklage suggeriert. Die Polizei spielte eine aktive Rolle in den
Auseinandersetzungen und griff Menschen an. Die Gewalt ging in erste Linie
von der Polizei aus. Wir wollen zeigen, dass das, was den Leuten jetzt
vorgeworfen wird, eine normale Reaktion auf diese aussergewoehnliche
Situation war.


Libera-Info: Du erwartest noch die Eroeffnung von 50 weiteren Verfahren. Bis
jetzt hat sich in dieser Hinsicht nichts getan. Kannst du etwas ueber deine
heutige Einschaetzung sagen?


Laura: Niemand aeussert sich dazu. Wenn wir versuchen, mit der
Staatsanwaltschaft ueber die 50 noch offenen Verfahren zu reden, sagen sie,
dass sie derzeit nicht in der Lage sind, die Ermittlungen zu beenden, weil
sie so viel zu tun haben. Wir denken, dass dieser Prozess der
Staatsanwaltschaft peinlich ist, weil er aufzeigt, wie die Polizei und der
Staat damals agierten, um die Proteste in Genua zu kriminalisieren.
Wahrscheinlich wollen sie jetzt erst den weiteren Verlauf der Prozesse
abwarten. Vielleicht machen sie nach diesen Prozessen mit den anderen
weiter, doch das koennte noch ein paar Jahre dauern.


Libera-Info: Kannst du etwas ueber den Prozess in Cosenza erzaehlen? Seit
wann und gegen wen laeuft dieser Prozess?


Laura: Der Prozess in Cosenza hat vor ca. zwei Jahren angefangen. Zu Beginn
sah es so aus, als ob dieser Prozess nur die Auseinandersetzungen in Neapel
im Zusammenhang mit dem global forum einige Monate vor Genua behandelt.
Damals waren 13 Menschen verhaftet worden, GenossInnen von Cobas und Sud
Ribelle - einem Netzwerk in Sued Italien und jemand von den Disobbedienti .
Im Laufe des Jahres stellten wir aber fest, dass die Staatsanwaltschaft die
Ermittlungen ausweiten wollte. Die Auseinandersetzungen in Genua wurden in
die Anklageschrift aufgenommen und mittlerweile wird den Angeklagten
vorgeworfen, eine subversive Vereinigung gebildet zu haben mit dem Ziel, die
wirtschaftliche Basis Italiens zu zerstoeren. Abhoerprotokolle von
Telefongespraechen, e-mails, aber auch "normale" Sachen, so wie Flugblaetter
und Pamphlete, die die oekonomische Globalisierung oder die europaeische
Migrationspolitik kritisieren, wurden als Beweismaterial aufgenommen. Die
Angeklagten sollen nun die OrganisatorInnen der Krawalle von Genua und
Neapel gewesen sein. Ihnen droht 6 bis 15 Jahre Knast. Am Anfang haben wir
noch gelacht, weil sich die Anklage so absurd anhoerte und wir haben nicht
damit gerechnet, dass das durchgehen wuerde. Jetzt wird diese Anklage
tatsaechlich gegen sie erhoben.


Luka (Name geaendert): Es ist nicht notwendig zu erzaehlen das die Anklage
total absurd ist. Es ist total verrueckt zu denken, dass 13 Menschen in der
Lage sind, 300.000 Leute auf die Strassen zu bringen.


Libera-Info: Die "Anti"-Globalisierungsbewegung , die bis dahin noch wenig
von Repression betroffen worden war, bekam in Genua und Goeteborg einen
Vorgeschmack auf das, was passiert, wenn Menschen mit radikalen Mitteln die
herrschenden Verhaeltnisse in Frage stellen. Was laeuft deshalb gerade
politisch zu den Prozessen in Italien? Wie gehen die Organisationen damit
um, die damals zu den Protesten gegen den G8-Gipfel aufgerufen haben?


Luka: Die machen gar nichts. Im Allgemeinen gibt es keine grosse politische
Organisationen, die sich um die juristischen Konsequenzen von Genua
kuemmern. Sie verhalten sich nicht solidarisch mit den Angeklagten und
zeigen auch kein Interesse an den Prozessen gegen die Bullen. Die einzigen
Gruppen, die sich praktisch verhalten, sind kleine Kollektive, die z.B.
Informationen auf lokaler Ebene verteilen. Es gibt das Komitee fuer Wahrheit
und Gerechtigkeit , das Presse-Arbeit macht, sich aber vor allem fuer die
Prozesse gegen die Bullen und deren Uebergriffe interessiert. Das, was
gerade gut laeuft, ist die Verbreitung von Informationen. Die
Medienkollektive in ganz Italien verfolgen die Prozesse und informieren
ueber sie in ihren Medien. Bei Indymedia z.B. gibt es Menschen, die die
Prozesstage verfolgen und Berichte darueber in mehreren Sprachen
veroeffentlichen. Die Medien der linken Bewegung funktionieren also. Was
aber fehlt ist, dass diese Informationen dazu benutzt werden, um zu
mobilisieren oder eine Kampagne zu beginnen. Eine andere Solidaritaetsarbeit
als das Weiterleiten von Informationen an die eigenen Medien gibt es kaum.
Das ist ein grosses Problem.


Libera-Info: Im Juli 2001 waren 300.000 Menschen in Genua auf der Strasse
und auch in Goeteborg war viel los. Du hast erzaehlt, dass viele in Italien
aehnlich wie in Deutschland die Ereignisse von damals vergessen zu haben
scheinen und dies ein Grund fuer die geringe Solidaritaet mit den
Angeklagten ist. Wie kannst du Dir diesen "kollektiven" Gedaechtnisschwund
erklaeren?


Luka: Ich denke, dass viele von den Ereignissen traumatisiert sind. Das ist
ein Problem fuer uns, einerseits weil fuer uns in Genua jegliche
Demonstrationsfreiheit aufgehoben wurde und zum anderen, weil es so viele
gab, die in diesen Tagen dem etwas entgegensetzten. Und diejenigen sind
jetzt angeklagt, weil sie fuer alle 300.000 viele Jahre Knast riskierten.
Deshalb muessen wir sie heute unterstuetzen und duerfen sie nicht einfach
vergessen. Alle Leute, die in Genua waren, sind verantwortlich fuer das, was
passiert ist.


Libera-Info: Gibt es Initiativen in Italien, die versuchen diesem
"kollektiven" Gedaechtnisschwund etwas entgegenzusetzen?


Luka: Nicht auf der psychologische Ebene. Die italienische Bewegung zeigte
noch nie Staerke im Umgang mit kollektiven Traumata, das passt nicht in
ihren politischen Umgang. Aber es gibt einige, die versuchen
Oeffentlichkeitsarbeit zu leisten, und das kann dazu beitragen, dass die
Leute sich wieder anfangen zu erinnern.


Libera-Info: Einige politische Gruppen in Italien verstehen die Repression
von Genua als einen Versuch der Berlusconi-Regierung, die italienische
Opposition einzuschuechtern. Wie seht Ihr das ?


Laura: Ich denke das nicht, weil die Anklaeger alles "linke" Anklaeger sind,
die in Verbindung stehen mit der Sozialdemokratischen Partei Italiens. In
Italien haben wir eine rechte Regierung und die will, dass die Gerichte
weniger Macht haben, auch in Bezug auf die Prozesse gegen Berlusconi und die
Mafia. Die institutionelle Linke in Italien aber will das RichterInnen mehr
Macht haben, weil das Recht respektiert werden soll. So verteidigt sie auch
die angeklagten PolizistInnen von Genua und hat grosse Probleme mit diesen
Prozessen von Seiten der Bewegung.


Luka: Ich denke, die Regierung hat gar keine Angst vor diesen Menschen, weil
sie meint, alles unter Kontrolle zu haben. Sie haben aber Angst vor Gesetzen
und RichterInnen, weil sie die nicht unter Kontrolle haben scheinen und
deshalb selber wegen ihrer Geschichte rechtlich verfolgt werden koennten.
Die Linke in Italien hat sich mehr und mehr in Richtung der
gesellschaftlichen Mitte bewegt und nunmehr eine legalistische Haltung
eingenommen. Sie machen zwar viel Lobbyarbeit und das hat dazu gefuehrt das
es in Italien viele "linke" RichterInnen gibt, die auch in Genua aktiv sind.
Doch die institutionelle Linke grenzt sich von sogenannten "gewalttaetigen"
Demonstranten ab und es ist ihr Ziel, zu zeigen , dass ihre RichterInnen
korrekt sind . Also es gibt einen politischen Willen ihrerseits, es der
Rechten zu zeigen ,dass sowohl die Regierung als auch sogenannte
"gewalttaetige" Demonstranten bestraft werden. Damit haette das Recht
gesiegt und alle leben gluecklich bis ans Ende der Welt.


Luka, kannst Du noch etwas ueber die Arbeit der Uenterstuetzunggruppen in
Genua sagen!


Luka: Es gibt zwei Gruppen: die eine ist das rechtliche Buero, eine Gruppe
von 10 Leuten das die Vorbereitungsarbeit fuer die Prozesse macht, d.h. :
das Sortieren von Beweismaterail -Videos, Dokumente, Fotos und so weiter.
Wir unterstuetzen die Anwaelte in ihrer Vorbereitung, weil es so viel
Material gibt ,das gesichtet werden muss. Die rechtliche
Unterstuetzungsgruppe hat ein groesseres Arbeitsfeld. Sie kuemmert sich um
die Finanzen und das Verbreiten von Informationen, also das Publizieren von
Prozessberichten und die Uebersetzung dieser in verschiedene Sprachen.


Libera-Info: Was fuer Unterstuetzung braucht ihr?


Luka: Auf der einen Seite wollen wir, dass die Information so breit
verbreitet werden wie es geht. Damit mehr Menschen wissen was passiert und
die Notwendigkeit sehen, sich wieder zu erinnern,und daraus auch politische
Konequenzen ziehen. Auf der andere Seite brauchen wir Geld um die technische
Kosten zu tragen.
(Libera -Info Nr. 2 / gek.)

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