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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 11. Jaenner 2005; 18:33
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Nachruf:

> Moritz Marcel Neumann 1908-2005

Der Moritz ist tot. Irgendwie weiss man ja, der Mensch hat ein Ablaufdatum.
Und Moritz hat nicht mehr viel zum Hunderter gefehlt, es war das absehbar.
Dennoch: Ein guter Freund ist gestorben. Das ist nie schoen. Aber bei Moritz
weiss ich halt, er hat was Gutes draus gemacht. Er ist einer von jenen
Menschen gewesen, wo man sich denkt: Ja, genau so waere es in Ordnung,
gelebt zu haben.

Als ich ihn kennengelernt habe, war er schon 80, viermal so alt wie ich
damals. Aber ich habe nie das Gefuehl gehabt, dass er einer anderen
Generation angehoert als ich -- in einem Alter, wo andere schon dreissig
Jahre Auf-"die heutige Jugend"-Schimpfen hinter sich haben, war er oft auf
Demos anzutreffen mitten in dieser Jugend.

Moritz war immer ein Linker und ist sich wohl Zeit seines Lebens treu
geblieben. Wenn er zuerst bei den Sozialdemokraten, dann bei den Kommunisten
und schliesslich der AL und den Gruenen nahestehend war, sagt das nichts
ueber seine Unbestaendigkeit aus -- aber viel ueber die Parteien. Mit
ungefaehr 90 erklaerte er sich folgerichtig, wenn auch augenzwinkernd, zum
Anarchisten.

Leicht hat er es nicht gehabt: Als Linker seiner Generation aus Wiener
juedischer Kleinbuerger-Familie konnte man es nicht leicht haben. Nach
Wirtschaftskrise und Austrofaschismus kam das Nazi-Reich. Mit 30 kam Moritz
nach Dachau und ueberlebte wohl nur dank der Bestechlichkeit der Gestapo.
Seine Frau Vally konnte ihn nach drei Monaten aus dem KZ freikaufen. Was
folgte war eine lange Odysee, die ihn zeitweilig von seiner Frau und seinem
Sohn Kurt trennte. Kreuz und quer durch Frankreich, dann nach Marokko,
spaeter wieder zurueck nach Frankreich -- mittlerweile unter Nazi-Besatzung.
Geschichten, die er uns erzaehlte, wie er immer wieder der Vernichtung
entging, gibt es viele. Selbst ohne jede geschichtliche Vorbildung konnte
man allein an diesen Geschichten erkennen, wie viel Glueck einer gehabt
haben musste, um als Jude unter den Nazis zu ueberleben. Einmal fiel er
unbemerkt bei einem KZ-Transport vom Lastwagen in den Strassengraben; einmal
konnte er mit einem Zahnarzt-Ausgangsschein ein franzoesisches Lager
verlassen, das noch am selben Tag nach Deutschland evakouiert wurde; einmal
schaffte er es einen franzoesischen Kollaborateur zu ueberzeugen, dass er
nur deswegen beschnitten sei, weil sein juedischer Vater darauf bestanden
habe. Seine Mutter sei aber Christin gewesen und auf die kaeme es doch
schliesslich an. Die beste Geschichte aber, vor allem so blumig wie er sie
uns erzaehlte, war, als er Asyl in einem franzoesischen Kloster bekam, weil
er denen dort erfolgreich einreden konnte, er wuerde von den Nazis verfolgt,
weil er der Vaterlaendischen Front angehoerte. So grauslig diese Erlebnisse
alle waren, so haben wir uns doch koeniglich ueber seine Schilderung
amuesiert, wie er bei der Messe immer nach links und rechts schielen musste,
um nur ja im richtigen Moment aufzustehen oder niederzuknien -- schwer zu
sein ein Jud, der einen tiefglaeubigen Katholiken mimen muss.

Nach dem Krieg fand er Arbeit als Buchhalter bei der alliierten Verwaltung
in Wien, doch nach Ende der Besatzungszeit liess man ihn schon wieder seine
juedische Abstammung fuehlen und es war nicht leicht, einen Job zu finden.
Schliesslich landete er bei der Firma Schoeps -- dort akzeptierte man zwar
den Juden, aber nicht den engagierten Menschen Moritz Neumann. Den Posten
bekam er nur unter dem Vorbehalt, keinerlei politische Taetigkeit zu
entfalten. Die Arbeitsbedingungen dort waren aber eher schlecht und Moritz
konnte natuerlich den Mund nicht halten -- er wurde Betriebsratsobmann. Nach
zehn Jahren beim Schoeps ging er in Pension.

Moritz blieb der Politik aber erhalten und landete irgendwann im Archiv der
GE, wo er, der selbst ein lebendes Archiv der Zeitgeschichte war, fuer
Ordnung sorgte.

1990 ist er wohl in eine Krise gestuerzt, als seine Vally starb -- irgendwie
hatte ich den Eindruck, dass er sich selbst aufs Sterben vorbereitete. Es
schien, als wollte er alles noch ordnen vor seinem Tod. Doch Moritz war
zaeher als er selber dachte. Irgendwie lebte er doch weiter und erholte
sich -- und war wieder der Moritz, dem man ansah, dass das Leben doch noch
was fuer ihn zu bieten hatte.

Im letzten halben Jahr seines Lebens war er schon sehr schwach, dennoch
hatte es nach Auskunft einiger, die mit ihm in dieser Zeit noch Kontakt
hatten, nicht den Eindruck gemacht, als haette er viel leiden muessen. Und
dann ging alles ziemlich schnell. Letzte Woche ging ein sehr langes und --
eingedenk der Grauslichkeiten des zwanzigsten Jahrhunderts -- doch wohl auch
gelungenes Leben zu Ende. Und wenn wir auch alle traurig sind, so ist das
eigentlich kein Grund zum Weinen.
*Bernhard Redl*

*

Die Verabschiedung findet am Dienstag, den 18.Jaenner 2005, um 15 Uhr in der
Feuerhalle des Zentralfriedhofs statt.



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