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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 23.Februar 2005; 8:00
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Schweiz/Rassismus:
> Vom Einzaeunen und Anzuenden
Ende Januar haben Jugendliche in Kappel im Schweizer Kanton Solothurn ein
Asylbewerberheim angezuendet. Der Tat gingen Hinweise voraus, denen niemand
Bedeutung beimass.
Ein Bericht aus der WoZ von Sacha Batthyany
Kappel hatte 2652 Einwohnerinnen, eine Hauptstrasse, eine Schule, eine Metzgerei
und ein Asylbewerberheim. Doch das wurde Ende Januar von drei Jugendlichen
angezuendet. Die Taeter, zwei Jungs und ein Maedchen, wurden wenige Tage spaeter
von der Polizei gefasst. «Hass auf Auslaender», hiess es, habe sie zu diesem
Anschlag bewogen. Die drei Jugendlichen waren bislang unauffaellig. Mofas
frisieren, kiffen, auf dem Schulhof rumhaengen, mal ein Fenster einschlagen.
Teenager halt. Keine Neonazis, keine Schlaeger.
Und dann der 29. Januar: Um drei Uhr in der Frueh, es war eisig kalt, haben sie
sich aufgemacht, um ein Haus anzuzuenden, in dem sich sechs Asylbewerberinnen
befanden. Wahrscheinlich sprachen sie nicht viel, als sie vor dem Haus standen,
um nicht entdeckt zu werden. Sie trugen schwarze Wollmuetzen, vielleicht gegen
die Kaelte, vielleicht zur Tarnung. Der Juengste der dreien war dreizehn Jahre
alt.
WOZ: Wassili Kassis, Sie sind Privatdozent fuer Erziehungswissenschaften an der
Universitaet Basel. Ist Kappel ein Sonderfall?
Wassili Kassis: Nein. Es ist zu beobachten, dass rassistisch motivierte
Gewalttaten seit einigen Jahren zunehmen. Ausserdem werden die Taeter im Schnitt
immer juenger, und immer haeufiger sind es Frauen.
WOZ: Sie befassen sich seit Jahren mit Gewalt unter Jugendlichen. Was verursacht
diese Gewaltbereitschaft?
Wassili Kassis: Das Mass an Integration in die Familie und die Schule ist
entscheidend. Wer keine Akzeptanz erfaehrt, wer abgelehnt wird, der neigt dazu,
jemanden zu suchen, den er dominieren kann, ueber den er herrschen kann.
WOZ: Ist jeder gewaltbereite Jugendliche auch auslaenderfeindlich?
Wassili Kassis: Nein. Die Gewalt richtet sich nicht zwangslaeufig gegen
Auslaender und Auslaenderinnen, nicht jeder gewaltbereite Jugendliche zuendet
Asylbewerberheime an. Nur wenn zusaetzlich eine auslaenderfeindliche
Grundstimmung herrscht, richtet sich die Gewalt auch gegen Auslaender. Und diese
auslaenderfeindliche und auch antisemitische Grundstimmung ist ein Produkt der
Gesellschaft. Mal ist sie mehr, mal weniger stark. Momentan ist sie stark.
Koennen Dreizehnjaehrige aus rassistischen Motiven hassen?
WOZ: Wassili Kassis: Natuerlich. Der Nationalsozialismus hat das sehr deutlich
gezeigt. Niemand ist zu jung, um zu hassen. Das lehrt uns die europaeische
Geschichte.
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Nicht nur die europaeische, auch die juengere Schweizer Geschichte: Im letzten
Bericht des Bundesamtes fuer Polizei ueber die innere Sicherheit der Schweiz
heisst es, die Vorfaelle mit rechtsextremem Hintergrund haetten seit 2000
zugenommen, das Alter der gewalttaetigen Jugendlichen sei gesunken. 2003
registrierte man laut Guido Balmer vom Bundesamt fuer Polizei hundert Vorfaelle;
darunter waren elf Anschlaege auf Einrichtungen des Asylwesens.
Diese Tendenz bestaetigt auch Hans Stutz, langjaehriger Beobachter der
rechtsextremen Szene, wobei er relativiert, dass Dreizehn- oder Vierzehnjaehrige
auch in Zukunft immer Ausnahmen sein werden.
Das Asylbewerberheim in Kappel wurde vor fuenfzehn Jahren am Rande des Dorfes
gebaut. Es liegt am Ende einer schmalen Strasse. Einer Sackgasse. «Der
klassische Fehler», sagt Wassili Kassis, der Erziehungswissenschaftler. «Dass
dies Vorurteile schuert und jegliche Integration verhindert, hat man sich
offenbar nicht ueberlegt. Frueher wurden auch die Schulen ausserhalb der Doerfer
gebaut. Wegen des Laerms.»
Am Tatort riecht es verbrannt, auch Tage nach dem Feuer. Die Dachbalken sind
eingestuerzt, die Fenster zersprungen. Ein Kassettenrekorder liegt auf einem
Bett, die sechs Asylbewerberinnen hatten das Haus fluchtartig verlassen muessen.
Sie wurden mittlerweile woanders untergebracht.
Vierzehneinhalb Jahre ging alles gut in Kappel, zumindest blieb es ruhig. «Leben
und leben lassen», wie es Gemeindepraesident Martin Wyss nennt. In den letzten
zwei bis drei Monaten hat sich die Stimmung jedoch jaeh verschaerft. Die Polizei
fand bei Razzien im Asylbewerberheim Drogen. Die Mutter eines drogenabhaengigen
Jungen behauptete, ihr Sohn beschaffe sich seine Drogen bei den Asylbewerbern,
und gab ihnen die Schuld an seiner Sucht. «Man hat begonnen, die Asylbewerber
Dealer zu nennen», sagt einer, der nicht namentlich erwaehnt werden will. «Und
es hat geheissen: » Anlaesslich einer
Gemeinderatsversammlung vom 12. Januar, zwei Wochen vor dem Brandanschlag, kam
es erstmals oeffentlich zu verbalen Aggressionen. Und dann sei dort der Satz
gefallen: «Diese Huette sollte man anzuenden.»
An jenem Abend beschloss die Gemeinde, einen Zaun rund um das Asylbewerberheim
zu bauen. Man wolle fuer Ordnung sorgen, der Zaun solle das Dealen
verunmoeglichen. Mit ein paar Bueschen drum herum werde der Zaun auch das Haus
optisch aufwerten. Das «Oltner Tagblatt» seh rieb zwei Tage spaeter: «Im Minimum
e Gummi drum», und verglich den Zaun mit der HIV/Aids-Praevention. Auf Anzeigen
der Schweizerischen Volkspartei (SVP) des Kantons Solothurn stand zu lesen:
«Auslaender kommen in unser Land, um auf Kosten der Steuerzahler zu
schlaraffen.» Und weiter unten: «Unsere Kinder werden nicht mehr gefoerdert
(...) und muessen sich von Schuelern aus anderen Laendern die Arbeitsplaetze
wegschnappen lassen.»
«Hier ist es oede», so die Jugendlichen von Kappel. Vor einem Jahr hat die
Gemeinde eine Beduerfnisabklaerung bei den Jugendlichen vorgenommen. Die
Resultate: Es fehle an offiziellen Treffpunkten, an Raeumen und Plaetzen fuer
Jugendliche und an kulturellen Angeboten. Kappel, so wird einer der Befragten
zitiert, sei stinklangweilig.
Daraufhin wurde eine Arbeitsgruppe gegruendet, die sich der Probleme der Jugend
annehmen wollte. Sie reichte bei der Gemeinde ein Gesuch fuer einen Kredit von
60 000 Franken ein, um die Stelle einer Sozialpaedagogin zu finanzieren. «Die
Beduerfnisabklaerung hat gezeigt, dass es wichtig ist, fuer die Jugendlichen in
Kappel etwas zu tun. Es braucht nicht nur einen Ort, es braucht auch Betreuung.
Denn auch die Jugendarbeitslosigkeit ist ein Thema. Nicht jeder findet auf
Anhieb eine Lehrstelle, es herrscht zum Teil massiver Frust», sagt Juerg
Staeubli, Kleinklassenlehrer und Mitglied der Arbeitsgruppe.
Staeubli sagt: «In Kappel traf sich die Jugend am Wochenende mangels
Alternativen auf dem Pausenhof vor der Schule.» Sie tranken, hoerten Musik, mal
wurde eine Lampe demoliert, mal das Schloss der Schule zugeklebt. «Nichts
Gravierendes, doch statt zu reklamieren wollten wir aktiv sein. Deshalb die
Arbeitsgruppe. Wir wollten die Situation der Jugendlichen verbessern und ihnen
neue Moeglichkeiten bieten.» Hat man sich in Kappel zu spaet um die Probleme der
Jugendlichen gekuemmert?
«Kappel ist kein Dorf voll Rechtsextremer», sagt der Gemeindepraesident Martin
Wyss. Und nach einer Weile fuegt er an: «Kappel ist ein ganz gewoehnliches
Schweizer Dorf.» Kappel hat 2646 Einwohnerinnen, eine Hauptstrasse, eine Schule
und eine Metzgerei. (WoZ, 17.2.2005 / gek.)
Volltext: http://www.woz.ch/artikel/2005/nr07/schweiz/11411.html
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